Erstausstrahlung: Sonntag, 08.01.23, 06:05 Uhr
Niemand ist in der öffentlichen Debatte so verachtet wie der Kapitalismus, der zum Sündenbock für alles Schlimme gemacht wird und deshalb abgeschafft, wenigstens reformiert gehört. Die Verdammungsfloskeln der Erz-Kapitalisten unterscheiden sich kaum noch von denen der Marxisten. Doch hinter dem Theaterdonner geht es für die einen darum, eine neue heißende, doch leider altbekannte Gesellschaft zu schaffen und für die anderen beim Umbau der Wirtschaft das Geschäft ihres Lebens zu machen: Prinz John, der Sheriff von Nottingham und Robin Hood haben ein Bündnis geschmiedet – gegen das Volk.
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Tiefe oder freie Gesellschaft: der Westen steht vor der Entscheidung
1.
Auch wenn die Bezeichnungen sich ändern, bleibt sich doch in der Geschichte der Menschheit vieles gleich, kehrt, kaum vergangen, in anderer Gestalt wieder. Diese deprimierende Tatsache versuchte der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche ins Positive zu wenden, wenn er die Ewige Wiederkehr des Gleichen pries. Doch für den gewöhnlichen Erdenmenschen bleibt nur die Erkenntnis, dass das Ewig Gleiche immer als etwas Anderes wiederkehrt. Die großen Veränderungen der Gesellschaft, deren Leidtragende und Opfer der europäische Mensch, der Mensch der westlichen Zivilisation wird, wecken in vielen ungute Erinnerungen, zumindest für die Mittel- und Osteuropäer, die sich, so sie alt genug sind, an manches gemahnt fühlen, das sie bis vor kurzem noch für ein gut katalogisiertes Inventar der Vergangenheit hielten. Sie erinnern sich daran, dass sie gelernt hatten, dass der Kapitalismus in sein letztes und höchstes Stadium, in das Stadium des Imperialismus übergangen sei und er als faulender und parasitärer Kapitalismus eine Krise nach der anderen produzieren würde und er deshalb dringend überwunden werden muss. So hören sie es wieder von einer neuen Elite, die vom Hedgefonds-Manager über den Grünen-Politiker aller Farben von gelb bis rot bis hin zum Klimaaktivsten aus oft vermögendem Elternhause reicht. Oder wie es mit anderen Worten im Grundlagenstudium Marxismus/Leninismus allen Studenten in der DDR eingebimst wurde: „Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist: 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus.“[1]
Für Lenin, aber im Grunde für alle Marxisten stand fest, der Kapitalismus ist der Universalschurke der Geschichte, der Verbrecher aller Verbrecher, der dringend zu überwinden oder abzuschaffen ist. Und das ist es, was über alle Kanäle von früh bis spät Insonderheit auf das deutsche Volk niederprasselt, was fast alle Medien, viele Politiker und professorale Beamte in unterschiedlicher Wortwahl und Diktion verkünden. Schon fragt der SPIEGEL in einer mehr poppigen, als tiefsinnigen Titelgeschichte: „Hatte Marx doch recht?“
Auf dem Titelbild erblickt man dementsprechend einen Marx in grünem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, damit man die vielen Tätowierungen auf den selbstgewiss verschränkten Armen bewundern kann. Ins Auge springt die schwarze tätowierte Schrift auf dem natürlich linken Unterarm, die auf Marxens Hauptwerk „Das Kapital“ hinweist. Damit noch nicht genug der maoistisch anmutenden Bildersprache, denn Marx trägt nicht nur ein grünes Hemd, sondern auch einen There-is-no-Planet-B-Bottom – und für den Begriffsstutzigen, der die neue Weltrettungsidee mit Namen „Klimaschutz“ oder für die Gebildeteren unter den Lesern „Klimaneutralität“ immer noch nicht begriffen hat, trägt Karl Marx ein Goldkettchen um den Hals mit einem silbernen Anhänger, statt eines Kreuzes ein Windrad. Und da man die Rotorblätter auch als Kreuz verstehen kann, dürfte die Redaktion vor lauter religiöser Subtilität selig in Betrachtung des Titelbildes alle Klimaengel singen gehört haben: Jauchzet, frohlocket, ihr Windräder all“. Der online-Leser wird zudem durch einen Bonus beglückt, denn in der digitalen Version erlebt man einen animierten Marx, der die linke Augenbraue hochzieht. Freilich verleiht ihm das ein leicht benebeltes Aussehen, doch von so viel Religiosität kann man durchaus high werden. Hatte nicht Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie munter formuliert: „Die Religion…ist das Opium des Volkes“, und auch hierin lag Karl Marx mit einer winzigen Korrektur aus heutiger Sicht richtig, denn, wenn man etwas ergänzen darf: Die Klimareligion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Cannabis des Volkes.[2]
Nimmt man den SPIEGEL-Titel ernst, so lautet die Botschaft, dass Marx und der Marxismus grün und klimaideologisch aufgehübscht zurückkehren, denn so pfeifen es die Journalisten aus den Redaktionsstuben und die Professoren von den Kathedern, dass Marx eben doch recht hatte. Man könnte angesichts der so neuen, wie erstaunlichen Allianz geradezu den Anfang des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels dahingehend paraphrasieren: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kapitalismus. Alle Mächte des alten Westens haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und das Weltwirtschaftsforum, Robert Habeck und Annalena Baerbock, der Hedgefonds-Milliardär Ray Dalio und die EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen, US-amerikanische Stiftungen und deutsche Publizisten. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als rechts, als populistisch, als antidemokratisch und verschwörungstheoretisch verschrien worden wäre…[3]
Doch ganz so einfach ist es nicht, nicht einmal so einfach, wie es sich der SPIEGEL vorstellt. Schon Karl Marx schrieb im 18. Brumaire des Louis Bonaparte die bestechend feuilletonistische Schnurre: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Eine verführerische Wahrheit steckt da drin: nach der Tragödie des realexistierenden Sozialismus der grüne Sozialismus als Farce. Doch weiter im Zitat: „Caussidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848-1851 für die Montagne von 1793-1795, der Neffe für den Onkel. Und dieselbe Karikatur in den Umständen, unter denen die zweite Auflage des achtzehnten Brumaire herausgegeben wird!“ Dieselbe Karikatur, wie übrigens Marx auf der Titelseite des SPIEGELs. Doch schließlich und weiter: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“[4] Und in dieser „erborgten Sprache“ sagte Angela Merkel in Davos wie eine eifrige Studentin im Grundlagenstudium des Marxismus/Leninismus: „Aber, meine Damen und Herren, das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen …“[5]
Die technokratische Formulierung „neue Wertschöpfungsformen“ meint konkret die Erschaffung einer anderen, einer neuen Gesellschaft, denn neue „Wertschöpfungsformen“ bedeuten in der Vorstellung der politischen Ökonomie in der Konsequenz eine neue Produktionsweise – und Gesellschaften definieren sich nach ihren Produktionsweisen. Fußen sie beispielsweise auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, auf dem freien Markt und dem freien Unternehmertum, das vom Privateigentum an den Produktionsmitteln bedingt und von der Freiheit des Marktes ermöglicht wird, nennen wir sie kapitalistisch.
Die Frage lautet, die heute nicht mehr nur gestellt, sondern durchaus sozialistisch beantwortet wird, erfüllt der Staat seine Aufgabe, in dem er ordnungspolitisch den freien Markt ermöglicht oder sieht sich der Staat als wirtschaftlicher Akteur, der mittels Subventionen und Interventionen neue Märkte und neue Wertschöpfungsketten und damit letztlich neue „Wertschöpfungsformen“ schafft.
Es wird allerdings keine politische Freiheit für die Bürger geben, wenn sie keine wirtschaftliche Freiheit besitzen, denn nur ein wirtschaftlich freier Bürger kann auch ein politisch freier Bürger sein. Der Zusammenhang liegt klar auf der Hand. Daran wird nun in einer Sprache, die nur für wenige Jahre nach 1990 peinlich war, Hand angelegt, wenn Greta Thunberg bei der Vorstellung ihres Readers Digest munter erzählt: „Den kapitalistischen Konsumismus und die Marktwirtschaft als dominierenden Verwalter der einzigen bekannten Zivilisation im Universum zu belassen, wird höchstwahrscheinlich im Rückblick als eine schreckliche Idee erscheinen.“, denn dieses System ist: „definiert durch Kolonialismus, Imperialismus, Unterdrückung und Völkermord vom so genannten globalen Norden zur Anhäufung von Wohlstand, das immer noch unsere gegenwärtige Weltordnung bestimmt.“ Und die daraus resultierende „Nachhaltigkeitskrise“ habe ihre „Wurzeln in rassistischem, unterdrückerischem Extraktivismus, der Menschen und den Planeten ausbeute, um kurzfristigen Profit für wenige Glückliche zu maximieren“.[6] Nicht nur weil Greta Thunberg das Poster Girl eines einflussreichen gesellschaftlichen Komplexes, des Klima-Komplexes aus Klima-Industrie und vornehmlich amerikanischer Finanzindustrie, ist, sondern weil wir in der Tat vor großen Umbrüchen unserer Gesellschaft – Niedergang und Untergang nicht ausgeschlossen – stehen, ist es notwendig von den subjektiv agierenden Akteuren und ihren Zielen weg zunächst die Aufmerksamkeit auf die objektiven Entwicklungen zu richten, um sich eines Verständnisses dessen zu nähern, was eigentlich vorgeht.
II.
Grundsätzlich befindet sich die Welt in einem epochalen Umbruch, eine neue Weltordnung entsteht. Ob Europa, ob Deutschland in dieser neuen Weltordnung noch eine Rolle und wenn ja welche spielt, entscheidet sich gegenwärtig. Die Entwicklung ist jedoch, auch wenn die Akteure der Neuen Herrschaft das behaupten, nicht alternativlos. Diesen epochalen Umbruch, der in seiner Radikalität und in seiner Dimension mit dem Wechsel von der Spätantike zum Mittelalter und vom Spätmittelalter zur Neuzeit verglichen werden kann, nenne ich Paradigmenwechsel.
Die Besonderheit des Paradigmenwechsel besteht nun darin, dass die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Kräfte auf diesen Vorgang bewusst oder unbewusst auf jeden Fall aber subjektiv reagieren. Mit anderen Worten, der Veränderungsdruck ist objektiv gegeben, die Schlussfolgerungen, die Vorschläge und Maßnahmen sind subjektiv, abhängig von den Zielen, Interessen, Einsichten und Absichten der einzelnen.
Das macht bspw. die Schwäche der konservativen Position aus, dort bewahren zu wollen, wo nur bewahrt werden kann, wenn man das Bewahrenswerte als Bewahrensnotwendiges nicht in seiner zukünftigen Potenz erkennt, und zudem sich mit der Vorstellung, den Fortschritt in menschlich erträglichen Formen und menschenmöglicher Geschwindigkeit zu gestalten in die babylonische Gefangenschaft derer begibt, zu deren Brot und Butter Geschäft es gehört, stets und ständig den Fortschritt inhaltlich abhängig von ihrer Ideologie zu definieren. Bei näherem Hinsehen stellt sich schon die Frage, ob das Konzept der sogenannten Erneuerbaren Energien wirklich fortschrittlich oder reaktionär ist, ob das Konzept der klimaneutralen Gesellschaft nicht im Grunde das Konzept einer ökologistischen Kommandowirtschaft ist, also Marx in grünem Hemd?
Wendet man den Begriff des Paradigmas als Beschreibung einer Gesellschaftsepoche oder Gesellschaftsformation, ganz allgemein für einen längeren Zeitabschnitt in der Geschichte der Menschen an, um Konstanz und Veränderung zu beschreiben, dann umfasst ein Paradigma die grundsätzlich allen Menschen gemeinsamen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Welt und der Gesellschaft, der verbindlichen Normen und Werte, der Akzeptanz der Legitimität, der Glaubensinhalte und letztlich, was oft vergessen wird, einer gemeinsamen Ontologie, die ihre Ausprägung in einer speziellen Vorstellung von Subjekt und Objekt findet.
Der aktuelle Paradigmenwechsel wird durch drei gesellschaftliche Megatrends ausgelöst:
- Erstens führte der Zusammenbruch des Kommunismus und der Siegeszug der Globalisierung dazu, dass in der Tat eine Welt entstand, in der sich niemand separieren kann, sondern sich alle in einem universellen und facettenreichen Abhängigkeitsverhältnis voneinander befinden. Wahrscheinlich trug der wirtschaftliche Druck, der durch dieses universelle und facettenreiche Abhängigkeitsverhältnis voneinander ausgelöst wurde, zum Zusammenbruch des Kommunismus bei.
- Zweitens verändert die Digitalisierung die Kommunikation und vor allem unser Weltbild, im wahrsten Sinne unsere Weltanschauung. Google Earth zum Beispiel ermöglicht uns, jeden Ort der Erde auf unserem Bildschirm anzuschauen. Die Welt wird durch eine virtuelle Welt verdoppelt, die erstmals fünfdimensional ist, zu den drei Dimensionen des Raumes treten die Dimension der Zeit und die Dimension der eigenen Aktion, der Interaktion, denn wir werden durch unsere Interaktion Angehörige der virtuellen Welt. Die virtuelle Welt wird immer realer Welt immer virtueller. Die Menschen entwickeln sich zu Spielern ihrer Wirklichkeit, das Computerspiel stellt so gesehen einen Sonderfall des Spiels der Wirklichkeit dar.
Ich möchte die hübsche Parallelität erwähnen, dass die Kernkompetenz des Renaissancemagier, eines Wundermannes wie Dr. Johann Faust zum Beispiel im ausgehenden Mittelalter in der „Kommunikation über weite Entfernungen, blitzschnelle Fortbewegung, Reisen durch Raum und Zeit“[7] bestand. So sind wir alle inzwischen zu Magiern geworden, doch bisweilen eher zu Zauberlehrlingen denn Zauberern.
Gleichzeitig wächst die Verunsicherung. Wir verfügen immer weniger über ererbtes Wissen, auch Alltagswissen, weshalb wir Ratgeber und alle möglichen Online-Assistenten benötigen, um durch unseren Alltag zu manövrieren. War der Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit durch den Siegeszug der Wissensgesellschaft und des Buches, des Schriftmediums geprägt, so kehrt die Macht der Bilder, der Icons zurück. Die Möglichkeiten und die Geschwindigkeit der Wirklichkeit verunsichern den Menschen, eine Verunsicherung, die in der säkularen Gesellschaft nicht mehr durch die Religion aufgefangen werden kann. So wird der Mensch allmächtig ohnmächtig und ohnmächtig allmächtig, er kann alles und nichts zugleich. Maschinen und Systeme künstlicher Intelligenz nehmen ihm immer mehr Tätigkeiten im praktischen wie im theoretischen Bereich ab. Der Paradigmenwechsel verunsichert den Menschen zutiefst. Das Problem liegt darin, dass von der Neuen Herrschaft ein Orientierungssystem gecancelt wird, ohne dass ein neues, eines, dass genau diesem Paradigmenwechsel Rechnung trägt, geschaffen wird. Die alten Ideologien des Marxismus und des Linksliberalismus, die aufgehübscht als Postkolonialismus, Identitätspolitik, Genderismus, Feminismus und Antirassismus wiederkehren, sind es jedenfalls nicht. Ihre Subjekte, die zu Unterdrückten erklärten Gruppen wie Frauen, Homosexuelle, People of Color stellen nur den Ersatz für die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt dar.
- Die dritte Veränderung betrifft die explosive Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die den Menschen in Regionen vorstoßen lässt, die zuvor Gott vorbehalten waren. Dadurch entsteht der Widerspruch zwischen den wissenschaftlich-technischen Fertigkeiten und den ethischen Fähigkeiten des Menschen, der in die Frage mündet, ob der Mensch das, was er tut, auch verantworten kann? In Ansehung der Apparatemedizin steht dringend die Frage an, wann Leben beginnt und wann es endet, wer entscheiden darf, wann die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden, wann der Stecker gezogen wird. Die Aufrechterhaltung biologischer Funktion bedeutet nicht unbedingt Lebenserhaltung. Die Erfolge in der Medizin, aber auch in der Ernährung führen zur Überbevölkerung. Bisher verdrängt die Gesellschaft die Fragen von Krankheit, Siechtum und Tod. Die nun sehr alten oder sehr kranken Menschen werden abgeschoben, separiert, drohen auch zu vereinsamen. In der Pandemie wurde das besonders deutlich – deutlich aber auch, wie von politisch interessierten Kreisen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit gegeneinander ausgespielt wurde, mit dem Erfolg, dass angesichts der wie auch immer zu definierenden Sicherheit, des wie auch immer zu definierenden Notstandes, meinetwegen auch Staatsnotstandes die bürgerliche Freiheit als nachrangig, als zweitrangig, abhängig von behaupteten Erfordernissen begriffen und leider auch behandelt wurde. Im Ergebnis wurde das Grundgesetz als Abwehrrecht der Bürger gegen den übergriffigen Staat seiner Funktion beraubt. Übrigens: Übergriffigkeit ist keine Entgleisung des Staates, sondern seine Natur, deshalb wurden starke Freiheitsprärogative des Bürgers im Grundgesetz vorgesehen.
Zu den Indikatoren des Paradigmenwechsel gehören:
- Seit den Achtzigerjahren vollzieht sich eine dramatische Verschiebung der Bedeutung von der Real- zur Finanzwirtschaft. Damit einher gehen zwei Phänomene, die sich gegenseitig potenzieren. Zum einen konzentriert sich das Kapital in immer weniger Händen, zum anderen wachsen große ererbte Vermögen schneller als erarbeitete Vermögen. Letzteres ist zwar nichts Neues, doch steigen in der globalisierten Welt die Anlagemöglichkeiten, die Gelegenheiten, durch Investitionen und »Finanzprodukte« Gewinne zu generieren, die im gleichen Maße durch die Produktion nicht zu erzielen sind. Die durch die Globalisierung gestiegenen Möglichkeiten großer Vermögen, märchenhafte Renditen allein „aufgrund des schieren Faktums“ ihrer „Größe“ zu erwirtschaften führt zur Konzentration des Vermögens der Welt in den Händen immer weniger Menschen. Das Wachstum der Vermögen aus „schierer“ Größe gefährdet immer stärker Demokratie und Freiheit, weil sich diese Vermögen dank der Steueroasen aus der sozialen Verantwortung entlassen und nicht mehr zur Finanzierung des Sozialstaates beitragen. Es überrascht nicht, dass aus der Perspektive der Besitzer großer Vermögen und aus dem Blickwinkel der für sie tätigen großen Anlagefirmen oder Vermögensverwalter wie Black Rock, die global agierenden Staaten überflüssig sind. Deshalb unterstützen sie gern die No-Border-Ideologie der Linksliberalen. Die Theorie der postnationalen Staaten versteckt diese Tatsache hinter einem hübschen Schein.
- Linke, Linksliberale – aus ideologischen Gründen – und Ultraliberale – aus wirtschaftlichen Interessen – verbindet die Vorstellung einer Welt ohne Grenzen, das Konzept postnationaler Staaten, die Auflösung der Nationalstaaten. Allerdings übersehen die Linken dabei, dass die Voraussetzung für den Sozialstaat wiederum der Nationalstaat ist. Was die Linken und Linksliberalen nicht auf der Rechnung haben: Mit der Überwindung des Nationalstaates vermag sich das Kapital vollends der sozialen Verantwortung zu entziehen. Im Abstreifen jeglicher sozialer Verpflichtungen liegt für die Ultraliberalen der Charme der Ideologie der „offenen Grenzen“, in einem Konzept, in dem die Linken und auch die Linksliberalen also ihre frühere Klientel verraten, die dringend eines starken Sozialstaates bedarf.
- Die Linken und Linksliberalen haben längst die konkreten sozial Schwachen der eigenen Bevölkerung in der totalitären Klimaideologie gegen die abstrakt Bedürftigen dieser Welt eingetauscht. Und das betrifft nicht nur die sozial Schwachen. Die Linken und die Linksliberalen haben sich auch von den Arbeitnehmern, von den Angehörigen der freien Berufe, den Handwerkern und den Mittelständlern, den Familien abgewandt. Sie sind nun zuständig für die Welt, nicht mehr für die eigene Bevölkerung. Sie agieren in „planetarischen Grenzen“, betreiben wie Annalena Baerbock statt einer deutschen Außenpolitik, die den Interessen der deutschen Bürger dient, eine Weltinnenpolitik, ganz gleich, was ihre deutschen Wähler davon halten, mit anderen Worten, ob es im Interesse der deutschen Bürger steht oder nicht.
- Die an sich notwendige Digitalisierung voranzutreiben, entwickelt sich auf falschem Weg. Längst sind Social-Media-Firmen nicht mehr politisch neutrale, rein wirtschaftliche Dienstleister, sondern sie verfolgen eine eigene politische Agenda, die wirtschaftlich von dem Ziel getrieben wird, Oligopole zu bilden.
- Die Schaffung großer Strukturen in der Politik und in der Gesellschaft wie in der EU löst das Prinzip der Subsidiarität auf, befördert oligarchische Strukturen, die zur Zerrüttung der Demokratie führen. Ferne Technokraten entscheiden über das Wohl und Wehe der Bürger der Mitgliedsländer der EU, während die nationalen Parlamente zu Scheinveranstaltungen, zur Folklore zu werden drohen.
- Während die Digitalwirtschaft durch die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen einen Überwachungsimperialismus schafft, erzeugt die Finanzwirtschaft, um einem Wort des britischen Historikers Niall Ferguson zu folgen, eine neue Schuldknechtschaft und neue wirtschaftliche Abhängigkeiten in feudalistischem Maßstab. Die durch Präsident Bill Clinton angestoßene lockere Finanzierung von Immobilien in den USA führte zur Weltfinanzkrise 2007/08. Auch wenn Ferguson, David Kennedy und Joseph Stieglitz auf Gesetze verweisen, die „Finanzinstituten gestatten, räuberische Kreditgeschäfte zu betreiben“, und überdies das neue Insolvenzrecht in den USA dafür verantwortlich machen, „eine neue Schicht von teilweise in Schuldknechtschaft lebenden Menschen geschaffen“ zu haben – „Menschen, die für den Rest ihres Lebens womöglich bis zu 25 % ihres Verdienstes an Banken abgeben müssen“[8], bleibt festzuhalten, dass dieser Trend der Verschuldung und Überschuldung auch in Deutschland festzustellen ist. 2019 lasteten durchschnittlich 28 240 Euro Schulden auf jedem deutschen Haushalt, von denen die Deutschen 11 657 Euro ihren Kreditinstituten schulden.[9] Habecks falsche Wirtschaftspolitik verschärft die Inflation, die hohen Energiepreise, die gigantische Staatsverschuldung, die De-Industrialisierung und die Zerstörung von Lieferketten.
- Es scheint, dass internationale Firmenkonsortien, sogenannte Global Player, mit ihrem totalitären Interesse der Ausbeutung aller Menschen neue Imperien bilden und die Staaten sich zu outgesourcten Repressionsapparaten dieser internationalen Firmenkonsortien, der Digitalfirmen und der Hochfinanz entwickeln. Schließlich geraten, schaut man sich die Entwicklung der Schulden an, die Staaten in die Abhängigkeit von Staatsfinanzierern, aber auch von Investoren, die in die Wirtschaft des Landes investieren, oder von großen Konzernen, die einen bedeutenden Teil der Wirtschaftsleistung des Landes hervorbringen, die Arbeitsplätze schaffen. Der Rückzug der Investoren aus einem Land führt zu Wirtschaftskrisen. Investoren und Konzerne halten dadurch sehr wirkungsvolle Druckmittel gegen Regierungen in der Hand.
Nach der Weltfinanzkrise 2008/2009 entdeckte die Wall Street eine neue Blase, nach dem der Immobilienhandel im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Blase geplatzt war, die schöne grüne Welt der Erneuerbaren Energien, die Möglichkeit, am Umbau ganzer Volkswirtschaften zu verdienen, in die größte Blase der Geschichte der Menschheit zu investieren, um die größte Umverteilung von Vermögen in der Menschheitsgeschichte ins Werk zu setzen. Darin besteht jenseits aller hübschen Floskeln und perfekten Marketings das wirtschaftliche Interesse an der Großen Transformation.
Das weitgefasste Konzept der Großen Transformation stellt eine Reaktion auf den sich vollziehenden Paradigmenwechsle dar, nicht die einzige, auch wenn er vom Klima-Komplex als alternativlos dargestellt wird. Höchste Zeit also zu fragen, was die von Merkel in Davos angekündigte Große Transformation eigentlich ist, die der Gründer Weltwirtschaftsforum Klaus Schwab Great Reset nennt.
1.
Das Spektrum der Vorstellungen, die sich mit dem Begriff der Großen Transformation verbinden, ist breit, es reicht von der „Reform“ des Kapitalismus bis zu seiner Abschaffung. So sagte Luisa M. Neubauer in einem Interview mit der taz: „Menschen, die sich mit der Klimafrage beschäftigen, stellen irgendwann auch die kapitalistische Wirtschaftsweise infrage.“[10] Und im Gespräch mit dem ZDF Magazin aspekte konkretisierte sie ihre Position: „Yo, bis jetzt hat das niemand irgendwie umsetzen können, das beweisen können, dass das geht. Ich finde es krass, dass man anscheinend annimmt, dass es nur in einem kapitalistischen System so etwas wie Innovationsgeist gibt. Auch da denke ich, so he, das klingt ein bisschen nach einer Art 20.-Jahrhundert-Trauma, dass man damals gedacht hat, wouwouwou, das geht nicht, jetzt kann es auch nicht gehen. Ich frage mich da, wo wir da innovativ werden, wenn es darum geht, Wirtschaftssysteme zu erdenken, die vereinbar sind mit Paris und innerhalb unserer planetaren Grenzen funktionieren können. Denn daran ist der Kapitalismus bisher gescheitert.“[11] Klaus Schwab, der als Erz-Kapitalist und Wirtschaftsliberaler gilt, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, stößt im Grunde ins gleiche Horn: „Der Great Reset wird von uns verlangen, alle Stakeholder der globalen Gesellschaft in eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, Zielen und Handlungen zu integrieren.“[12]
Verantwortung und Gemeinwohl statt privater Egoismus klingt erst einmal gut, doch der Klang ist von Sirenen, er soll uns nicht irritieren dürfen. In „Covid 19. Der große Umbruch“ schreibt Klaus Schwab zusammen mit Thierry Malleret: „Viele von uns fragen sich, wann sich die Dinge wieder normalisieren werden. Die kurze Antwort lautet: niemals. Nichts wird jemals wieder so sein wie zuvor. Die Normalität in dem Sinne, wie wir sie kannten, ist zu Bruch gegangen und die Coronavirus-Pandemie stellt einen grundlegenden Wendepunkt auf unserem globalen Kurs dar. Einige Analysten sprechen von einem Scheideweg, andere von einer tiefen Krise »biblischen« Ausmaßes, das Ergebnis ist jedoch gleich: Die Welt, wie wir sie in den ersten Monaten des Jahres 2020 kannten, gibt es nicht mehr, sie hat sich im Kontext der Pandemie aufgelöst.“[13]
Auch hier handelt es wieder um die ganz große Veränderung, darum, die Gesellschaft völlig umzubauen, um das Armageddon, um den Weltuntergang, darum, aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen. Klaus Schwab fährt fort: „Wir brauchen ein Umdenken, den Übergang vom kurzfristigen zum langfristigen Denken, den Übergang vom Aktionärskapitalismus zur Verantwortung der Stakeholder. Ökologische, soziale und Good Governance müssen ein angemessener Teil der Rechenschaftspflicht von Unternehmen und Regierungen darstellen.“[14]
Die Rechenschaftspflicht der Unternehmen auszuweiten, ist nichts anderes als Bürokratieausbau – und als solcher ein Wettbewerbsnachteil für kleine und mittlere Betriebe, die nicht über große Verwaltungseinheiten verfügen, um immer absurderen Rechenschaftspflichten nachzukommen. Es wäre der Übergang von der Demokratie zur Bürokratie. Klaus Schwab will nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag schließen. Schließlich habe „die globale Gesundheitskrise … die fehlende Nachhaltigkeit unseres alten Systems in Bezug auf den sozialen Zusammenhalt, den Mangel an Chancengleichheit und Inklusivität offengelegt.“[15] Auch Wolfgang Schäuble meint, dass wir es mit dem Kapitalismus etwas übertrieben hätten.[16] In dem Spielfilm „Wall Street 2 – Money Never Sleeps“ von 2010 über die Weltfinanzkrise von 2008/2009 sagt der Spekulant Gordon Gecko, dass Grün die neue Blase ist, in die man finanzieren muss. Denn die Hochfinanzindustrie verdient nur, wenn sie eben in Blasen finanziert. Die ganze Kunstfertigkeit besteht wie beim Pilotenspiel nur darin, rechtzeitig aus der Blase auszusteigen, mit all dem Geld, das man verdient hat, und den anderen den Krach, den Bankrott zu überlassen.
Die Philosophin Nancy Fraser hat diese neue Herrschaft, diese Neuen Eliten, den Klima-Komplex von marxistischer Seite so beschrieben: „In jedem Fall verbündeten sich die hegemonialen Strömungen emanzipatorischer Bewegungen (wie Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ-Rechte) … mit neoliberalen Kräften, die darauf abzielten, die kapitalistische Wirtschaft zu finanzialisieren, insbesondere die dynamischsten, zukunftsorientierten und globalisierten Kapitalsektoren (wie Hollywood, IT und die Finanz) … In diesem Fall benutzten die Sektoren des ›kognitiven Kapitalismus‹ Ideale wie Vielfalt und Ermächtigung, um eine Politik aufzuhübschen, die die Industrieproduktion und das einstige Leben der Mittelschicht verwüstete … sie benutzte das Charisma ihrer progressiven Bündnispartner, um eine Fassade der Emanzipation über ihrem eigenen regressiven Projekt der massiven Umverteilung nach oben auszubreiten.“ Wie dieses Bündnis in der Praxis funktionieren kann, dazu unterbreiten Klaus Schwab und dessen Co-Autor Thierry Malleret einen Vorschlag in dem Buch „The Great Reset“: „Eine Gruppe grüner Aktivisten könnte vor einem Kohlekraftwerk demonstrieren, um eine strikte Durchsetzung der Umweltbestimmungen zu fordern, während eine Gruppe von Investoren im Sitzungssaal dasselbe tut, indem sie dem Werk den Zugang zu Kapital entzieht.“ Wer die Zeche des Klima-Komplexes bezahlt, dürfte evident sein: wir, die Bürger, deren Interessen politisch nicht mehr vertreten werden, weil das neue Establishment, das neue Bündnis einen Pakt geschlossen hat, eine mächtige Koalition aus „emanzipatorischen Bewegungen“, Grünen, Hochfinanz, Digital-, Medien- und Kulturindustrie. So bleibt mit Nancy Fraser nur zu konstatieren, dass genau diese „Strömungen emanzipatorischer Bewegungen in einen direkten Gegensatz zu Menschen“, zu „Verfechtern altmodischer Familienwerte und Lebenswelten“ stehen, die aber doch die wichtigsten Verbündeten der Linken sein sollten und könnten.
Es fällt zwar schwer zu verstehen, aber es ist so: Prinz John, der Sheriff von Nottingham und Robin Hood haben ein informelles Bündnis geschlossen und machen gemeinsame Sache: Ihr Projekt firmiert unter den Begriffen: klimaneutrale Gesellschaft, Stakeholder Kapitalismus, grüner Kapitalismus, Great Reset oder Große Transformation.
IV.
Das Konzept der Großen Transformation stammt von dem österreichisch-ungarischen Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi, das er in dem 1944 publizierten Buch „The Great Transformation“ entwickelt hat. Bis in die achtziger Jahre hinein fristete diese Theorie eine bescheidene Existenz auf dem Hinterhof der Unentwegten der antikapitalistischen Linken. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 und dem Sieg des liberalen Projekts schien Polanyis Theorie, vollständig obsolet zu sein. Doch seit den 2000-er Jahren steigt sie wie Phönix aus der Asche.
Polanyis Grundidee besteht darin, dass durch die Einhegung im ausgehenden 15. Jahrhundert in England ein Prozess in Gang gekommen ist, der die Güter: Arbeit, Geld und Boden zu Waren, genauer zu fiktiven Waren gemacht habe. Doch weder die Arbeit, noch der Boden werden hergestellt und weil sie erstens nicht hergestellt werden, können sie laut Polanyi keine Waren sein, und zweitens kann man sie, da sie nicht hergestellt worden sind, bepreisen. Der Mensch, der in der Ware Arbeitskraft verdinglicht wird, wird laut Polanyi entfremdet, alles, was ihn ausmacht, spielt keine Rolle. Der Markt schneidet alles andere ab und reduziert den Menschen auf seine Wareneigenschaft. Das Motiv des Lebensunterhalts wird durch das Motiv des Gewinnstrebens ersetzt. Karl Polanyi schreibt: „Die Marktform hingegen, die mit einer eigenen, spezifischen Zielsetzung verbunden ist, nämlich Austausch, Tauschhandel ist imstande, eine spezifische Institution hervorzubringen: den Markt. Die ist letztlich der Grund, warum die Beherrschung des Wirtschaftssystems durch den Markt von ungeheurer Bedeutung für die Gesamtstruktur der Gesellschaft ist: sie bedeutet nicht weniger als die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“[17] Polanyi geht davon aus, dass die Vorstellung von den sich selbstregulierenden Märkten automatisch dazu führt, dass staatliche Interventionen ausgeschlossen werden und durch die Unterwerfung des Menschen, die Einspeisung des Menschen in den Markt, indem dessen Arbeitskraft, die er gezwungen ist, auf dem Markt anzubieten, zur Ware wird, die Gesellschaft zum Teilbereich der Wirtschaft degeneriert. Die große Transformation besteht für Karl Polanyi in dem Prozess, in dem die Politik ihr Primat gegenüber der Wirtschaft verliert und zum Anhängsel der Wirtschaft wird, vielleicht sogar zum Reparaturkasten der Kollateralschäden der sich selbstregulierenden Märkte.
Der Wirtschaftswissenschaftler bestreitet die Notwendigkeit selbstregulierender Märkte, indem er deren anthropologische Begründung, die Adam Smith formulierte, verneint, nämlich die These, dass der Mensch ein natürliches Interesse an Tausch und Austausch hat. Für ihn ist der selbstregulierte Markt eine Utopie.
Er beschreibt eine Doppelbewegung, die darin besteht, dass immer dann, wenn der Markt sich durchgesetzt hat, die gesellschaftliche Katastrophe nur dadurch vermieden wurde, dass Regierungen oder starke gesellschaftliche Gruppen zugunsten der Arbeitnehmer eingegriffen und Sozialgesetze erlassen haben. Deshalb fordert er die Herstellung des Vorrangs der Gesellschaft vor der Wirtschaft, die Wirtschaft muss wieder der Gesellschaft, der Politik unterworfen werden.
Indem aber Polanyi das Eigentum einschränken will, schränkt er die Freiheit ein, sie wird zum freischwebenden Ballon. Deshalb will Polanyi die Freiheit zur Funktion der Gerechtigkeit machen, dadurch aber wird die Freiheit unfrei. Das kümmert Polanyi nicht, denn er will doktrinär keine Freiheit auf Kosten der Gerechtigkeit zulassen. „Das ergebene Ertragen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt dem Menschen den unbezwinglichen Mut und die Kraft, alle Ungerechtigkeit und Unfreiheit, die sich beseitigen lassen, zu beseitigen. Solange er sich seiner Aufgabe, mehr Freiheit für alle zu schaffen, widmet, braucht er nicht zu befürchten, dass sich Macht oder Planung gegen ihn wenden und die Freiheit, die er mittels ihrer erreicht, zerstören werden.“[18] Hier wird Polanyi deutlicher als er will – und darin steckt die stupende Illiberalität der Linksliberalen: Solange der Mensch die Aufgaben löst, die ihm von „Macht oder Planung“ zugeteilt werden, hat er von der „Macht oder Planung“ nicht zu befürchten. Ein Ursache für diese totalitäre Tautologie (ich bin frei, wenn ich freiwillig das tue, was ich soll, um größere, überindividuelle Ziel zu verwirklichen) steckt im grundsätzlichen Verkennen der Freiheit, wenn Polanyi von der „Aufgabe, mehr Freiheit für alle zu schaffen“, spricht, denn die Freiheit kann nicht für alle geschaffen, sondern nur jedem garantiert werden, da sie ein Individualrecht ist und auf der Existenz des Individuum gründet. Eine Gesellschaft wird nicht deshalb frei genannt, weil sie frei ist, sondern weil ihre Mitglieder frei sind – und zwar jeder für sich.
In der Nachfolge von Karl Polanyi, eigentlich von Karl Marx, gehen die Verfechter der Großen Transformation vom Axiom der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus aus. Entzieht man dieses Axiom, bricht die Theorie von der großen Transformation wie ein Kartenhaus zusammen. Als größte Krise wir zur Zeit der Klimawandel bezeichnet. Laut Krisentheorie besteht das Wesen des Kapitalismus darin, dass er beständig Krisen produziert. Auch der Soziologe Wolfgang Streeck konstatiert: „Jeder Sieg über die Krise wurde über kurz oder lang zum Vorspiel einer neuen Krise“[19] Daraus ergibt sich der Kurzschluss, dass man den Kapitalismus beseitigen muss, wenn man Krisen vermeiden und ausrotten möchte. Doch die Frage ist völlig gegenstandslos, wenn man nicht zuvor grundsätzlich erwägt, ob eine gerechte Gesellschaft überhaupt herstellbar ist? Die Feststellung, dass der Kapitalismus beständig Krisen produziert, impliziert deshalb die Frage, ob eine krisenfreie Gesellschaft jemals existiert hat oder ob sie grundsätzlich und konkret zu denken und zu verwirklichen ist. Lässt sich ein innerweltliches Paradies errichten?
Wenn bisher keine menschliche Gesellschaft existierte, die nicht Krisen produzierte, dann stellt die Krisenproduktion des Kapitalismus keine Besonderheit dieser Gesellschaftsform dar, sondern ist eine anthropologische Konstante aller menschlichen Gesellschaften. Dann würde man nur eine krisenerzeugende in die nächste krisenerzeugende Gesellschaft transformieren. Das aber würfe die wirklich interessante Frage auf, welche Gesellschaftsform mit Krisen produktiv umzugehen versteht, in welchen Gesellschaften das „Krisenmanagement“ konstruktiv und in welchen es destruktiv ist.
Der Krisenrhetorik fehlt das Normativ, sie setzt axiomatisch voraus, dass eine krisenfreie Gesellschaft möglich sei, kann aber die krisenfreie Gesellschaft nicht fassen, nicht beschreiben, nicht definieren, ohne ins Utopische oder ins Allgemein-Menschliche auszubüxen, verheddert sich zwischen ökonomischer Analyse und quasireligiöser oder endzeitlicher Sinngebung. Was unter Krise verstanden und missverstanden wird, ist eigentlich das Lebenselement des Kapitalismus, die Selbstoptimierung. Andere Gesellschaftsordnungen gehen an ihren Krisen zugrunde, der Kapitalismus erneuert sich in ihnen.
Man sieht an allem, wie notwendig also das Krisentheorem für die Große Transformation ist, und wie gespenstisch effektiv das dynamischste Element des Krisentheorems, das Konzept der Klimakrise ist.
Die Idee, dass der Staat die Richtung der Wirtschaft zu bestimmen hat, hat Robert Habeck aber nicht von Lenin oder Stalin, auch nicht von Polanyi, sondern von Mariana Mazzucato, einer ungemein einflussreichen Ökonomin, die in Brüssel und in Davos aus- und eingeht: „Entsprechend kann die Rolle des Staates sich nicht darauf beschränken, im Falle ihres Versagens reaktiv Märkte zu reparieren, sondern er muss Märkte explizit mitgestalten, um die Resultate zu erbringen, die die Gesellschaft braucht. Er kann und sollte die Richtung bestimmen, in der die Wirtschaft sich entwickelt; er sollte als „Investor erster Instanz“ fungieren und Risiken übernehmen. Er kann und sollte Märkte so gestalten, dass sie einen Zweck erfüllen.“[20] Der Staat ist für Mazzucato, wie für ihren Schüler Robert Habeck alles: „Nur der Staat hat die Möglichkeit, diesen Wandel im benötigten Maße zu dirigieren; nur er kann die Art und Weise umgestalten, in der wirtschaftliche Organisationen geleitet werden, wie ihre Beziehungen strukturiert sind und in welcher Beziehung die einzelnen Akteure von Wirtschaft und Zivilgesellschaft zueinander stehen.“[21] Das soll der Staat mittels Subventionen erzwingen, mit denen diejenigen belohnt werden, die der Ideologie der Regierung folgen. Es geht darum: „den Zugang zu staatlichen Subventionen,…, davon abhängig (zu) machen, dass Unternehmen bestimmte soziale und ökologische Ziele erfüllen…“[22] Die „sozialen und ökologischen Ziele“ definiert selbstredend der allwissende Staat, der „quer durch die Gesellschaft für katalytische Reaktionen“ sorgen soll, „indem er einen Beitrag dazu leistet, den Wandel auf die gesellschaftlichen Herausforderungen auszurichten, indem er Unternehmen belohnt, die den Willen zur Mitarbeit in diese Richtung an den Tag legen, und indem er die hochriskanten Anfangsinvestitionen aufbringt, welche die Realwirtschaft in der Regel scheut.“[23] Ein Ergebnis dieser gelenkten Ökonomie wird darin bestehen, dass Unternehmen Produkte herstellen, nicht weil sie diese am Markt verkaufen können, sondern, weil Herstellungskosten und Profit schon gesichert sind, noch bevor das Produkt einen Käufer gefunden haben wird.
VI.
Das alles klingt nach Marxismus – und der wird, wie eingangs bemerkt, wieder hoffähig. Die späte Versöhnung von Marx mit der Ökologie, die Ersetzung der Idee des Klassenkampfes durch den Kampf gegen das C0-2 gelang dem Japaner Kohei Saito, der seitdem dafür gefeiert wird, die gesellschaftsverändernden Ideen des Marxismus grün modernisiert zu haben. In seinem über den grünen Klee gelobten Buch „Natur gegen Kapital. Marx´ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“ will Saito darstellen, dass Marx ökologisch gedacht habe, weil für ihn der „Knotenpunkt des „roten“ und „grünen“ Projektes im 21. Jahrhundert darin besteht, die Macht des Kapitals, das alles zur Ware macht, zu beschränken, um das Verhältnis von Mensch und Natur „in eine nachhaltige Gestalt transformieren zu können.“[24] Damit formuliert er von marxistischer Seite und in marxistischen Termini das gleiche, was Habeck und Mazzucato auch vorhaben. Kohei Saito leitet allerdings wenig überzeugend in seinem Buch den Ökosozialismus aus dem Denken von Marx her, den Mazzucato ohne tiefere Begründung praktisch projektiert und den Robert Habeck in Deutschland schrittweise verwirklicht. Unternehmen werden verstaatlicht oder es sollen mit ihnen Klimaverträge geschlossen werden, in denen der Staat sich verpflichtet, Firmen Subventionen zu zahlen, wenn sie klimaneutral produzieren, weil sie ohne diese Subventionen auf klimaneutrale Weise international nicht wettbewerbsfähig wären.
Im Vergleich zu dem, was Habeck und Mazzucato umzusetzen gedenken, müssen wir uns die DDR als freie Gesellschaft und ihre Volkswirtschaft als effizient vorstellen. Freilich, im Vergleich zur DDR ist das Konzept Mariana Mazzucatos jedoch wesentlich glanzvoller: „Die Mission einer grünen Wirtschaft verlangt – und verdient – nichts Geringeres als den Griff nach dem Mond.“[25]
Da aber diese Große Transformation nicht nur von einem breiten informellen Bündnis, das auf der Grundlage von Interessenüberschneidungen funktioniert, vorangetrieben wird, unterstützt von zahllosen Stiftungen, think tanks und NGOs werden die demokratischen Funktionen des Staates immer stärker von NGOs, think tanks, Stiftungen und Beraterfirmen übernommen, von etwas, was auch gern euphemistisch Zivilgesellschaft genannt wird. Vor dem Staat entsteht ein großer Bereich von zivilgesellschaftlichen Organisationen, eben kein tiefer Staat, sondern eine tiefe Gesellschaft, die immer stärker regulierend in das Leben der einzelnen Bürger eingreift. Notwendig ist es daher, dem Entstehen dieser tiefen Gesellschaft, dieses neuen Kollektivismus entgegenzuwirken, in dem wieder die Freiheit des einzelnen, des Bürgers als Souverän in den Mittelpunkt gerückt wird.
Vor uns steht die Entscheidung, ob wir in einer tiefen oder in einer freien Gesellschaft leben wollen.
[1] Lenin, Werke, Bd. 23, S. 102
[2] Vgl MEW Band 1, S. 378
[3] vgl. MEW Band 5, S.
[4] MEW Band 8, 118
[5] https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin- merkel-beim-50-jahrestreffen-des-weltwirtschaftsforums-am-23-januar-2020-in-davos-1715534, aufgerufen am 26.10.2020
[6] zit. n.: https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/knauss-kontert/greta-thunberg-als-sozialrevolutionaerin-und-die-schweden-als-kolonialnation/
[7] Culianu, Ioan P.: Eros und Magie in der Renaissance, Frank- furt am Main und Leipzig 2001, S. 20
[8] Ferguson, Niall: Der Niedergang des Westens. Wie Institutionen zerfallen und Ökonomien sterben, Berlin 2012, S. 114
[9] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Vermoegen-Schul den/Tabellen/durchschnittliche-schulden-privaterpersonen. html;jsessionid=3B8B8E47C0CF0093F69645373B938D58.in ternet8732, aufgerufen am 12.01.2021
[10] https://taz.de/Vor-dem-Klimastreik/!5640907/
[11] https://www.zdf.de/kultur/aspekte/klimastreik-trotz-corona-luisa-neubauer-im-aspekte-gespraech-100.html, aufgerufen am 15.01.2021
[12] http://www3.weforum.org/docs/WEF_The_Great_Reset_AM21_German.pdf
[13] Schwab, Klaus und Malleret, Thierry: Covid 19. Der große
Umbruch, Weltwirtschaftsforum 2020, S. 12
[14] http://www3.weforum.org/docs/WEF_The_Great_Reset_AM21_German.pdf
[15] http://www3.weforum.org/docs/WEF_The_Great_Reset_AM 21_German.pdf
[16] http://www.wolfgang-schaeuble.de/wir-haben-es-mit-dem-kapitalismus-uebertrieben/, aufgerufen am 16.11.2020
[17] Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssysteme, stw 269 2015, S. 88
[18] A.a.aO. S. 344
[19] Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2016, S. 50
[20] Mazzucato, Mariana: Mission. Auf dem Weg zu einer Neuen Wirtschaft, S. 42, Frankfurt am Main 2021
[21] a.a.O S. 45
[22] a.a.O S. 46
[23] a.a.O. S. 88
[24] Saito, Kohei: Natur gegen Kapital. Marx´ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, S. 22, Frankfurt am Main 2016
[25] Mazzucato, Mariana: Mission. Auf dem Weg zu einer Neuen Wirtschaft, S. 173, Frankfurt am Main 2021
Klaus-Rüdiger Mai: Tiefe oder freie Gesellschaft – Der Westen steht vor der Entscheidung (Transkript)