Deswegen wird ein Lehrer einer Verkäuferin „Heil Hitler“ ins Gesicht brüllen. Deshalb werden die Mitglieder einer „Querdenker“-Gruppe Zeuge, wie einer von ihnen zuerst in einem Chat über seine Corona-Erkrankung berichtet und dann seine Todesanzeige erscheint.
Es ist eine verrückte Geschichte, wie sie diese Zeit schreibt. Sie zeigt, wie Corona Familien, Freundeskreise und Nachbarn entzweit. Und einige Menschen zu Dingen treibt, die sie sich vor einem Jahr nicht mal selbst hätten vorstellen können.
Diese Geschichte spielt in Freiburg-Vauban, einem Ökostadtteil wie aus dem Bilderbuch: mit Häusern, die kaum Energie verbrauchen und ohne Gewinnanspruch in Baugruppen errichtet wurden. Mit Straßen, auf denen fast keine Autos fahren dürfen, Spiel- statt Parkplätzen und der Idee, als eine große Gemeinschaft zusammenzuleben, in der jeder seine Nachbarn kennt.
Ein Zentrum dieses Viertels war immer der genossenschaftlich geführte Biosupermarkt „Quartiersladen“, ein sozialer Treffpunkt. Etwa die Hälfte der Einwohner von Vauban hält Anteile an dem Geschäft. Fragt man die beiden Geschäftsführerinnen des Ladens, wie das alles angefangen hat, dann sagen sie: mit den Maskenverweigerern.
An einem Dezembermorgen sitzen Christina Konietzny und Gabriele Siegle in einem mit Kisten und Aktenordnern vollgestopften Büro im Hinterraum des Bioladens. Beide sind Mitte 50, groß und haben wilde Locken, beide leben schon seit mehr als zehn Jahren in Vauban, die meisten Kunden kennen sie beim Vornamen.
Als im Frühjahr die Pandemie ausbrach, entwickelten sie ein Hygienekonzept: Desinfektionsmittel am Eingang, nicht mehr als acht Kunden in den schmalen Gängen zwischen Flohsamen, Gemüsesaft und frischem Bioobst und: Maskenpflicht. Anfangs klappte das gut, sagen sie. Doch dann tauchten mehr und mehr Kunden mit Attesten auf, die sie von der Maskenpflicht befreiten.
„Ab dem Sommer gab es für uns keinen Tag mehr ohne Diskussionen“, sagt Siegle. Wenn sie Kunden trotz Attest nicht in den vollen Laden ließ, beschwerten die sich über Ausgrenzung. Wenn sie ihnen den Einkauf erlaubte, standen sofort andere Kunden bei ihr im Büro, die über die Unverantwortlichkeit in dem kleinen Laden schimpften.
„Sie müssen das verstehen“, sagt Konietzny. Der Laden sei immer ein schöner Ort gewesen, der allen gehört und in dem sich alle zu Hause gefühlt hätten. Klar habe es manchmal Streit gegeben, zum Beispiel darüber, ob sie Hirse nicht lieber aus dem Spreewald statt aus China beziehen sollten. Nichts aber habe sie auf die Aggression vorbereitet, die der Streit über die Masken auslöste. Jeder Spaziergang durchs Viertel sei für sie zum „Spießrutenlauf“ geworden.
Als die Ladenbetreiberinnen schließlich im Fernsehen einen Bericht darüber sahen, wie viele Ärzte ohne Untersuchung Atteste verkauften, schrieben die beiden Geschäftsführerinnen Anfang November eine E-Mail an die Mitglieder der Genossenschaft: Ab sofort dürften Kunden nur noch mit Maske einkaufen, Atteste würden nicht mehr akzeptiert. Wer keine Maske tragen könne, solle eine „Einkaufsvertretung“ schicken.
Konietzny und Siegle sagen, sie hätten doch eine Fürsorgepflicht ihren Mitarbeitern gegenüber. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sagt, Konietzny und Siegle hätten mit ihrem Einkaufsverbot nicht gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verstoßen. Nach der baden-württembergischen Corona-Verordnung sind Menschen mit gültigem Attest allerdings von der Maskenpflicht befreit. Aber gilt das auch, wenn sie einfach woanders einkaufen könnten? Nur ein paar Gehminuten weiter gibt es einen großen Biosupermarkt, der jeden mit gültigem Attest ohne Maske einlässt.
Eigentlich beantworten Gerichte eine solche Frage. Die betroffenen Kunden mit ihren Attesten aber beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie gründeten die „Shopping Gang“.
Eine besondere „Shopping Gang“
An einem Montagmorgen im November ruft Juma von Minden, eine kleine, blasse Frau von 43 Jahren, in einer Telegram-Chatgruppe mit dem Titel „FreiSeinFreiburg Shopping Gang“ dazu auf, dem „Quartiersladen“ in Vauban einen Besuch abzustatten. Von Minden ist gelernte Krankenschwester, Hausfrau, Mutter dreier Kleinkinder und langjährige Kundin im Laden. Um 10.30 Uhr sind sieben Leute ihrem Aufruf gefolgt und stehen vor dem Geschäft in Vauban, alle ohne Maske, aber mit Attest.
Von Minden hält ihre zweijährige Tochter im Arm. Sechs von ihnen sprechen im Nachgang mit dieser Zeitung, auch Juma von Minden. Sie sehen nicht aus wie eine Gang, eher wie ein Gruppe von ökoaffinen Hausfrauen, Rentnern und Freiberuflern zwischen 40 und 60 Jahren.
Was dann passiert, darüber gibt es zwei Versionen. Die Geschäftsführerinnen sagen: Die Gruppe stürmt in den Laden, bedrängt die Ladenchefinnen.
Die Attestbesitzer sagen: Die Gruppe versucht friedlich einzukaufen, die Geschäftsführerinnen schreien sie an.
Die Polizei kommt. Kaum sind die Beamten weg, geht der Streit vor der Tür weiter. Am Ende brüllt ein Mann aus der Gruppe der Geschäftsführerin Siegle „Heil Hitler“ entgegen. Der Mann, der im normalen Leben als Dirigent und Musiklehrer arbeitet, gibt das gegenüber WELT AM SONNTAG zu. Dass Siegle ihn nicht ohne Maske einkaufen lasse, empfinde er als „Unterdrückung“. Siegle hat ihn inzwischen angezeigt, wegen „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“. Auch gegen die anderen in der Gruppe stellte sie Strafanzeige. Die Polizei ermittelt wegen Hausfriedensbruch.
Vorgetäuschter Corona-Tod
Es sieht zuerst wie ein Zufall aus, dass sich am Tag nach dem Vorfall im Quartiersladen ein Andreas Hoffmann in der Telegram-Chatgruppe „FreiSeinFreiburg Shopping Gang“ und der damit verbundenen Chatgruppe „FreiSeinFreiburg“ anmeldet. Eines seiner Profilbilder zeigt einen gut aussehenden, bärtigen Mann um die 40, ein zweites die Thingstätte in Heidelberg, ein Freilichttheater, zu NS-Zeiten gebaut. Er fällt zunächst nicht weiter auf, täglich teilen Mitglieder der Chatgruppe Hunderte kritische Beiträge zu Corona-Maßnahmen, aber auch Inhalte von „Reichsbürgern“ und verurteilten Holocaustleugnern.
Juma von Minden und mindestens ein anderes Mitglied der „Shopping Gang“ sind Administratoren dieser Chatgruppe – könnten solche Posts also löschen. Tun es aber nicht.
Hoffmann interessiert sich für die Protestaktion im „Quartiersladen“. Ein Beteiligter nach dem anderen bekommt private Nachrichten von ihm. Er wolle helfen, juristisch gegen den Laden vorzugehen, schreibt er. Man solle sich treffen.
Dazu kommt es nicht, denn drei Tage vor dem geplanten Termin fragt Hoffmann im Chat nach einem guten Heilpraktiker. „Ich hab seit gestern Abend Fieber.“ Es ist nur ein simpler Satz, aber er löst eine wütende Diskussion über angeblich manipulierte Corona-Statistiken und den Sinn von PCR-Tests aus. Um Hoffmanns Gesundheit geht es bald nicht mehr.
Am Tag darauf meldet sich eine Claudi in der Chatgruppe, die sich als Hoffmanns Freundin vorstellt. Hoffmann habe Atemnot bekommen, liege mit Corona im Krankenhaus. Fünf Tage später veröffentlicht Claudi eine Todesanzeige im Chat. „Mein Andi ist heute Nachmittag gestorben. Er wurde zuletzt beatmet. Dann ging es unglaublich schnell.“
Einer der Administratoren löscht alle Nachrichten zu Hoffmanns Tod aus dem Chat. Die Nutzer reagieren sonst sehr empfindlich auf alles, was sie als Zensur ansehen. In diesem Fall protestiert niemand.
Telefonat mit dem „Toten“
WELT AM SONNTAG schreibt Claudi über Telegram, wenig später ruft jemand von Claudis Account an, ein Mann. Er sagt: „Ich habe Andreas Hoffmann und Claudi nur erfunden. Niemand ist gestorben.“ Ob das nicht geschmacklos sei? Der Mann am anderen Ende der Leitung sagt, es habe seinen Zweck erfüllt: zu beweisen, wie herzlos, egoistisch und fanatisch die Menschen seien, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen – und darauf bestehen, ohne Maske einzukaufen.
Der Mann redet schnell. Er sagt, er habe allein gehandelt. Seine Identität könne er nicht enthüllen, zu gefährlich in der kleinen Welt des Ökoviertels, in dem jeder jeden kennt. Er sei ein Familienvater aus Vauban, im Homeoffice seit März, er kaufe oft und gern ein im „Quartiersladen“. Auch am Tag des „Überfalls“ sei er im Geschäft gewesen. Da habe er gewusst, dass er etwas tun müsse.
Also habe er sich eine Telefonnummer und ein Profilbild im Internet besorgt, habe Tage und Nächte in den Telegram-Gruppen mitgelesen, habe die Teilnehmer der Protestaktion ausfindig gemacht und an der Nase herumgeführt. Die hätten ihm alles geglaubt. Er lacht in die Leitung.
Er sagt ein persönliches Treffen in Freiburg zu, taucht dann aber nicht auf. Später schreibt er eine Nachricht, er habe Angst um seine Familie. Immerhin werde ein Teil der „Querdenken“-Bewegung jetzt offiziell vom baden-württembergischen Verfassungsschutz beobachtet. Juma von Minden, sagt der Mann, sei sicher gefährlich. Er kenne sie allerdings nicht persönlich.
Sie fühlt sich als Opfer, missverstanden
Juma von Minden steht an einem kalten Dezemberabend mit Pudelmütze und dicker Jacke in einem Freiburger Park. Am Telefon hatte sie einem Treffen zugesagt, ihre Bedingung: draußen, mit Sicherheitsabstand.
Sie lacht, als sie auf Andreas Hoffmann angesprochen wird. Wenn überhaupt, sei der gefährlich, nicht sie. Der habe sich so seltsam verhalten, irgendwie unheimlich. Sie sagt, ihr sei klar gewesen, dass das irgendein Aktivist sei, Antifa oder so, der sie ausspionieren wolle. Deswegen hätten die Administratoren die Todesanzeige gelöscht.
Wieso löschen die Administratoren nicht auch die „Reichsbürger“-Nachrichten im Chat? Von Minden weicht aus: „Da wird so viel gepostet, ich hab da keinen Überblick und keine Zeit.“ Sie sei ja vor allem Hausfrau und Mutter. Auch dass jemand vor dem Laden „Heil Hitler“ gerufen habe, habe sie nicht mitbekommen. Es sei aber „natürlich schade“.
Von Minden fühlt sich nicht als Täterin, sondern als Opfer, missverstanden. Sie? Rechts? Sie habe immer grün gewählt. Sie gehe zwar zu „Querdenken“-Demos, sei aber keine Corona-Leugnerin.
Anfangs habe auch sie eine Maske getragen. Dann seien die Panikattacken gekommen, im Supermarkt habe sie hyperventiliert. Ihre Hausärztin habe sie dann von der Maskenpflicht entbunden. Warum, das steht auf ihrem Attest nicht. Der Gesetzgeber will es so.
Das Attest habe ihr Leben nicht leichter gemacht. Dauernd werde sie beschimpft, weil sie keine Maske trägt. Und ja, es gebe zwar einen anderen Biomarkt im Quartier, in den man sie ohne Maske lässt. Das reicht ihr aber nicht. Sie sei vor sieben Jahren mit ihrem Mann nach Vauban gezogen, weil das Viertel für alles stand, was ihr wichtig sei: das Leben in einer Gemeinschaft, familiär und naturbewusst. Der Laden, sagt sie, gehöre für sie dazu. Sie wolle nur, was ihr zustehe.
Am Ende ist die Wut das Einzige, was sie noch eint. Alle haben etwas verloren. Vor allem ihren Laden. Oder zumindest die Illusion davon, was er angeblich war: alltäglicher Ausdruck einer gemeinsamen Überzeugung.
Christina Konietzny und Gabriele Siegle, die Geschäftsführerinnen des Ladens, sagen, sie wollten nur noch, dass es vorbei ist. Vor einigen Tagen schickten sie einen Brief an die Mitglieder: Juma von Minden und ihre Mitstreiter wurden wegen „genossenschaftsschädlichen Verhaltens“ zum 1. Januar 2021 aus der Ladengenossenschaft ausgeschlossen und bekamen Hausverbot. Einige von ihnen wollen dagegen rechtlich vorgehen.
Die Freiburger Polizei hat bei den Ermittlungen gegen die „Shopping Gang“ wegen des „Heil Hitler“-Rufes den Verfassungsschutz eingeschaltet.
Juma von Minden sagt, sie verstehe das alles nicht. Sie habe doch nur einkaufen gehen wollen.
Dieser Text ist aus WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.
*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona“ ist, zitieren wir den Text. Verweise und Kommentare der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.