Vier WELT-Abonnenten grillen den Gesundheitsminister:
MehrHaben die Corona-Manager den Bezug zur Bevölkerung verloren? Vier WELT-Abonnenten, unter ihnen eine Lehrerin und eine Pflegerin, fordern Klartext vom Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Ein Schlagabtausch über Gängelei der Bürger, das Leid der Kinder und das Ende der Pandemie.
Wie spricht der Bundesgesundheitsminister, wenn ihn nicht Journalisten interviewen, sondern einfache Bürger? WELT hat Jens Spahn (CDU) mit vier Abonnenten in Berlin zusammengebracht. Mit dabei: Altenpflege-Schülerin Sarah Cepin aus Detmold, Lehrerin Kerstin Anselm aus Rastatt bei Karlsruhe, Pfarrer Sebastian Fitzke aus Braunschweig und Roman Karstens, Marketing-Manager einer Pharmafirma und ehemaliger Krankenpfleger aus Hamburg.
Roman Karstens [Marketing-Manager einer Pharmafirma und ehemaliger Krankenpfleger aus Hamburg]: Herr Spahn, Sie wollen die Inzidenz aus dem Gesetz streichen und stattdessen die Hospitalisierungsrate stärker berücksichtigen. Was heißt das konkret?
Jens Spahn: Erst mal muss man festhalten: Impfen wirkt, und Impfen macht den Unterschied. Deshalb können wir mit der anrollenden vierten Welle anders umgehen als mit den vorherigen. Wir schauen jetzt stärker auf die Zahl der neu in die Kliniken eingelieferten Covid-19-Patienten als auf die Zahl der Neuinfektionen.
Ziel bleibt weiter, eine Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern. Der Wert, der eine Überlastung anzeigt, sollte regional unterschiedlich sein können. Hier in Berlin haben Sie zum Beispiel eine ganz andere Krankenhausdichte als etwa in einer ländlichen Region.
Karstens: Und ab welchem Wert sollen dann wieder Maßnahmen greifen?
Spahn: Wir haben Erfahrungswerte aus den vergangenen Corona-Wellen, als die Belastung in vielen Kliniken sehr hoch war. Da ging es um Werte von zwölf bis 15 Covid-19-Patienten pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Solche Spitzenbelastungen dürfen wir nicht wieder erreichen.
Mein Ziel ist es aber, dass wir keine weiteren Maßnahmen mehr brauchen. Wenn sich im September noch mehr Menschen impfen lassen, können wir mit der jetzt geltenden Regel „geimpft, genesen oder getestet“ und mit den AHA-Regeln gut durch Herbst und Winter kommen. Für Geimpfte wird es sowieso keine neuen Beschränkungen mehr geben.
Sarah Cepin [Altenpflege-Schülerin Sarah Cepin aus Detmold]: Wie hoch ist denn überhaupt die tatsächliche Impfquote? Mich irritiert, dass Ergebnisse von Umfragen eine höhere Impfquote zeigen, als sie das Robert-Koch-Institut (RKI) ausweist.
Spahn: Natürlich gibt es immer auch Meldeverzögerungen und Nachmeldungen. Aber die Impfquote, die vom RKI erfasst wird, ist sehr genau. Die Umfrage, die Sie meinen, halte ich dagegen für nicht besonders repräsentativ: Es wurden nur 1000 Menschen befragt und ausschließlich auf Deutsch. Dabei haben wir auch gerade bei Menschen, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, eine geringere Impfquote als in anderen Bevölkerungsgruppen.
Karstens: Sie sagen, unsere aktuelle Impfquote sei noch zu niedrig, um die Pandemie zu überwinden. Welche Zahlen müssen wir erreichen?
Spahn: Nach den Modellierungen des RKI brauchen wir eine Impfquote von um die 90 Prozent bei den über 60-Jährigen und um die 75 Prozent bei den Zwölf- bis 59-Jährigen. Wenn wir das schaffen, haben wir sehr gute Aussichten, dass das Gesundheitswesen ohne Überlastung mit dem Virus umgehen kann.
Bei den über 60-Jährigen sind wir schon fast am Ziel, bei den Jüngeren liegen wir aber erst bei 63 Prozent. Da fehlen noch über fünf Millionen Impfungen.
Sebastian Fitzke [Pfarrer Sebastian Fitzke aus Braunschweig]: Warum schließen Sie dann eine Impfpflicht aus? Sie müsste nur offen diskutiert und am Ende vom Bundestag beschlossen werden. Das wäre eine ehrlichere Politik, als die Menschen immer weiter in Richtung Impfung zu lenken, man könnte auch sagen: sie zu gängeln.
Spahn: In der Gesellschaft hat die Pandemie starke Spannungen ausgelöst, es wird immer schwieriger, Kompromisse zu finden und beieinanderzubleiben. Es fängt schon mit der Frage an, ob Kinder im Schulunterricht Maske tragen sollen oder nicht. Bei diesem Thema kann es beim Elternabend richtig rundgehen. Die einen sagen: Ich lass mein Kind ohne Maske nicht in die Schule. Und die anderen schreien mir, wenn ich irgendwo ankomme, „Mörder“ hinterher, weil sie das Masketragen für die Kinder als solch eine schreckliche Belastung empfinden.
Und gerade bei der Impf-Frage müssen wir vermeiden, dass aus Spannungen dann Spaltung wird. Eine verpflichtende Impfung würde die Gesellschaft auseinandertreiben. Das will ich vermeiden.
Fitzke: Aber so verlagern Sie das Spaltpotenzial doch nur. Die Politik schiebt es den Restaurantbetreibern, Kinobesitzern und Konzertveranstaltern zu, die nun teils selbst entscheiden sollen, ob sie nur Geimpfte und Genesene reinlassen – oder auch Ungeimpfte mit negativem Testergebnis. In Hamburg zum Beispiel erlaubt der Senat nur dann Veranstaltern mehr Gäste, wenn die Ungeimpften draußen bleiben.
Spahn: Der Weg, den Hamburg geht, ist gut begründbar. Es gilt generell für Zutritt in Innenräumen 3G – geimpft, genesen oder getestet. Aber wenn Privatleute oder die private Wirtschaft zu ihren Veranstaltungen nur Genesene und Geimpfte zulassen wollen, können sie das machen. Das ist aber keine Pflicht. Dafür erlaubt Hamburg lediglich, dass sich dann mehr Menschen in einem Raum aufhalten können.
Sie sagen, das sei Gängelung. Ich halte das für einen klugen Mittelweg. Denn wenn nur Geimpfte oder Genesene im Raum sind, ist das Risiko einer Infektion deutlich geringer, als wenn auch Ungeimpfte mit negativem Testergebnis mit dabei sind. Wenn ein höherer Schutz so gegeben ist, kann ich auch Abstandsregeln aufheben, im Kino zum Beispiel.
Cepin: Aber diesen Schutz bietet die Impfung doch gar nicht. Wenn ich geimpft bin, kann ich mich trotzdem mit der Delta-Variante anstecken und das Virus weitergeben. Es stimmt einfach nicht, was Sie sagen, Herr Spahn.
Spahn: Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung ist für Geimpfte deutlich geringer – und noch viel geringer ist das Risiko einer schweren Erkrankung. Und darum geht es ja, da sind wir wieder bei der Belastung des Gesundheitswesens. Wenn wir für Geimpfte nicht nach und nach die Regeln aufheben, dann kommen wir ja nie wieder zurück in die Normalität. Dann müssten wir ja ewig weitermachen mit den Beschränkungen. Das will ich nicht.
Cepin: Wenn Ansteckungen durchs Impfen nicht verhindert werden, warum wollen Sie trotzdem, dass sich unbedingt möglichst alle ab zwölf Jahren impfen lassen?
Spahn: Noch mal: Sie stecken sich als Geimpfte deutlich seltener an. Außerdem hat die Ständige Impfkommission klar hergeleitet, dass das Risiko einer Impfung wesentlich niedriger ist als das Risiko von Folgewirkungen einer Infektion, auch für einen Zwölf- oder 15-Jährigen.
Cepin: Aber wie hoch ist denn das Risiko eines 15-Jährigen, mit einer Covid-Erkrankung auf der Intensivstation zu landen?
Spahn: Es geht nicht nur um Fälle auf der Intensivstation. Wir haben inzwischen bis zu 300.000 Long-Covid-Fälle, darunter viele mit dem Fatigue-Syndrom, also mit dauerhaften und schweren Erschöpfungszuständen.
Cepin: Es gibt eine Studie, der zufolge gesunde Kinder genauso häufig die Symptome des Fatigue-Syndroms haben wie Kinder, die eine Covid-Erkrankung hinter sich haben. Von meinen drei Kindern hat sich keins mit Corona angesteckt; trotzdem hat mein ältester Sohn das, was als Long Covid bezeichnet wird. Durch die ganzen Restriktionen ist er antriebslos, fast depressiv geworden.
„Das gibt den Eltern eindeutig mehr Sicherheit“
Spahn: Es gibt Fälle wie den Ihres Sohnes, bei denen Symptome und Erkrankungen als psychosomatische Reaktion auf die Corona-Maßnahmen eintreten. Aber Long Covid gibt es eben auch, vor allem bei unter 60-Jährigen. Das Fatigue-Syndrom trat ja auch schon nach anderen Viruserkrankungen auf, weit vor der Corona-Pandemie.
Und in den vergangenen 18 Monaten sind diese Fälle rasant gestiegen, vor allem nach Corona-Erkrankungen. Deswegen bin ich als Gesundheitsminister dagegen zu sagen, die Kinder und Jugendlichen können sich ruhig einfach infizieren.
Kerstin Anselm [Lehrerin Kerstin Anselm aus Rastatt bei Karlsruhe]: Viele meiner Schüler haben den Eindruck, ihre Belange hatten in der Pandemie eher eine geringe Priorität. Welche Folgen hat es aus Ihrer Sicht für die Zukunft unserer Demokratie, wenn junge Menschen spüren, dass die Politik nicht genug für sie eintritt – obwohl sie für alle da sein sollte?
Spahn: Natürlich haben die Belange junger Menschen für uns eine wichtige Rolle gespielt. Die Ministerpräsidentenkonferenzen haben ja auch deshalb bis in die Nacht gedauert, weil wir stundenlang über Schulschließungen gesprochen haben. Jede Entscheidung hätte Schäden nach sich gezogen: Alles offenzuhalten, hätte massive gesundheitliche Schäden verursacht.
Die Schließungen haben andererseits milliardenschwere wirtschaftliche Schäden und auch gesundheitliche Folgen wie psychische Belastungen verursacht. Das leugne ich nicht. Und das wird sich auch nicht in wenigen Monaten beheben lassen.
Anselm: Als ich nach Monaten wieder in die Schule kam, waren einige Kinder in katastrophalem Zustand: 20 Kilo zugenommen, kaum noch Deutsch gesprochen, schwerst depressiv. Als die ersten Lockerungen kamen, konnten Erwachsene in den Urlaub fahren – die Schüler mussten im Lockdown bleiben.
Spahn: Ein ganz normaler Schultag setzt jeden Morgen zehn Millionen Menschen in Bewegung. Deswegen haben wir gesagt: Die Schließung hat zwar harte Tage für die Betroffenen zur Folge, aber um die Gesundheit zu schützen, machen wir es.
Aus meiner Sicht müssen die Schulen nicht wieder geschlossen werden, wenn Test- und Hygienekonzepte sowie die Maskenpflicht im Unterricht eingehalten werden. Von Masken im Freien halte ich ohnehin nichts.
Cepin: Heißt das, dass Sie künftige Schulschließungen ausschließen?
Spahn: Ich kann Ihnen versprechen: Ich werde alles daran setzen, den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten. Und ich erwarte, dass die Länder das auch tun.
Anselm: Was muss denn aus Ihrer Sicht nun geschehen, dass diese Generation nicht zur verlorenen Generation wird? Ich habe Kinder in der Klasse, die ein Jahr nur vor ihrem Handy saßen.
Spahn: Ich höre oft den Satz: Herr Spahn hat keine Kinder, der hat ja keine Ahnung. Dabei beschäftigen mich seit Anbeginn der Pandemie wenige Themen so sehr wie die Schulschließungen. Das war ja eine Entscheidung, die uns wirklich nicht leichtgefallen ist. Jetzt ist es wichtig, dass finanzielle Mittel für eine Art Aufholprogramm bereitgestellt werden, um etwa zusätzliche Schulsozialarbeiter und Pädagogen zu finanzieren.
Fitzke: Vor den Sommerferien berichtete mir ein Vater in meiner Gemeinde von seiner achtjährigen Tochter, die in der Schule neben einem positiv getesteten Kind saß und dann vom Gesundheitsamt für zwei Wochen in Quarantäne geschickt wurde. Es gab dabei die Anweisung, das Mädchen in ihrem Zimmer zu isolieren und keine gemeinsamen Mahlzeiten einzunehmen.
Cepin: Ich kann das aus erster Hand bestätigen. Es gibt diese Anweisungen tatsächlich.
Fitzke: Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist an der Grenze zur Kindeswohlgefährdung. Ich ertrage das nicht mehr, Herr Spahn.
Spahn: Das verstehe ich gut. Quarantäne ist gerade für Kinder schwer durchzustehen. Und eine offizielle Anweisung dieser Art wirkt manchmal sehr brutal, das stimmt. Mir ist wichtig, dass die Regeln nachvollziehbar sind und am besten einheitlich.
Schicke ich nur die Kinder in Quarantäne, die direkt neben dem infizierten Kind saßen? Die ganze Klasse? Nur den Infizierten? Auf diese Fragen geben die Länder alle unterschiedliche Antworten. Und das ist für Eltern wie Kinder nur schwer nachvollziehbar. Das werde ich mit den Ländern besprechen.
Karstens: Ich habe eine Frage zu dem Wegfall der kostenlosen Schnelltests ab Mitte Oktober. Wäre es nicht sinnvoll, auch die Geimpften weiter breit zu testen?
Spahn: Sie haben recht, dass auch Geimpfte infektiös sein können. Bei vulnerablen Gruppen, etwa im Pflegeheim, sollten daher aus meiner Sicht im Herbst und Winter auch geimpfte Mitarbeiter ein- bis zweimal die Woche getestet werden. Auch dieses Thema werde ich mit meinen Ministerkolleginnen und –kollegen in den Ländern aufnehmen.
Ich möchte aber nicht, dass wir Geimpfte regelhaft testen. Das ist einfach nicht notwendig. Am Ende messen wir dann Inzidenzen von geschützten Menschen, die keinen Aussagewert haben, mit denen wir aber dann nie aus dieser Pandemie kommen. Außerdem muss Impfen ja auch noch einen Unterschied machen. Warum soll ich mich impfen lassen, wenn sich trotz Schutz um mich herum nichts verändert?
Fitzke: Wann wäre die Pandemie aus Ihrer Sicht vorbei?
Spahn: Erstens muss eine zu starke Belastung des Gesundheitswesens ausgeschlossen sein. Zweitens brauchen wir dazu eine hohe Immunität in der Bevölkerung, entweder durchs Impfen oder durch überstandene Infektionen. Wobei mir da der erste Weg lieber wäre.
Anselm: Wir haben bald Bundestagswahl. Wenn der CDU-Vorsitzende Armin Laschet Kanzler werden sollte, wo sehen Sie dann Ihre politische Zukunft? Wollen Sie Gesundheitsminister bleiben?
Spahn: Ich bin gerne Gesundheitsminister, auch nach diesen 18 Monaten. Bestimmt habe ich nicht jede einzelne Entscheidung in der Krise richtig getroffen, aber insgesamt sind wir doch vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Und alles andere – da bekommen Sie jetzt eine Politiker-Antwort – schauen wir nach der Wahl.
Fitzke: Als Pfarrer begleitet mich oft der Bibelspruch: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“ Was macht ein kluges Leben nach diesen 18 Monaten für Sie aus?
Spahn: Für mich hat sich einmal mehr gezeigt, dass die Familie der Kern von allem ist. Auch habe ich den Spaziergang durch den Wald wertgeschätzt wie nie zuvor. Einfach mal drei, vier Stunden durch die Natur, das tut mir unheimlich gut.
Einige Dinge sieht man dann auch noch mal anders, wenn man vor einem alten Baum steht und weiß: „Das waren zwar schwierige Monate, aber der steht hier schon 200 Jahre.“ Das gibt mir Ruhe und relativiert wahnsinnig viel, etwa die Aufgeregtheiten des Alltags. Früher, wenn WELT getitelt hat, was der Spahn angeblich wieder alles verbockt hätte, habe ich den ganzen Tag drüber nachgedacht.
Fitzke: Und mittlerweile?
Spahn: Am Ende ist es wichtig, dass ich überzeugt bin von dem, was ich tue. Und dass ich es vor mir, den Bürgern und Gott verantworten kann. Natürlich gehe ich nicht mit Scheuklappen durch die Welt und wäge jede Kritik ab.
Aber am Ende zählt der richtige Kurs und nicht die flüchtige Schlagzeile des Tages. Das habe ich für mich gelernt.
Solch ein Interview bekommen die sogenannten „Profis“ einfach nicht hin. Dank an die WELT für dieses Format!
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*Weil das Format mit Spahn außerordentlich wichtig für das Thema „Corona“ ist, zitieren wir den Text & die ersten 100 Kommentare. Verweise, Grafiken lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.