… zwei Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Klimaschutz ist jetzt“ (19/ 29294) und „Klimaneutrale Wissenschaft und Forschung“ (19/28364) sowie einen Gesetzentwurf der Grünen „zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes“ (EEG-Sofortmaßnahmegesetz 2021, 19/29288) beraten. …
… Den ersten Antrag überwies das Parlament zur weiteren Beratung an den federführenden Umweltausschuss. Die Grünen wollten ihn direkt abstimmen lassen, wurden darin aber nur von der Linksfraktion unterstützt. Die Linke stimmte auch mit den Grünen für den zweiten Antrag, der mit der Mehrheit der übrigen Fraktionen abgelehnt wurde. Den Gesetzentwurf überwies der Bundestag zur weiteren Beratung in den federführenden Wirtschaftsausschuss.
Grüne: Wir müssen hier und heute handeln
„Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine klare Botschaft auf den Weg gegeben: Wer das Klima schützt, schützt auch unsere Freiheit“, sagte Annalena Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es gehe jetzt darum, als Gesellschaft gemeinsam auf den im Pariser Klimaabkommen vereinbarten 1,5-Grad-Pfad zu kommen.
Die Koalition formuliere zwar neue Ziele, nenne aber den Weg zur Erreichung dieser Ziele nicht, kritisierte die Kanzlerkandidatin. Sie forderte „eine Politik, die Klimaschutz zum Kern jedes politischen Handels macht“, und betonte: „Wir müssen hier und heute handeln.“
CDU/CSU: Erhöhung des Minderungsziels auf 65 Prozent
Das Bundesverfassungsgericht habe der Politik einen klaren Auftrag gegeben, und diesen Auftrag nehme die Koalition ernst, sagte Stephan Stracke für die CDU/CSU. Deshalb werde das Klimaschutzgesetz „in Rekordtempo“ überarbeitet. Konkret werde das CO2-Minderungsziel bis 2030 auf 65 Prozent erhöht und Klimaneutralität bis 2045 angestrebt, erklärte Stracke.
Damit trage Deutschland als starker Staat mehr zum Erreichen des von der EU ausgerufenen Minderungsziels von 55 Prozent bei als andere Länder. Wichtig sei aber, bei den Maßnahmen „,mit dem richtigen Kompass“ vorzugehen und auf Kosteneffizienz zu achten.
AfD attackiert Bundesverfassungsgericht
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Rede Karsten Hilse (AfD)
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Scharfe Kritik am Beschluss des Bundesverfassungsgerichts übte Karsten Hilse für die AfD. Das oberste Gericht sei in der Hand derjenigen, die zuließen, dass Deutschland zu einem totalitären Staat umgebaut werden, erklärte Hilse. Der Gerichtsbeschluss sei ein Freibrief für alle Klimaschutzmaßnahmen, die grundgesetzlich gesicherte Freiheitsrechte aushebelten.
In einer nachträglichen Erklärung nach Paragraf 30 der Geschäftsordnung stellte Hilse klar, er achte das Bundesverfassungsgericht als Institution, stelle aber infrage, dass es ein gutes Urteil gefällt habe.
SPD kritisiert grün regiertes Baden-Württemberg
Die AfD habe das oberste Gericht des Landes diskreditiert, sagte Dr. Matthias Miersch für die SPD. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet werden müsse, so sei das die Rede Hilses gewesen.
An die Adresse der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erklärte Miersch, er hätte sich etwas mehr Lob für die Bundesregierung gewünscht, die das Klimaschutzgesetz verabschiedet habe. Ein „Armutszeugnis“ sei es hingegen, was das grün regierte Baden-Württemberg beim Ausbau der erneuerbaren Energien leiste. Im Übrigen könne man nicht einfach so über Nacht den Konsens über die CO2-Bepreisung und den Kohlekompromiss aufkündigen.
FDP schlägt CO2-Limit vor
Für die FDP hob Dr. Lukas Köhler hervor, dass das Bundesverfassungsgericht die Verantwortung für kommende Generationen und damit einen „urliberalen“ Ansatz betont habe. Es habe aber auch die Technologieneutralität unterstrichen und die Politik dazu aufgerufen, eine Agenda aufzusetzen, die die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibe.
Am Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisierte Köhler, er erhalte einen „Wust“ von Maßnahmen, ohne klar aufzuzeigen, was diese Maßnahmen brächten. Dem stelle die FDP ihr Modell eines CO2-Limits entgegen, das auf das 1,5-Grad-Ziel angepasst werde.
Linke fordert soziale Gerechtigkeit
Freiheit bedeute, die Lebensgrundlagen künftiger Generationen zu erhalten, betonte Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke. Das beinhalte eine Absage an das neoliberale Prinzip und gehe nur mit sozialer Gerechtigkeit. Die Linke wolle die Gesellschaft sozial und ökologisch umgestalten und den Kapitalismus überwinden, statt ihn grün anzustreichen.
Die Energiewende dürfe nicht dazu führen, dass Millionen Haushalte wegen der Stromrechnung in Zahlungsschwierigkeiten gerieten. Beutin kritisierte, die Koalition wolle große Unternehmen beim CO2-Preises entlasten, während auf der anderen Seite Wohnungsmieter den CO2-Preis bezahlen müssten.
Ministerin: Klimaschutz für alle finanzierbar
„Klimaschutz muss für alle machbar und finanzierbar sein“, sagte auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). Deshalb müsse der CO2-Preis fair zwischen Mietern und Vermietern aufgeteilt werden.
Schulze betonte, das Bundesverfassungsgericht habe den Mechanismus des von ihr gegen Widerstände durchgesetzten Klimaschutzgesetzes eindeutig bestätigt. Jetzt gebe es „einen Wettbewerb der Ideen“ – und das sei gut so.
Gesetzentwurf der Grünen
Um den 1,5 Grad-Pfad des Pariser Klimaabkommens noch erreichen und den schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise noch Einhalt gebieten zu können, müssten die deutschen Anstrengungen im Klimaschutz schnellstmöglich intensiviert werden, schreiben die Grünen in ihrem Gesetzentwurf (19/29288). Der Ausbau der erneuerbaren Energien sei dabei eine zentrale Maßnahme, um die Klimaziele zu erreichen. Doch die aktuellen Ausbaumengen reichten dafür nicht aus, so die Abgeordneten, die deshalb einen schnelleren und größeren Ausbau fordern.
Um diese Beschleunigung des Ausbaus kurzfristig zu erreichen, sollen nach Ansicht der Grünen die Ausbaumengen für die nächsten zwei Jahre erhöht werden. Dies biete zum einen Planungssicherheit für den weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien und mache deutlich, in welchem Umfang der Ausbau in den nächsten Jahren mindestens stattfinden muss, heißt es. Zum anderen böten diese zwei Jahre ausreichend Zeit, um eine vollständige Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorzulegen.
Überwiesener Antrag der Grünen
Die Grünen fordern in ihrem ersten, überwiesenen Antrag (19/29294) die Bundesregierung auf, noch in dieser Legislaturperiode zur Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts in einem ersten Schritt eine Reform des Klimaschutzgesetzes vorzulegen, in der ein ambitionierteres Klimaschutzziel für das Jahr 2030 von minus 70 Prozent festgelegt wird. Außerdem soll der Ausbau der erneuerbaren Energien ab sofort deutlich beschleunigt werden. Umsetzungshürden beim Ausbau der erneuerbaren Energien sollen abgebaut werden, indem Planungs- und Genehmigungsverfahren durch vereinfachte Verfahren, mehr Personal und einheitliche Bewertungsmaßstäbe beschleunigt werden und darüber hinaus Repowering erleichtert wird, sodass alte Windenergieanlagen am gleichen Standort zügig durch leistungsstärkere ersetzt werden können.
Außerdem soll der Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorgezogen werden, indem möglichst in Abstimmung mit den umliegenden europäischen Nachbarländern ein nationaler CO2-Mindestpreis von mindestens 40 Euro eingeführt wird.
Abgelehnter Antrag der Grünen
Der Bund sollte gemeinsam mit den Ländern ein mehrjähriges Förderprogramm „Klimaneutrale Wissenschaft und Forschung“ erarbeiten, forderte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem zweiten, abgelehnten Antrag (19/28364). Danach sollten Hochschulen und Universitätskliniken unterstützt werden, bereits vor 2040 klimaneutral zu sein und als Reallabore des Wandels neue Lösungen für klima- und ressourcenschonende Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsweisen zu entwickeln. Das Programm sollte in ein begleitendes Monitoring eingebettet werden, um frühzeitig Schlussfolgerungen zur Weiterentwicklung des Programms ziehen zu können. Ferner sollte eine ergänzende Förderlinie für Klimaschutzinitiativen und Einzelpersonen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen geschaffen werden, um „bottom-up-getriebene“ Veränderungsprozesse von der Basis bereits in frühen Phasen wirkungsvoll unterstützen zu können.
Zudem sollte ein Programm für die nachhaltige, klima- und ressourcenschonende Modernisierung der Infrastrukturen des Wissens sowie der energetischen, an den Prinzipien einer Kreislaufwirtschaft ausgerichteten Sanierung von Forschungsbauten, Hochschulbauten sowie den Gebäuden der Studentenwerke gemeinsam mit den Ländern entwickelt werden. Da, wo regulatorische Hürden die Orientierung am niedrigsten Preis statt Nachhaltigkeit, Klimaschutz und der Betrachtung des kompletten Lebenszyklus‘ öffentlicher Bauten vorschreiben, sollte auf eine Reform hingewirkt werden.
Ebenso sollte die Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Fragen zu klimaneutralem, nachhaltigem Planen und Bauen gefördert werden. Die Digitalisierung an Hochschulen sollte über eine Digitalisierungspauschale mit einem Fokus auf Nachhaltigkeit und Klimaneutralität neue Dynamik verliehen werden, die IT-Infrastruktur an Hochschulen gestärkt und die Entwicklung einer klimaneutralen Datenstrategie vorangetrieben werden. (chb/rol/eis/ste/07.05.2021)
… für den Impfstoff von Johnson & Johnson (J&J) auf. Das teilte Gesundheitsminister Jens Spahn mit. Zugleich warnte er davor, sich unvorsichtig zu verhalten. „Das Gefühl ist besser als die Lage.“
Die Priorisierung für den Corona-Impfstoff von Johnson & Johnson ist in Deutschland aufgehoben. Das sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Montag nach einer Konferenz mit den Gesundheitsministern der Länder in Berlin. Voraussetzung seien eine ärztliche Aufklärung und eine individuelle Entscheidung über den Impfstoff, der wie AstraZeneca zu sehr seltenen Nebenwirkungen führen kann.
Spahn begründete die Entscheidung damit, dass die Ständige Impfkommission (Stiko) den Wirkstoff zwar nur für über 60-Jährige empfohlen habe, in dieser Altersgruppe aber bis Ende Mai oder Anfang Juni jeder einen Impftermin haben werde. Von den insgesamt 34,4 Millionen in Deutschland verabreichten Impfdosen stammen bisher nur rund 18.000 von Johnson & Johnson. Die Lieferungen sollten nun zunehmen. Bis zum Wochenende wurden 7,6 Millionen oder 9,1 Prozent aller Bundesbürger voll geimpft. Bald jeder Dritte hat mindestens eine erste Spritze bekommen: 32,3 Prozent.
Erst in der vergangenen Woche hatten die Gesundheitsminister beschlossen, dass Corona-Impfungen mit dem Präparat von AstraZeneca künftig für alle möglich sind, wenn sich Impfwillige mit ihrem Arzt dafür entscheiden. Spahn warnte die Bevölkerung davor, unvorsichtig zu werden. „Das Gefühl ist besser als die Lage. Sicherlich hat das gute Wetter damit zu tun und die sinkende Inzidenz“, sagte er. Aber die Zahlen seien noch immer „auf sehr, sehr hohem Niveau“.
Länder wie Großbritannien und Israel hätten die Corona-Maßnahmen bei wesentlich höheren Impfquoten gelockert, als dies nun in Deutschland der Fall sei. „Es darf keinen politischen Wettbewerb der Lockerungen geben“, sagte Spahn. Lockerungen müssten sich vor allem auf den Außenbereich konzentrieren, wo die Ansteckungsgefahr „mindestens um den Faktor zehn“ geringer sei als in geschlossenen Räumen.
Spahn betonte erneut, dass es wichtig sei, sich an die bekannten Regeln zu halten. „Abstand halten ist wichtig, auch vorm Impfzentrum. Wir haben am Wochenende gesehen, es gibt durchaus viel Nachfrage auch beim Impfstoff für AstraZeneca.“ Das werde auch bei J&J so sein, ist sich Spahn sicher. Zugleich blickte er optimistisch in die Zukunft. „Die Perspektive ist da, wir reden über wenige Wochen.“
Die Bundesregierung wolle noch im Wochenverlauf eine neue Einreiseverordnung auf den Weg bringen, kündigte Spahn an. Damit würden Geimpfte und Genesene sowie Personen mit einem tagesaktuell negativen Test nicht mehr unter die Quarantäneregelung fallen. Dies gelte allerdings nicht für Personen, die aus Mutationsgebieten einreisten.
… Deutschlands bewegt sich das Land wieder mit ungeheurer Dynamik in einen autoritären Staat, der z. B. ungeimpft gesunde Menschen diskriminiert.
Wenn nicht umgehend derStatus quo ante Corona = Menschen ohne respiratorische Symptome sind respiratorisch gesunde Menschenwiederhergestellt wird, wird die Gesellschaft zerbrechen!
Ob Masken, Impfstoff oder der Umgang mit Geimpften:
In der Corona-Pandemie reagiert die Regierung erst spät auf voraussehbare Szenarien. WELT AM SONNTAG-Herausgeber Stefan Aust erkennt darin ein Muster. Wie bei vielen Krisen zählen die Jüngeren für ihn zu den größten Verlierern.
WELT AM SONNTAG:Dass es schon bald mehr Geimpfte als Ungeimpfte geben wird, war ja schon länger abzusehen. Irritiert es Sie, dass sich die Politik erst jetzt damit beschäftigt, wie es weitergehen soll?
Stefan Aust:Das hätte mich vielleicht früher mal irritiert, aber nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres nimmt man das doch schon fast gleichgültig hin. Jeder gute Manager würde sich frühzeitiger und pragmatischer mit diesen Szenarien auseinandersetzen und dann pragmatisch handeln oder aber sicher Hilfe von außen holen, wenn es zum Beispiel um die Lösung technischer Probleme geht wie bei einem digitalen Impfpass. Mich hat ein Unternehmer angeschrieben, dessen Firma schon lange im Bereich der digitalen Dokumenten-Sicherheit tätig ist und der sich mit seinem Vorschlag an das Bundesgesundheitsministerium gewandt hatte. Er bekam nicht einmal die Chance, sich weiter vorzustellen, weil die Ausschreibung für das Projekt Impfpass angeblich abgelaufen war – aber erst unmittelbar zuvor.
WELT AM SONNTAG: Ist diese fehlende Szenarien-Vorplanung nicht ohnehin ein wiederkehrendes Muster in der Pandemiebekämpfung?
Aust: Sicher, das ging schon mit der Maskenbeschaffung los und zog sich dann im Grunde über alle Etappen, denken wir nur an den Impfstoff-Bezug. Natürlich war die Lage vor einem Jahr neu und fraglos sehr schwierig, aber in vielen Fällen war es dennoch keine Geheimwissenschaft, Lösungen zu finden. Es klingt sicher hart, aber ich halte diese Regierung für die inkompetenteste der vergangenen Jahrzehnte.
WELT AM SONNTAG: Die Jüngeren müssen am längsten warten, bis sie geimpft werden. Ist diese Altersgruppe die größte Verliererin?
Aust: Bei vielen tiefen Krisen sind die Jüngeren die größten Verlierer, weil sie die Suppe auslöffeln müssen. Jetzt eilig für sie aufgesetzte Programme sollen da die Wogen etwas glätten, aber das sind nur Schein-Aktivitäten, deren Wirkung niemals jemand überprüfen wird.
Stefan Aust ist Herausgeber der WELT AM SONNTAG. Die Fragen stellte Jörn Lauterbach.
*Weil der Artikel und die Meinung außerordentlich wichtig für die Debatte „Klimaschutz“ sind, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.
… im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums über die Lage auf den Intensivstationen 2020 gibt Entwarnung – nah war Deutschland der „Triage“ nie.
Eine vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie beschäftigt sich mit dem Leistungsgeschehen der Krankenhäuser im Jahre 2020. Die Studie steht im Zeichen von Corona und widmet sich auch insbesondere der in der Pandemie so wichtigen Lage auf den Intensivstationen. In langen Texten, Infotabellen und Diagrammen kommt die Studie, an der unter anderem die TU Berlin mitgewirkt hat, zu interessanten Ergebnissen: Der Einfluss von Corona auf die Lage auf den Intensivstationen war 2020 gering. Das Dokument liest sich wie eine retrospektive Entwarnung.
172.248 Behandlungsfälle mit der „Nebendiagnose“ Covid zählt die Studie für das letzte Jahr – „Nebendiagnose“ bedeutet in diesem Fall dann positives Labortest-Ergebnis. Intensivmedizinisch behandelt wurden 26.151, also nur ein Bruchteil dieser Testpositiv-Patienten. Das spiegelt sich auch in der Belegung der Intensivstationen wieder: Nur ein minimaler Bruchteil der Patienten wird in der Studie als Covidpatienten geführt, der insbesondere im Kontrast zu den freien Betten sehr klein wirkt. Das Gesundheitsministerium spricht von einem jahresdurchschnittlichen Anteil der Corona-Patienten an der Intensivbelegung von 4 Prozent. Die Gesamtauslastung der Intensivbetten wird generell zwischen 63% und 73% beziffert – auch das ist weit entfernt von einem Kollaps-Szenario. Kein Wunder, dass selbst das BMG in seiner Pressemitteilung zur Studie festhalten muss: „Die Analyse der Leistungsdaten aller deutschen Krankenhäuser zeigt, dass […] die stationäre Versorgung in Deutschland im ersten Pandemiejahr 2020 flächendeckend gewährleistet werden konnte.“ Der Beirat des Ministeriums betont, dass die Pandemie „zu keinem Zeitpunkt die stationäre Versorgung an ihre Grenzen gebracht hat.“
Nicht das Virus sorgt für Überlastung
Dass die Krankenhäuser und Intensivstationen die Pandemie so gut weggesteckt zu haben scheinen, überrascht den unbedarften Beobachter zunächst: Gab es den Notstand vor allem in den Köpfen und in den Schlagzeilen? Währenddessen sorgten staatliche Finanzierungsmechanismen dafür, dass sich die Zahl der Intensivbetten reell sogar reduzierte – gegen Ende des letzten Jahres wurde beschlossen, dass Kliniken der zwei höheren Notfallstufen (Stufe 2 und 3) entsprechende Fördergelder nur bekommen, wenn die Auslastung der Intensivbetten in dem Krankenhaus bei über 75 Prozent liegt und die 7-Tage-Inzidenz im Kreis bei über 70 liegt. Nicht wenige Krankenhäuser reduzierten die Zahl der Intensivbetten daraufhin, sodass sie weiterhin staatliche Förderung erhielten.
Auch die Personallage wurde nicht durch das Virus, sondern durch politische Entscheidungen verändert. Seit Jahresbeginn darf ein Pfleger nur noch für zwei Betten tagsüber und drei in der Nacht zuständig sein. „Die Kehrseite ist: Betten, für die es kein Personal gibt, müssen ‚gesperrt‘ werden“, erklärt Nina Meckel, Sprecherin des DIVI-Intensivregisters, gegenüber der Bild. Was zweifellos die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte erleichtert, bedeutet für das Gesundheitssystem jedoch eine zusätzliche Verknappung der Kapazitäten.
Wer jetzt den „Notstand auf den Intensivstationen“ vorschiebt, um den fortwährenden Lockdown zu rechtfertigen, ignoriert zumindest, dass dieser hausgemacht ist. Oder: Nicht das Virus, sondern bewusste Entscheidungen der Verantwortlichen haben diesen „Notstand“ herbeigeführt. Die Pflegekräfte, denen für ihre Arbeit Respekt gezollt gehört, scheinen da eher wie vorgeschobene Bauernopfer einer Politik, die sich für ihre Lage in Wahrheit kaum interessiert – vor als auch während Corona.
„Flatten the Curve“ war das Motto, um die „drohende Überlastung“ des Gesundheitssystems zu verhindern – damit räumt das BMG nun in aller Stille auf. Wieviel an den aktuellen drastischen Zustandsbeschreibungen dran ist, wird wahrscheinlich die Folgestudie nächstes Jahr einordnen müssen.
… mit seinem Urteil dafür, dass über Klimapolitik immer einseitiger diskutiert wird. Alles dreht sich nur noch um den Schaden, den wir durch unseren Lebensstil anrichten. Technische Lösungen – wie in China – ignorieren die Richter. Eine Einordnung.
Der Soziologe Nico Stehr hat im Jahr 2011 im Suhrkamp Verlag einen interessanten Vergleich unternommen. Er verglich in seiner Studie ,,Die Macht der Erkenntnis“, gemeinsam mit Reiner Grundmann, die zeitgenössischen Diskurse über die NS-Rassenpolitik und der heutigen Klimapolitik miteinander. Er fragte weniger nach der guten Absicht, sondern suchte als Wissenssoziologe strukturelle Parallelen bezüglich des Rollenverständnisses von Politik und Wissenschaft.
Politik dürfe sich nicht zum Durchführungsorgan wissenschaftlicher Expertenforderungen machen, resümierte Stehr. Sonst sei großer demokratischer Verlust zu beklagen. Es gebe eine „auffallende Ähnlichkeit zwischen den Diskursen über Rasse und Klima“, schrieb er. „Beide veranschaulichen einen technokratischen Zugang der Politikgestaltung, beide stellen uns nicht vor eine politische Entscheidung, sondern sagen uns, ,was die Wissenschaft fordert’.“ Die Gemeinsamkeiten, so Stehr: Kollaps-Prophetie, Selbstmord-Rhetorik, das Angebot „rein naturwissenschaftlicher“ Rettungspfade.
Die Greta-Bewegung verlangt genau dies, eine radikale Wissenschaftsorientierung der Politik. Mit Abstrichen war die Corona-Politik ein Vorgeschmack darauf, dass dieses Verständnis sicher geglaubte, verfassungsgeschützte Freiheiten rasch infrage stellen kann. In dieser Hinsicht war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik epochal. Das gilt auch auf der Sachebene, mehr aber noch aufgrund seiner semantischen und logischen Akzentsetzungen.
Wer jetzt von Freiheit spricht wie zuvor, könnte nach dem Urteil geradezu als verfassungsfern erscheinen. Die neue Klimabewegung sagt, in mehr oder minder scharfer Form, dass viele Lebensbereiche, die heute noch mehrheitlich als privat begriffen werden, im „Lichte der Wissenschaft“ politisch gedeckelt gehörten: Reisen, Heizen, Essen. Kohlenstoffintensive Lebensstile, mit anderen Worten. Und die ganze Industrie drum herum. Die Freiheit nicht nur der Mobilität, sondern auch des Eigentums, der Berufswahl, der kreativen Forschung steht zur Debatte. Pardon: steht vor einer umweltethischen Neudefinition.
Indem Karlsruhe das Staatsziel des Umweltschutzes eins zu eins an die Regierungsziele einer Kohlenstoffneutralität bis 2050 bindet, ist zunächst der parlamentarische Spielraum genommen, im Sinne des Paris-Abkommens mögliche Verschiebungen der Frist auf 2060 (wie China) oder später zu beschließen. Diese Frage ist damit, ganz im Sinne von Fridays for Future und Extinction Rebellion, nicht mehr an Mehrheiten gebunden, nicht daran etwa, dass es zunehmend auch mehrheitsfähige konkrete Angebote für alternative Lebens- und Produktionsweisen gäbe. Sondern (genau) diese Frist ist nun deshalb als nötig festgemacht, weil die Erwärmungsprognosen der Klimawissenschaft die CO2-Notbremse sachzwangartig verlangten.
Am Handlungsdruck besteht kein Zweifel. Aber Wege in eine kohlenstoffneutrale Zukunft gibt es viele. Das etwas in die Jahre gekommene Schlusswort von Nico Stehr wirkt im Lichte der aktuellen Panikrhetorik geradezu antiquiert: Er spricht über Klimaanpassung, Küstenschutz und warnt vor radikaler, also nicht auf wirtschaftliche Folgen Rücksicht nehmender CO2-Bremsung. Und die technischen Quantensprünge, die CO2 vom Gift zum Nährstoff machen, geschahen ja erst nach dem Erscheinen von Stehrs Studie.
Ziele sind längst beschlossen
Die Arroganz der Proteste sagt heute trotzdem nicht so selten: Ach, ihr alten Männer mit euren Autos. Jetzt fügt sie hinzu: Seid ihr jetzt also auch gegen die Verfassung?
Gesamtwirtschaftliche „Netto-CO2-Ausstiegsziele“ sind sinnvoll und längst politisch beschlossen. Der Weg dahin muss nun, nach dem Karlsruher Urteil der vergangenen Woche, erheblich konkretisiert werden. Dieser Auftrag an die Bundesregierung auf der „Sachebene“ ist gewiss vielseitig und kreativ zu gestalten. Aber die Folgen des Urteils für den Diskurs sind viel interessanter.
Seine Sprache und Hintergrundlogik sind epochal merkwürdig. Denn das Gericht hebt zwei Verkürzungen der Klimadebatte auf eine höhere, nämlich die Verfassungsebene: Das ist, erstens, die angesichts technischer Innovation womöglich zu rigide Vorstellung vom CO2 als Umweltgift und, zweitens, die moralische Verdammung CO2 emittierender Verhaltensweisen (nicht also etwa von Steuerpolitiken, die das CO2 viel zu billig sein lassen).
Die Berufung auf Lebensstile hat Konsequenzen. Mit dem Urteil ist – wenn es sich auch auf Regierungshandeln bezieht – gewissermaßen auch der persönliche Kohlenstoffausstieg zum Gebot verfassungstreuer Lebensführung erklärt. „Du fliegst? Damit trägst du zur Unterdrückung anderer bei“ – das ist jetzt die letztgültige Verfassungsauslegung: Individuelle Freiheiten, die gelegentlich Emissionen kosten, können nun wohl als Verletzung des Bürgerrechts auf die Freiheit (anderer) gelten.
Das Problem dieser Deutungsweise ist nicht ihre grundsätzliche Richtung, sondern die schreckliche Eindeutigkeit. Anders gesagt: die Engführung auf das „materiell-ökologische Ausbeutungsgeschehen“ bei gleichzeitiger Ignoranz der, im Bild gesprochen, Freuden, Eindrücke und positiven Nachklänge der Begegnungen, die so eine Flugreise zum Beispiel bringt. Und der Arbeitsplätze und materiell sicheren Existenzen.
Künftig müsse, so heißt es in der juristenkühlen Karlsruher Erklärung, „CO2-relevanter Freiheitsgebrauch immer stärkeren, auch verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein“. Das kann vieles heißen, auch höhere CO2-Steuern. Auch die Radikalität der Extinction Rebellion hat sich das Bundesverfassungsgericht zwar, auf den ersten Blick, nicht zu eigen gemacht. Man kann das Urteil – wie viele Kommentatorinnen – auch als Ausrufezeichen sehen hinter die (triviale) Feststellung, dass es Zielkonflikte gebe zwischen zwei Verfassungszielen: Umweltschutz und individuelle Freiheit.
Die Verknotung der Ebenen
Aber ist es nicht andererseits ein billiger Trick, beide Ebenen einfach zu verbinden, sie zu einem Zielbereich zu vereinen? Das Verfassungsgericht sagt einfach, es gebe langfristig keine Freiheit ohne Umwelt-, also Klimaschutz. In der logischen Verknotung beider Ebenen liegt überhaupt der fatale Fehlgriff.
Denn ist nicht schon das Staatsziel des Umweltschutzes allein übervoll von Zielkonflikten? Zwischen dem Klima-, Arten-, Wild-, Weidetier- und Landschaftsschutz? Windparks zerstören Landschaftsbilder. Wolfsschutz zerstört Schafherden. Im Kern der artenreichen Biosphärenreservate haben auch Biobauern keinen Raum mehr.
Wiederum kollidiert jedes dieser Schutzziele mit individuellen Freiheiten von Menschen. „Letztlich bleibt eine unaufgelöste Spannung zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie einerseits und dem Anspruch auf wahre Erkenntnis und verbindliche objektive Sachnotwendigkeit andererseits“, schreibt der Historiker Andreas Rödder über die Klimadebatten der vergangenen Jahrzehnte. So sprechen Historiker. Das Gericht hat sich für die Sprache der Naturwissenschaft entschieden. Sie ist historisch blind – und ethisch ebenfalls.
Der Anspruch des Bundesgerichtes, die Widersprüche von Klima- und Freiheitsschutz mit einem simplen definitorischen Trick zu lösen, indem es Klimaschutz und Freiheit zu einem gemeinsamen Problemfeld definiert, wirkt aus historischer Perspektive naiv, vielleicht sogar anmaßend. Aber gerade diese Raffinesse lobten Kommentatoren, in der „Zeit“ wie in der „F.A.S.“.
Die eindeutige Argumentation liefert dann auch gleich die eindeutige Lösung mit: weg von den Emissionen. Das Gericht schreibt en passant auch das Zieldatum der deutschen Netto-Null (2050) als unumkehrbar notwendig fest – es gehe eindeutig aus dem Staatsziel Umweltschutz hervor, Artikel 20a Grundgesetz. Damit entkoppelt es dieses Datum auch von Korrekturen.
Was an der Argumentation darüber hinaus epochal aufregend ist, das ist ihre ganz eigenartige Apokalyptik: eine höchstrichterliche Apokalyptik der drohenden Endzeit der Freiheit. So verdoppelt sich der apokalyptisch stimulierte Handlungsdruck gewissermaßen, statt dass er auf zwei Säulen verlagert würde.
Gefeiertes Mega-Ausrufezeichen
Das mag im Sinne der Sache sein oder nicht. Gemäß den meisten öffentlichen Reaktionen von Politikern und Journalistinnen ist es das: Die einen feiern das Urteil als klimapolitisches Mega-Ausrufezeichen (Aktivistinnen, FFF, „taz“, „Stern“), die anderen sagen: ach, halb so wild, und applaudieren fast reflexartig. Andere unterstreichen, das sei gut, es gehe hier schließlich auch irgendwie um Freiheit („F.A.S.“, CDU).
Und nicht zuletzt: Jetzt steht der klimabegründete Freiheits-Lockdown offiziell und unabänderlich im Raum der Möglichkeiten. „Künftig“, so sagt der erörternde Text aus Karlsruhe, „können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein“. Die Extinction Rebellion fordert genau dies, allerdings für sofort und weniger im Sinne der Freiheit, sondern der Umwelt.
Der Panikmodus der Politik hat nicht nur eine Leitplanke verloren, stattdessen gibt es nun Rückenwind. Zur Abwehr der dystopischen Zukunft hilft demnach die wohltemperierte, aber unerbittliche Abgewöhnung umweltschädlicher Verhaltensweisen. Die nennt Karlsruhe nicht beim Namen, sondern spricht allgemein von „mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise[n]“.
Da schwingt also wieder das Klischee vom SUV-Fahrer oder der gut verdienenden Ärztefamilie mit, die im Winter in die Karibik fliegt, aber ebenfalls von Currywurst zum Kantinenpreis.
Die Moralisierung liegt im Bezug auf die „Lebensweise“. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man sagt: Flüge und Currywurst müssen viel teurer werden. Seit vergangener Woche sind solche „unökologischen“ Lebensweisen mit der Verfassung(sauslegung) verknotet. Das entspricht grüner Kampagnenlogik und steht quer zu „konservativen“ beziehungsweise moderierenden Abwägungen und Abgleichungen mit wirtschaftshistorischen Entwicklungspfaden eines Industrielands. Und auch (ein böses Wort?) mit der Wahrung nationaler materieller Interessen, wie auch mit jedem nicht ganz naiven Blick auf die nationale Interessenverfolgung der Weltmacht China.
Ja, die Weltrettung hängt auch an guten Lebensweisen. Das moralische Sprechen gehört in einer pluralen Demokratie aber in Verlage, Parteien und Parlamente. Es ist nun überparlamentarisch verankert. Aber die nötige ethische Abwägung wäre mehrdimensionaler als symbolische Moralen, die CO2-bezogene „Lebensweisen“ grundsätzlich verdammen.
Klimaschonende Lebensweise als Verfassungsaufgabe
Die klimaschonenden Lebensweisen, beziehungsweise die Herbeiführung ebensolcher, erscheinen damit als Verfassungsaufgabe (Artikel 20a). So heißt es in der ausführlichen Erläuterung des Urteils etwa, die Zeit sei knapp, in der „die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhaltensweisen freiheitsschonend vollzogen werden könnte“.
Die Politik erhält den Auftrag, Lebensweisen und Verhaltensweisen in einem langfristigen Plan zu verändern. Vielleicht wird der neue ökologische Mensch ja ohnehin zur Mehrheit, weil die Veggie-Küche besser bekommt und der Spessart auch ganz wunderbar erholsam ist.
Wie Faust in der Walpurgisnacht fliegen die Verfassungsrichtenden durch die Lüfte von Endzeitangst und Zeitenwende, aber deuten immer wieder an, dass der eigentliche Sinn des Rittes die Rettung der Freiheit sei. Was aber wird aus dem Karlsruher Text im Diskurs? Wie lang ist der Weg, bis die fernreisende Familie sich auch in der Nachbarschaft als verfassungsfern rechtfertigen muss?
Die von Karlsruhe übernommene Hypermoral der Emissionsfreiheit lässt – das ist das Greta-Momentum – in der Tat wenig Raum für Hoffnung. Auch nicht für die Weltrettung durch Techniksprünge (und sowieso nicht für Hoffnungen jenseits der Weltrettung).
Der Preis ist also zweitens: Das Urteil begünstigt eine radikale Vereindeutigung wissenschaftlich wie politisch bislang streitbarer Konzepte wie desjenigen von festen nationalen CO2-Budgets. Als gäbe es einen Kuchen, der unabänderlich schrumpfe und nach eindeutigen Gerechtigkeitsüberlegungen zu verteilen sei. Das klingt im Juristinnendeutsch so: „Durch die in Paragraf 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 geregelten Emissionsmengen würde das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen auf der Grundlage der Schätzungen des IPCC ermittelte Restbudget bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht.“
Aber ist nicht die Zukunft offen, die technischen Möglichkeiten gerade in Zeiten biotechnischer Revolutionen an der Grenze zur Science-Fiction kratzend? Sicher lässt das Urteil, auf der „Sachebene“, auch technische Entwicklung als Möglichkeit zu einem guten Ausgang des CO2-Themas zu. Denn es geht im Klimaschutzgesetz ja um Nettoemissionen. Und wie bis dahin der technische Wandel der Mobilität, der Bioökonomie, der Ernährungs- oder Bauindustrie und veränderte CO2-Bilanzen dieser Kernsektoren beitragen, dass auch ein relativ materiell intensiver Lebensstil noch im Rahmen des Umweltverträglichen ist, steht heute in den Sternen.
Die Zukunft des Heizpilzes
Aber muss man dann apokalyptisch sprechen? Was können wir in 2021 wirklich wissen über die Zukunft des Reisens und der Heizpilze, der Metzgereien und Gokart-Bahnen, der Betonhäuser, der Gasheizungen und so weiter?
Leider verschließt die logische Verknüpfung von CO2 und Schädlichkeit zumindest semantisch den Blick in eine überraschend andere Zukunft. Der Lösungsbeitrag staatlicher Budgetierung ist überbetont. Wer weiß, in welchen Sektoren Digitalisierung die Globalisierung des Warenhandels wie stark verändern wird? Und wie es gelingen wird, aus CO2 einen Rohstoff zu machen?
In Israel sind genveränderte Bakterien erschaffen worden, die CO2 zu Biosprit oder Nahrung umwandeln können sollen. Wer weiß, ob dieser Ansatz im großen Stil ein „game changer“ wird. Oder andere. Aber wenn ja, könnte er die Klimabilanzen des Verkehrs- oder Ernährungssektors stark verändern. China, das bis 2060 auch CO2-neutral werden will, baut seine Kohlekraftanlagen mit angeschlossener industrieller CO2-Verwertung.
Die mit der Politik engmaschig verknotete NGO-Landschaft hat zu solchen technischen Lösungen in Europa bereits Nein gesagt. Und wenn Kraftstoffe aus dem CO2 der Luft oder der Industrieanlagen oder aus Plastikmüll gewonnen würden, wäre auch der Verbrennungsmotor wieder klimaneutral.
Das Plastik der Zukunft wird ebenfalls aus dem CO2 der Luft gemacht. In Leverkusen steht schon eine Pilotanlage. Solche Techniksprünge, in der Breite der Industrie angekommen, hätten gravierende Auswirkungen auf Sektorbilanzen. Vor allem aber bezogen auf die Moral des Reisens oder der Plastiktütennutzung, die das Bundesverfassungsgericht anscheinend für ewig gültig hält. Es gibt gute Gründe, an technischen Lösungen zu zweifeln. Bleiben sie ganz unerwähnt und gar nicht mitgedacht, werden aber auch sie immer mehr aus dem staatsbürgerlichen Diskurs verschwinden.
Es gibt – jenseits des populistischen, antirationalen Zynismus – zwei Wege, sich zur drohenden Megakrise zu verhalten.
Einer ist ein furchtsames, aber spielerisches Vorantasten, das neben marktorientierter CO2-Verteuerung auf Forschung und Innovation setzt und auf lokale Lösungen der vielen Spezialistinnen in Wirtschaft und Wissenschaft.
Der andere ist ein einerseits moralisierender und letztlich auch planwirtschaftlicher, der CO2 recht fantasielos zum Jahrhundertgift erklärt, der vom Staat Klarheit über genaue Entgiftungspfade verlangt und a priori technische Lösungsbeiträge wie CO2-Verwertungstechniken oder genomverändernde Pflanzenzucht (etwa Stickstoffbindung durch Crispr/Cas-Editierung) ausschließt.
Dass der erste Weg zum Erfolg führt, ist historisch wahrscheinlicher, der zweite Weg ist der für Büro- und Technokratinnen reizvollere.
Die Einseitigkeit von Karlsruhe
Karlsruhe legt den Fokus einseitig auf Risikovermeidung durch Eliminierung der Emission statt auch auf Anpassung. Allein der Faktor der Unsicherheit genüge: „Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge“, heißt es in der Karlsruher Erklärung, so „erlegt Art. 20a GG dem Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht auf.
Danach müssen bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen berücksichtigt werden.“ Daran mangelt es nicht. Aber müsste das Verhältnis von Innovation und Risikovermeidung in dieser wichtigen, über Wohlstand und Freiheit entscheidenden Frage nicht fortlaufend im Parlament verhandelt werden?
Das Parlament ist nicht nur der eigentliche Ort für Ausstiegsbeschlüsse, sondern vor allem für den vorgelagerten Streit über ökonomische und ökologische Abwägungen – wie zuvor auch die Parteien, die Medien und NGOs, die Wissenschaften. Staatsziele, warnten Staatsrechtler gelegentlich, würden die Macht von den regierenden Parteien und Parlamenten hin zu den Gerichten verschieben. Jetzt sehen wir, was das bedeutet.
Die Machtverlagerung von der Legislative zur Jurisdiktion ist eine Konsequenz daraus, dass Umweltschutz 1994 zum Staatsziel erklärt wurde (neben der europäischen Einigung, der Gleichberechtigung und dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht). Der Umweltminister hieß in diesem Jahr Klaus Töpfer, die Rio-Konferenz von 1992 war ein Anlass, Tschernobyl und das Verschwinden der Regenwälder waren das zeitgeschichtliche Hintergrundgeschehen. Nun sagt Artikel 20a des Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen … durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“
Die Verlagerung von ethischer Abwägung zum „Kopf-durch-die-Wand“ ist nun wie auf einer schleimigen Rutsche beschleunigt. Zum Vergleich ein anderes Urteil, das sich auf Artikel 20a bezieht, und zwar das Staatsziel des Tierschutzes. Über Jahre hatten zuvor mehrere Verwaltungsgerichte über das (entsetzliche) systematische Töten von Küken in der Eier-Industrie entschieden, dieses geschehe mit „vernünftigem Grund“. So urteilten die Vorinstanzen, da es wirtschaftlich geboten sei. Dann hieß es 2019 höchstrichterlich, es sei zwar nicht vernünftig, aber noch zu dulden, da sich diese Industrie historisch lange auf die Gesetzeskonformität dieses Vorgehens verlassen habe.
Das Bundesverwaltungsgericht argumentierte hier nicht prinzipiell moralisch, sondern historisch. Und es sagt, erst mit der Etablierung technischer Methoden der Geschlechtserkennung werde das Kükentöten zu unterlassen sein. In Sinn und Sprache scheint dieses Urteil geradezu eine juristische Gegenwelt zu demjenigen des Bundesverfassungsgerichts zu bilden. Hier hat die Ethik das letzte Wort. Das Gericht entschied nicht für das (mehrheitsfähige): Kükentöten geht gar nicht, Ausstieg jetzt!
Die CO2-Wende hat noch fast dreißig Jahre Zeit. Das Anliegen ist heikel, die Kohlenstoffneutralität ist gesellschaftlich breiter und fundamental tiefer mit Fragen individueller Lebensführung verbunden als die Ausweisung von Naturschutzgebieten, Tierschutzfragen oder Verbote oder Regulierungen toxischer Chemikalien. Kohlenstoffneutralität ohne technische Quantensprünge hieße Kulturrevolution.
Die rigide Fixierung auf einzelne Schadstoffe hat ihrerseits ihre Geschichte in der Umweltbewegung. Die Grünen haben ihre Karriere in den 1980er-Jahren als „Entgiftungspartei“ begonnen. Erst ging es ihnen um Chemiefabriken und Gewässer, dann um Atomkraft. Dadurch, dass CO2 zum Supergift wurde, verlagerte oder weitete sich der Anspruch von bürgerfreundlicher Gestaltung der Industrie zum Kampf um globale und soziale Gerechtigkeit.
Der politische Kampf gegen die Emissionen ist hinsichtlich der katastrophalen Wirkungsweise der Klimagase auf die natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit naturwissenschaftlich unzweifelhaft sinnvoll, aber die konkrete Umsetzung unterliegt eben facettenreichen ethischen Abwägungen. Das moralische Gesetz in uns, die Klimawissenschaft über uns.
In vielen Formulierungen des Pressetextes verbergen sich zentrale metaphorische Konzepte der „grünen“ politischen Kräfte: das von der Kohlenstoffschuld, den planetaren Grenzen, der globalen CO2-Gerechtigkeit, nationalen CO2-Budgets. Jeder, der diese Konzepte in Parlamentsdebatten und Wissenschaft, in Social Media oder Interviews nicht umstandslos akzeptiert, wird sich künftig womöglich die Frage nach der Verfassungstreue stellen lassen müssen.
Die Geschichte der Umweltbewegung lässt sich allerdings von zwei Seiten verstehen. Das sind weniger Kopf und Herz, sondern mehr Ausdruck und Macht. Oder: das ökologische Fühlen und die moralisierende Skandalisierung. Das ökologische Fühlen nimmt seine Leidenschaft aus dem Schmerz, der im menschlichen Blick auf die Kollateralschäden der technokratischen Industriegesellschaft gründet.
Dazu zählen die Krebstoten von Tschernobyl, die toten Fische im Rhein nach den Chemieunfällen der 1980er-Jahre, die Ausbeutung der Tiere in industriellen Schlachtanlagen bis in die Gegenwart, aber auch die Verarmungen von Landschaften durch Windindustrieparks. All diese Schmerzen finden ihren Ausdruck im literarischen und philosophischen Schreiben. Die Erfolge der massenbewegenden Buchbestseller gründeten im poetischen Ausdruck ihrer Autorinnen: Rachel Carson, Wendell Berry, Safran Foer.
Klimapolitik aber ist untrennbar vor allem Machtpolitik. Sie ist wohl das Teilgebiet der Umweltpolitik mit dem geringsten poetischen Gehalt. Der rigide CO2-Minderungs-Klimapfad ist durch das Urteil zur umwelt- und wirtschaftspolitischen Totalperspektive von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion geworden. Das ist eine Revolution der Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland.
Die Gretchenfrage lautet nun auch für alle, die der Verfassung treu sein möchten: Wie hältst du‘s mit dem „CO2-relevanten Freiheitsgebrauch“? Klimawissenschaft, Politik und Privates sind engmaschig verknüpft. Das schien für Nico Stehr noch vor zehn Jahren extrem unwahrscheinlich.
*Weil der Artikel und die Meinung außerordentlich wichtig für die Debatte „Klimaschutz“ sind, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.