Ist der Mensch gut oder böse? Über politischen Moralismus und die Folgen
Die großen politischen Probleme unserer Zeit können nicht mehr sinnvoll diskutiert werden, weil sie in den Sog eines rigorosen Moralismus hineingeraten sind. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal von der „Gefahr der Entdifferenzierung“ gesprochen. Er hat damit die unheilvolle Tendenz gemeint, dass der moderne Staat dazu neigt, Unterscheidungen aufzugeben, die für die Neuzeit bestimmend sind – vor allem die Unterscheidung zwischen Politik und Moral. Und deshalb haben wir es heute mit einer grenzenlosen Politisierung aller Lebensverhältnisse zu tun.
Aber auch die Protestbewegungen richten sich gegen das Grundprinzip der modernen Gesellschaft, nämlich gegen die Autonomie und Eigenlogik von Wirtschaft und Politik, Recht und Wissenschaft, Religion und Kunst. Dass diese sozialen Systeme einer je eigenen Logik folgen, ist das Resultat einer gesellschaftlichen Evolution, die um 1500 einsetzt. Sie ist zunächst nur kritisch wahrgenommen worden, etwa unter Titeln wie „Entzweiung“ oder „Entfremdung“.
Dagegen vollzieht sich dieser Prozess der Entdifferenzierung heute im Medium des Moralismus. Das heißt, die politischen Probleme werden nicht politisch, sondern moralisch beurteilt. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, ist ein Blick in die Geschichte des Staates hilfreich. Und dabei zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der gerade geschilderten Unterscheidung der einzelnen sozialen Systeme und der Entmoralisierung des Politischen zu Beginn der Neuzeit. Und dem entspricht heute die genau entgegengesetzte Tendenz: Zum einen werden die Grenzen zwischen Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Religion verwischt; zum anderen beobachten wir eine zunehmende Re-Moralisierung der Politik. Sehen wir näher zu.
Seit 2500 Jahren wird die westliche Welt durch ein heftiges Oszillieren zwischen Politik und Antipolitik geprägt. Wir erinnern hier nur an die wichtigsten Zäsuren und Umschlagpunkte. Die antike Polis ist noch die Stadt, die der Bürger nicht nur bewohnt, sondern ist. Das Wesen des Menschen ist öffentlich, er ist ein von Natur aus politisches Lebewesen, dessen höchstes Gut im Wohlergehen seiner Stadt liegt. Das ist eine Welt des Wettkampfs, des Sieges und des stolzen Könnensbewusstseins.
Die christliche Umwertung dieser Werte durch Paulus konnte gar nicht radikaler sein. Der antike Grieche konnte das Christentum nur als Verweichlichung und Verweiblichung der Kultur empfinden. Das Eine, das nun Not tut, ist das Seelenheil, das man nur im Glauben findet. Und in ihrer radikalen Urform propagiert diese Umwertung der antiken Werte ein Reich, das nicht von dieser Welt ist.
Das Ausbleiben der triumphalen Wiederkehr Christi, hat dann die Kirche als Machtform ins Leben gerufen. Und nun beginnt der jahrhundertelange Kampf zwischen kirchlicher und weltlicher Macht, also Kaiser und Papst. Beide Seiten bedienen sich dabei auch der Waffen des Gegners; so verweltlicht die Politik theologische Konzepte, und die Kirche betätigt sich politisch als indirekte Gewalt. Das ist das große Gebiet der sogenannten politischen Theologie.
Erst Niccolò Machiavelli hat dann in der Renaissance mit der antiken und christlichen Tradition gebrochen. Er steht für die Selbstbehauptung des Politischen, die für die Neuzeit bestimmend ist. Das heißt, das Politische emanzipiert sich von der Religion und ist von nun an jenseits von Gut und Böse. Hier kann dann die Lehre von der Staatsraison anknüpfen, die sehr nüchtern das Machtstreben des Politischen ins Zentrum aller Überlegungen stellt. Für Machiavelli gibt es nichts, was über der Politik stehen könnte. Er verzichtet also auf den philosophischen Weg zur Wahrheit. Gerade damit aber gelingt ihm der entscheidende Schlag gegen den politischen Moralismus.
Die Emanzipation der Politik von der Moral hat dann auch die Konstruktion des modernen Staates ermöglicht. Doch obwohl Machiavelli den modernen Begriff des Politischen entwickelt, schafft er es noch nicht, den Rahmen eines traditionellen Fürstenspiegels zu sprengen und zu einer Theorie des modernen Staates durchzudringen. Das gelingt erst Thomas Hobbes. Sein Buchtitel Leviathan ist zum mythischen Namen für die große Maschine des modernen Staates geworden.
Entscheidend für die Wendung zum modernen Staat ist die Orientierung nicht mehr am höchsten Gut, sondern am größten Übel, nämlich dem gewaltsamen Tod, der jedem von jedem droht. Der größte Philosoph des deutschen Idealismus, Hegel, wird das “die Furcht des Todes, des absoluten Herrn” nennen. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine völlig neue Form von Rationalität, die für die Neuzeit bestimmend wird. Hegel, der schon in dem berühmten Herr-Knecht-Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes an Hobbes anschließt, bringt das dann in eine endgültige Fassung: Der Staat erscheint jetzt als Wirklichkeit des Vernünftigen. Allerdings bleibt diese Lösung des Problems noch an die Form der Monarchie gebunden.
In der Schule lernt man, dass die politische Theorie des Thomas Hobbes zum Absolutismus gehört. Doch wer es dabei belässt, muss das Zentrum des Hobbes‘schen Denkens genauso verfehlen, wie derjenige, der Machiavellis Lehre mit dem Vulgärbegriff des Machiavellismus verwechselt. Dass man Machiavelli und Hobbes zumeist derart missverstanden hat, liegt wohl auch daran, dass man sich in der Sicherheit biedermeierlicher und wirtschaftlich erfolgreicher Zeiten nicht mehr in die Verzweiflung eines Bürgerkriegs versetzen konnte – vielleicht ist unsere Gegenwart hier ja besser disponiert.
In jedem Fall lehrt der Rückblick auf Machiavelli und Hobbes, dass man den Staat und das Politische als historische Begriffe verstehen muss. Der Staat im neuzeitlichen Sinne hat nämlich nur sehr wenig mit der griechischen Polis oder der römischen Republik zu tun. Aber er hat eben auch nur sehr wenig mit unserem paternalistischen Wohlfahrtsstaat zu tun. Man könnte auch sagen: Die Politik der Neuzeit steht in einer moralisch-religiösen Klammer. Früher, also vor Beginn der Neuzeit, war Politik unlösbar mit Religion und Moral verbunden. Heute haben wir es mit einer Überdehnung des modernen Staates zu tun, und zwar wohlfahrtsstaatlich wie ökologisch. Der Wohlfahrtsstaat war eigentlich schon in der traditionellen Gemeinwohlformel angelegt. In seiner heutigen, extremen Form kehrt das Ideal vom höchsten Gut zurück – nämlich als das größte Glück der größten Zahl. Das bedeutet aber, dass der gehobene Lebensstandard als politisches Recht definiert wird. Das hat schon vor über hundert Jahren der größte aller deutschen Soziologen, Max Weber, sehr scharf gesehen. Neu hinzugekommen ist dann in den letzten Jahrzehnten die ökologische Forderung. Sie hat sich ebenfalls sehr rasch als Überforderung des Staates erwiesen. Und während die wohlfahrtsstaatliche Überforderung von einem politischen Moralismus ausgeht, steht hinter der ökologischen Überforderung die Ersatzreligion der Umweltbewegung.
Um dieses Thema in den Griff zu bekommen, ist es sinnvoll, sich an Max Webers großer Rede über Politik als Beruf und an Carl Schmitts Schrift über den Begriff des Politischen zu orientieren. Beide markieren schon Rückzugspositionen. Man könnte von einem Ausharren auf verlorenem Posten sprechen. Aber gerade von dort aus bekommt man die Tabus der heutigen Politik besonders gut in den Blick. Webers Grundthese lautet, dass Politik Kampf ist und nicht ohne Gewalt auskommt. Diese Einsicht wird heute genauso verdrängt wie Carl Schmitts politische Grundunterscheidung von Freund und Feind. Und diese Verdrängung erweist sich immer deutlicher als ein Kampf gegen das Politische selbst. Das ist ein Kampf, der mit den Waffen der Emotionalisierung und Begriffspolitik geführt wird.
Natürlich gab es die antipolitische Politik der universalen Menschenliebe schon immer; man kann sie zumindest bis zum Urchristentum zurückverfolgen. Heute führt diese Politik der Menschenliebe ihren Kampf gegen die Staatsraison mit drei Parolen. Da ist, erstens, der Universalismus der Menschenrechte, zweitens die Umdeutung der christlichen Nächstenliebe in Fernstenliebe und schließlich drittens der Traum von der One World, also von dem Weltstaat, der kein Außen mehr kennt.
Für Max Weber und Carl Schmitt war es noch selbstverständlich, dass die Politik die Moral auf Distanz halten muss. Deshalb haben sie dem Gott der Liebe den Dämon der Politik entgegengehalten. Und gegen die christliche Feindesliebe haben sie auf der Unterscheidung von Freund und Feind bestanden. Deshalb ist Max Webers Kritik der Gesinnungsethiker heute genauso aktuell wie Carl Schmitts Kritik der indirekten Gewalten. Doch im Unterschied zur Lage vor hundert Jahren verstecken sich die Gesinnungsethiker heute hinter dem Begriff Verantwortung, und die indirekten Gewalten treten als Protestbewegungen und NGOs auf. Wie man an Organisationen wie Greenpeace und an Bewegungen wie der „letzten Generation“ heute sehen kann, geben sich die indirekten Gewalten den Anschein des Unpolitischen, um den Staat zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Niklas Luhmann hat sie „sich selbst ermächtigende ‚parademokratische‘ Repräsentanten“ genannt.
Der Staat kommt dieser Entwicklung durchaus entgegen. Seine Geschichte beginnt ja bei Hobbes mit dem Versprechen von Schutz und der Erwartung von Gehorsam. Heute endet er in einem Daseinsfürsorgestaat. Er gibt uns immer wieder einen Schubser in die richtige, nämlich politisch korrekte Richtung. Früher hat der Staat die Menschen vor Gefahren geschützt; heute werden wir, vor der Gefahr geschützt, Gefahren nicht zu erkennen. Herr Lauterbach hat hier Maßstäbe gesetzt. Genau wie die sozialistischen Emanzipationsprogramme neigt auch eine Politik, die die Menschen vor sich selbst schützen will, zum Paternalismus und behandelt sie als unmündig.
Neben den ökologischen Sorgen und den wohlfahrtsstaatlichen Ansprüchen gibt es natürlich noch einen dritten Faktor der Re-Moralisierung unserer Politik. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzt ein politischer Moralismus ein, der radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Dafür ist eine politische und mediale Praxis verantwortlich, die man Tribunalisierung nennen könnte. Nun gibt es wieder gerechte Kriege. Und ganz entsprechend gibt es jetzt ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das bedeutet auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Und das gilt bis zur Gegenwart.
Aber wo ist unser historischer Ort? Schon Hegel sah seine Gegenwart am Ende der Geschichte angelangt. Er hat Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit interpretiert. Und dieser Fortschritt hat im modernen Staat als der Wirklichkeit des Vernünftigen sein Ziel erreicht. Doch schon Nietzsche macht dann die Gegenrechnung auf: Wir leben im Zeitalter des „letzten Menschen“, dem die Obrigkeit ein „Gehäuse der Hörigkeit“ präpariert hat. Hier wird Bürokratie zum Schicksal – das war dann das Lebensthema Max Webers.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, müssen wir uns wieder den Prozessen der Entpolitisierung, Entdifferenzierung und Re-Moralisierung zuwenden – also dem Kampf gegen das eigentlich Politische. Das Politische steckt schon in der Definition der Situation: Was ist das Problem? Wie ist die Lage? Um diese Fragen zu beantworten, kann die Politik nicht auf das Wissen warten. Das bedeutet aber, dass man politische Urteile nicht beweisen, sondern nur bewähren kann. Denn es gibt keine Tatsachen im Politischen. Und was man in der Politik als Fakten behandelt, sind immer Konstruktionen von interessierter Seite. Deshalb hat Max Weber Augenmaß und Verantwortung gefordert. Das sind Grundbegriffe einer Kritik der politischen Urteilskraft.
Und tatsächlich war die Geschichte der Bundesrepublik bis zur Jahrtausendwende durch einen verantwortungsbewussten Reformismus geprägt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Nicht nur die Protestbewegungen, sondern auch öffentlich-rechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich.
Man muss kein Dialektiker sein, um zu erkennen, dass die Moralisierung der Politik mit einer Politisierung der Moral einhergeht. Diesen Prozess der Entdifferenzierung hat der Philosoph Hermann Lübbe so charakterisiert: „Die Moral, die ihren Unterschied von der Politik nicht erträgt und ihn aufzuheben versucht, zerstört damit lediglich jene Schranken, jenseits derer die Politik einen totalen Charakter annimmt.“ So Lübbe. Im Klartext heißt das: Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.
Das Syndrom des politischen Moralismus kann man auf die Formel bringen: Je schwächer der gesunde Menschenverstand, desto stärker die Gesinnung. Und wo Gefühle statt Argumente die Debatten bestimmen, kommt es ganz unvermeidlich zur Verteufelung der Andersdenkenden. Alle Sachfragen geraten in den Sog moralistischer Polemik, und so wird heute ganz selbstverständlich der politische Gegner als unwählbar behandelt. Im Extremfall, der leider immer häufiger eintritt, sieht der politische Moralist im politischen Gegner einen Unmenschen. Und so wird die Exkommunikation wieder aktuell – nämlich in der Form des sozialen Boykotts.
Die politische Szene, nicht nur in Deutschland, aber hier vor allem, wird zunehmend von der bornierten Gewissheit und Selbstgerechtigkeit eines moralischen Urteils geprägt, in dem immer auch die Missachtung des Andersdenkenden spürbar ist. Wenn Politik auf Moral reduziert wird, disqualifiziert man den politischen Gegner als unmoralisch, d.h. man grenzt ihn aus der Politik aus. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkt dazu: „Wer sich moralisch engagiert hat, kann schwer nachgeben, weil seine Selbstachtung auf dem Spiel steht.“ So wird das Polemische der Politik von der Moral ins Inquisitorische gesteigert. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern um die Identität.
Dass der Geist links weht, konnte man früher, etwa von Lessing bis Adorno, durchaus zurecht behaupten. Vor allem die marxistische Linke war intellektuell anspruchsvoll, und das verdankte sie dem fleißigen Studium von Hegels Dialektik. Überzeugend war diese Gesellschaftskritik deshalb, weil sie immanent verfuhr. Das heißt, dass sie keine moralischen Sollensforderungen an die Realität stellte, sondern versuchte, die Selbstwidersprüche des Kapitalismus aufzudecken. Das gilt auch noch für den Neomarxismus der 20er Jahre, vor allem Georg Lukács‘ grandioses Werk Geschichte und Klassenbewusstsein, aber auch noch für die Frankfurter Schule unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Sogar die Führer der 68er Studentenbewegung waren noch eindrucksvoll durch ihre intellektuelle und rhetorische Souveränität.
Doch von da an ging es bergab. Das hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Das wichtigste Produkt des Kapitalismus, das Proletariat, löste sich in Kleinbürgerlichkeit auf. Und der real existierende Sozialismus blamierte den marxistischen Geist. Mit dem Untergang der Sowjetunion zerplatzten dann die linken Träume endgültig. Deshalb stellte der Protest von rot auf grün um. Statt auf das Proletariat setzt man seither auf den guten Menschen und die eigentlich heile, aber gefährdete, weil ausgebeutete Natur. Man könnte von einer grünen Inversion der Revolution sprechen – von Marx zurück zu Rousseau. In den revolutionären Träumen hat die Öko-Diktatur die Diktatur des Proletariats ersetzt.
Die ersatzreligiösen Züge dieser Rückwendung sind unverkennbar. Weil die Hoffnung auf Erlösung enttäuscht wurde, interessiert man sich wieder für die Schöpfung – und zwar tut man das unter dem Namen Umwelt. Die Natur ersetzt Gott als externe Instanz des Urteils über die Gesellschaft. Das erklärt sich so: Diejenigen, die sich mit religiöser Inbrunst der Natur zuwenden, sind von der Geschichte enttäuscht. Aber sie haben einen Ersatz für die marxistische Theorie der Gesellschaft gefunden. Man könnte diesen Ersatz die rousseauistische Normalerwartung nennen. Das ist die Erwartung einer harmonischen Beziehung zwischen Mensch und Natur. Und diese rousseauistische Erwartung lässt die Gesellschaft dann regelmäßig im Ungleichgewicht zu ihrer Umwelt erscheinen. So entsteht zum einen die ökologische Gesellschaftskritik. Zum anderen kann man nun die Utopie der Diversität als Sozialidyll des natürlichen Menschen entwickeln.
Der Rousseauismus der heutigen „woken“ Linken ist eine Mischung aus vormarxistischem, utopischem Sozialismus, einer Naturromantik auf puritanischer Basis und der Sentimentalität des politischen Moralismus. Auf wen diese Ideologie berechnet ist, kann man sich an einer Selbstbeobachtung Rousseaus deutlich machen. In einem der erfolgreichsten und folgenreichste Werke der Weltliteratur, nämlich seinen Bekenntnissen, heißt es in einer für Rousseau typischen selbstentblößenden Offenheit: „Ich war so gelangweilt… Ich war so übersättigt“. Die geniale Pointe liegt nun darin, dass Rousseau von der eigenen Frustration auf die Misere der Gesellschaft geschlossen hat.
Jeder Politik liegt eine anthropologische Überzeugung zugrunde. Die Rousseauisten gehen davon aus, dass der Mensch gut ist; deshalb muss die Gesellschaftsstruktur an den Übeln der Welt schuld sein. Die Konservativen gehen davon aus, dass der Mensch „böse“ ist; deshalb müssen sie die gesellschaftlichen Mechanismen herausarbeiten, die dafür sorgen, dass wir dennoch in einer guten Gesellschaft leben können. Dem großen Aufklärer Kant verdanken wir ein eingängiges Bild und einen prägnanten Begriff, die uns ins Zentrum des Problems führen. So heißt es in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht: (ich zitiere:) „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ So Kant. Und in derselben Schrift fällt auch das Wort von der „ungeselligen Geselligkeit“ der Menschen. Sie können einander nicht leiden, aber sie brauchen einander. Sie sind ehrsüchtig, habsüchtig und herrschsüchtig, aber gerade die dadurch geschürte Zwietracht stachelt die Menschen dazu an, ihre Naturanlagen zu entwickeln. Kurzum, Kultur ist ein Produkt menschlicher Bosheit.
Wenn aber der Mensch aus krummem Holz gemacht ist, gerät die Suche nach Perfektion leicht auf den Weg in den Totalitarismus. Das Bild vom guten Menschen produziert dann eine totalitäre Gesellschaft, weil alle Abweichenden und Andersdenkenden umerzogen werden müssen. Revolutionäre Politik rousseauistischer Prägung geht immer davon aus, dass die Leute nicht wissen, was gut für sie ist, und deshalb erzogen werden müssen. Ins gesellschaftliche Paradies kommt man also nur durch das Paradox, das Rousseau so schön formuliert hat: Man zwingt die Menschen, frei zu sein.
Was Rousseau so beliebt gemacht hat, ist sein großes Entlastungsformular. Er hat die Menschen von der Erbsünde freigesprochen und die Schuld an allen Übeln der Welt der Gesellschaft angelastet. So heißt es im zweiten der Briefe an Malesherbes, „dass der Mensch von Natur gut ist, und dass es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden.“ Das ist die Ultrakurzfassung des Mythos von der Selbstentfremdung. Die Überwindung dieser Selbstentfremdung hat die rote Linke marxistisch von der „klassenlosen Gesellschaft“ erwartet. Dagegen verspricht sich die grüne Linke die Überwindung der Selbstentfremdung von der Identifikation „mit der ganzen Natur“. Was aber beide, die Roten und die Grünen, noch miteinander verbindet, ist die Überzeugung, dass das Eigentum das eigentlich Böse ist. In Rousseaus berühmten Worten: alle gesellschaftlichen Übel gehen zurück auf „die scheußlichen Worte Mein und Dein.“ Deshalb muss uns der Staat das Eigentum nehmen, um uns auf der Basis absoluter Gleichheit die wahre Freiheit zu schenken.
Die meisten Aufklärer haben die Erbsünde geleugnet. Für sie war der Mensch gut oder doch zumindest vervollkomnungsfähig – entweder durch Erziehung oder durch die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. Auch hier hat Rousseau wieder das entscheidende Stichwort gegeben. In seinem berühmten Gesellschaftsvertrag entwickelt er ein Programm, „die menschliche Natur zu verändern“; das heißt, er geht von der vollständigen Formbarkeit des Menschen aus. Robespierre, der Star der Französischen Revolution, war der ergebene Schüler Rousseaus, der diese Theorie dann in die Praxis umgesetzt hat, nämlich in den Terror des Jakobinismus. Trotzdem ist es den Revolutionären bis zum heutigen Tag gelungen, das Monopol auf Menschlichkeit für sich zu reklamieren. Der Liberale Ralf Dahrendorf hat das den “humanen Absolutismus der Totalveränderer“ genannt. Sie reklamieren für sich, für die Menschheit zu sprechen – früher im Namen der Bürger, dann im Namen des Proletariats und heute im Namen der ehemals kolonialisierten Dritte Welt.
Für den rousseauistischen, „woken“ Linken ist der Mensch von Natur aus gut und wird nur von der Lehre, der Mensch sei böse, verdorben. Mit anderen Worten: Für die Guten ist das einzig Böse die Lehre von der Erbsünde. Aber gerade dieses Dogma hat den politischen Moralismus in Schach gehalten, denn jeder war ein Sünder. Das bedeutet aber, dass nicht das Bild vom guten, sondern vom bösen Menschen eine freiheitliche Gesellschaft ermöglicht. Soweit wir uns noch auf Distanz, Höflichkeit, Takt und Diplomatie verlassen können, verdanken wir das nicht dem guten Menschen, sondern dem guten Bürger. Der gute Bürger ist das Produkt des freien Marktes, der aus privaten Lastern öffentliche Tugenden macht. Hegel hat das die List der Vernunft genannt.
Hier wird deutlich, was mit „böse“ im nicht theologischen Sinne gemeint ist. Der Mensch ist gefährlich, weil er gefährdet ist. Aber im erzwungenen Zusammenleben mit seinesgleichen, im Prozess der Zivilisation lernt er etwas Entscheidendes. In der Gesellschaft lernt der Mensch, seine ursprünglich aus Notwehr geborene Aggressivität, seine Leidenschaften wie Eitelkeit, Ruhmsucht und Misstrauen in produktive Energien zu verwandeln. Das zeigt sich in Konkurrenz und Wettbewerb genauso wie in den Akten der Kreativität, die der Ökonom Joseph Schumpeter einmal als schöpferische Zerstörung definiert hat.
Diese Überlegungen führen zu einem erstaunlichen Resultat. So wie der „böse“ Mensch eine gute Gesellschaft ermöglicht, so führt uns heute wieder der gute Mensch auf den Weg zur Knechtschaft. Statt unser soziales Leben durch Wettbewerb zu organisieren, beglückt man uns mit dem Sozialismus eines paternalistischen Wohlfahrtsstaats. Entsprechend befindet sich der Rechtsstaat auf dem Rückzug. Denn der gerechte Staat der Guten diskriminiert. Die Quoten, die er überall einführt, sind nichts anderes als Privilegien, also illiberal und undemokratisch. Er handelt sich um Gruppenrechte, die uns zurück in die Vormoderne des Status führen. Das ist für viele deshalb attraktiv, weil man jetzt den Mangel an Begabung sehr leicht durch die richtige Gesinnung kompensieren kann. Die Quote ist nämlich immer nur der erste Schritt; was dann folgt, hat der Philosoph Hegel den Übergang „von der Parität zur Purität“ genannt. Wenn alle gleich sind und alle Kulturen gleich wertvoll sind, dann müssen real existierende Ungleichheiten durch legalen Despotismus nivelliert werden. Deshalb gibt es heute Quoten und positive, kompensatorische Diskriminierungen. Deshalb gibt es heute Gender Mainstreaming und den Kampf gegen „white supremacy“, die Vorherrschaft der Weißen. Ein nüchterner Beobachter wird aber erkennen, dass unsere Kultur hier vor einem klaren Entweder / Oder steht: Wir müssen uns entscheiden, ob wir Aufklärung und universalistische Menschenrechte oder Gleichstellung und Identitätspolitik wollen.
Der geistige Vater der heutigen „woken“ Linken ist also nicht Marx, sondern Rousseau. Während Hobbes auf der Basis einer pessimistischen Anthropologie den vernünftigen modernen Staat konstruierte, wollte Rousseau nicht nur zurück zur Natur, sondern auch zurück zur antiken Polis. Genf war für ihn, verglichen mit Paris, das neue Sparta. Stolz nennt sich der Autor des Werks über den Gesellschaftsvertrag „Bürger von Genf“. Sein Begriff des Politischen orientiert sich also an zwei Maßstäben: an der Polis und an der Natur. Für Hobbes war der Naturzustand ja ein negativer Maßstab: der Naturzustand ist instabil und geprägt von einem Selbstwiderspruch, der die Menschen geradezu zum Staat zwingt. Für Rousseau dagegen ist der Naturzustand ein positiver Maßstab: stabil und charakterisiert durch Unbedürftigkeit.
Wo Hobbes nur Selbstbehauptung und Eitelkeit sehen konnte, findet Rousseau Selbstliebe und Mitleid. Der edle Wilde lebt in sich selbst, also innengeleitet, und erscheint so als Prototyp des autonomen Menschen. Der moderne Mensch dagegen lebt in der Meinung der anderen, also außengeleitet.
Intellektuell anspruchsvoll wird Rousseaus politische Theorie aber erst durch die Dialektik des Gesellschaftsvertrags. Sie ist eine Dialektik der totalen Entfremdung. Die Orientierung am Maßstab der Natur besteht nämlich nicht in einem einfachen „Zurück“, sondern erfordert zunächst eine absolute Entfremdung und Entnaturalisierung des Individuums. Das klingt komplizierter als es ist. Was Rousseau meint, ist: Die Gesellschaft korrumpiert den Menschen; aber er erlangt seine wahre Freiheit durch die Unterwerfung unter den Gemeinwillen, den berühmten „volonté générale“. Es ist der souveräne Wille ohne Herrscher. Dieser Gemeinwille ist wohlgemerkt nicht der Wille aller – und kann deshalb immer wieder zur Bezugsgröße von Erziehungsdiktaturen werden.
Die Unterwerfung unter den Gemeinwillen verwandelt den Menschen in einen Bürger. So heißt es im Rousseaus Gesellschaftsvertrag – ich zitiere: „Der Staatsbürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst jenen, die man gegen seinen Willen verabschiedet, und sogar denen, die ihn bestrafen, wenn er eines davon zu übertreten wagt. Der unveränderliche Wille aller Glieder des Staates ist der Gemeinwille; durch ihn sind sie Staatsbürger und frei.“ So Rousseau. Er fordert also die totale Einheit von Moral und Politik, Staat und Gesellschaft, dem privaten Innen und dem öffentlichen Außen. So heißt es in dem Artikel Politische Ökonomie, den er für Diderots große Enzyklopädie geschrieben hat: „Die umfassendste Autorität ist diejenige, welche bis ins Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf seinen Willen als auf seine Handlungen einwirkt.“ Im Gegensatz zum Hobbes’schen Absolutismus akzeptiert die Diktatur des Gemeinwillens keine Privatsphäre mehr; die Gesinnungen der Bürger werden gleichgeschaltet. Der Historiker Reinhardt Koselleck hat das so zusammengefasst: „Die moralische Zensur hat sich bei Rousseau verstaatlicht“.
Der Gemeinwille ersetzt aber nicht nur den Willen des Souveräns, sondern auch das Naturrecht. Heute, im Zeitalter des grünen Rousseauismus, wird das Naturrecht durch das Recht der Natur, also der Umwelt, ersetzt. Die Umweltbewegung belässt es also nicht bei einer Orientierung an der Natur als Maßstab. Mit dem Thema Klimawandel – dann aber auch Corona – kultiviert sie eine negative Romantik. Das heißt, die Grünen wollen uns suggerieren, dass sich die von der modernen Industriegesellschaft geschändete Natur am „homo faber“ und am „homo oeconomicus“ rächst – also am Techniker und am Kapitalisten.
Wir haben es hier mit einer doppelten Flucht in die Natur zu tun – zum einen zurück zum guten Menschen des Naturzustandes und zum andern zurück in die Natur qua Umwelt. Diese Naturanbetung hat eine eminent politische Dimension, denn Ökodiktatur und utopischer Sozialismus ergänzen sich ideal. Gemeinsam stehen sie im puritanischen Kampf gegen alles, was das Leben genussvoll macht. Und wer die Schirmherrschaft über die Natur übernommen hat, braucht keine demokratische Legitimation mehr. Corona und Klima, aber auch Europa und Massenmigration werden von der „woken“ Linken als Probleme definiert, die man nur lösen kann, wenn man es mit Rechtstaat und Demokratie nicht so genau nimmt.
An die Stelle der demokratischen Legitimation tritt die existenzielle Betroffenheit, und Angst ersetzt das Argument und den Konsens. Und auch hier ist Rousseau das große Vorbild. Seine Bekenntnisse sind ein einziger Exzess der Entlarvung und Selbstentblößung, um zum wahren, nackten Menschen durchzustoßen. Damit ist Rousseau eine völlig neue Form der Legitimation gelungen: die Selbstrechtfertigung durch Selbstbezichtigung. Heute hat dieser politische Moralismus einen Extremwert erreicht, nämlich die Selbstgeißelung. Der einzige Stolz, den wir noch zulassen, ist der Sündenstolz.
Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, muss irgendjemand daran schuld sein, dass die Welt schlecht ist. Und so fragt sich der gute Mensch: Was ist der störende Faktor? Friedrich Schillers berühmter Vers „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ wird hier so verstanden, dass sich die aufgeklärte Elite zum Richter über die Gesellschaft ermächtigen darf. Diese Tribunalisierung, diesen geistigen Bürgerkrieg hat schon die Aufklärung vorbereitet, denn sie hat Vernunft als kritischen Prozess verstanden. Die Bürger machen dem Staat den moralischen Prozess und nennen ihn Kritik. Die Aufklärung hebt also die von Machiavelli und Hobbes erreichte Trennung von Politik und Moral auf, um vom Moralischen aus eine radikale Kritik der Politik zu formulieren. Rousseau spitzt das dann zu – bis schließlich die Französische Revolution als legitimer Bürgerkrieg interpretiert wird.
Die Aktualität Rousseaus hat nicht nur mit seinem Gesellschaftsvertrag oder seinen Ideen zum Republikanismus zu tun. Was ihn zum Schutzheiligen der heutigen Linken macht, ist seine Erfindung der modernen Form der Tribunalisierung. Gemeint ist die Inszenierung des Jüngsten Gerichts, bei der der politische Moralist als Angeklagter, Verteidiger und Richter zugleich auftritt. Der Gesellschaft wird der Prozess gemacht. Und in diesem Prozess wirft sich nicht nur der absolute Verlierer, sondern eben auch der Bürger mit schlechtem Gewissen zum Gewissen der Gesellschaft auf. Dabei klagt man nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen der Empfindsamen und Beleidigten, der Minderheiten und Migranten an. Hier funktionieren Mitleid und das Engagement für Gleichheit als Masken für tyrannische Impulse.
So entsteht ein Absolutismus der Tugend, den man heute politische Korrektheit nennt und der die bürgerliche Welt in Schockstarre versetzt hat. Das politische „links“ und „rechts“ wird durch das manichäische „gut“ und „böse“ überformt. Dem entspricht genau, dass wir es heute auch mit einer modernen Variante des antiken Zensors zu tun haben. Das hat uns die Cancel Culture beschert. Sie herrscht in den Bildungsinstitutionen genauso unumschränkt wie in den öffentlich-rechtlichen Medien.
Dieser Tugendterror legitimiert sich nicht mehr diskursiv. Er erspart sich die Arbeit des Begriffs und reklamiert emotionale Echtheit, das wahre Gefühl als Wahrheitskriterium. Wer gefühlsecht ist, dem werden Unsachlichkeit und Inkompetenz verziehen. Vor allem die Umweltaktivisten zeigen ja, dass man durch und durch unpolitisch sein kann und gerade dadurch attraktiv erscheinen kann. Sie sehnen sich nach einer Ergänzung der nüchternen Prosa des sozialen Rechtsstaats durch den Kitsch einer Gefühlsdemokratie. Diese rousseauistische Nostalgie nach einer von Gefühlen geleiteten Gesellschaft, in der ein autoritärer Staat sichtbar ‚soziale Gerechtigkeit‘ schafft, ist sehr romantisch und sehr deutsch. Sie hat einen Jargon der Achtsamkeit entwickelt, mit dem eine hysterisch hochgezüchtete Empfindlichkeit den Anspruch auf bevorzugte Behandlung begründet. Man zeigt seine Wunden vor und klagt die Gesellschaft an. Als Opfer braucht man keine Argumente. An die Stelle von Ideologiekritik tritt Entrüstung. Aber wer moralisch entrüstet ist, kann nicht mehr klar denken.
Vor diesem Hintergrund versteht man, wie Zensur, Inquisition und Pranger, die wir eigentlich nur aus dem Mittelalter kannten, zu Praktiken der rousseauistischen Linken werden konnten. Die neuen Jakobiner beschwichtigen ihr schlechtes Gewissen, indem sie sich als das Gewissen der Gesellschaft aufspielen – als Mahner vor dem ökologischen Weltuntergang, als Anwälte der unterdrückten Minderheiten und als unerschrockene nachträgliche Antifaschisten im „Kampf gegen rechts“. Was ihre Träume stört, ist aber nicht der Kapitalismus oder Faschismus, sondern die Natur des Menschen.
Dieses Thema ist vermintes Gelände. So schreibt Nietzsche in seinem Buch Jenseits von Gut und Böse, eine Theorie, die nüchtern und illusionslos die Natur des Menschen ergründe, habe – ich zitiere: „mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ‚das Herz‘ gegen sich“. Und erst recht, möchte man ergänzen, hat so eine Theorie das Herz des normalen Lesers gegen sich. Diesen Widerstand auszuhalten und ihn zum Medium seiner Theorie und Therapie zu machen, war die genialste Leistung von Sigmund Freud.
Er hat seine Psychoanalyse stolz in die Reihe der großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit eingefügt. Narzisstische Kränkungen, die ja gerade den Stolz des Menschen gebrochen haben: zunächst die Entrückung der Erde aus dem Mittelpunkt der Welt durch Kopernikus und dann die Herabstufung des Menschen zum Tier unter Tieren durch Darwin. Die Freudsche Kränkung besteht bekanntlich darin, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus, sondern oft Spielball des Unbewussten ist. Aber stärker noch als diese These haben Freuds Analysen der Sexualität und Aggressivität des Menschen schockiert. Was das Thema Sexualität betrifft, so ist die Erregung in den letzten hundert Jahren abgeklungen. Aber beim Thema Aggressivität ist der Widerstand gegen Freuds Lehre ungebrochen.
Da die Aufklärung gegen den Priestertrug und damit gegen die Lehre von der Erbsünde kämpfte, unterstellt sie zumeist, dass der Mensch gut, oder doch zumindest perfektibel ist. Erst wenn die Aufklärung sich über sich selbst aufklärt, dringt sie zur Anerkennung des Bösen vor; das ist bei Nietzsche der Fall, vor allem aber eben bei Freud. Deshalb kann der Philosoph und Judaist Jacob Taubes sagen: „Niemals seit Paulus und Augustin hat ein Theologe eine radikalere Lehre von der Erbsünde vertreten als Freud.“ So Taubes. Das heißt aber: Freuds Lehre bietet eine säkulare Version des Sündenfalls: Im Anfang war die Untat.
Wir wollen uns hier aber nicht mit dem psychoanalytischen Mythos vom Urvatermord beschäftigen. Viel interessanter ist Freuds Ableitung der Aggressivität aus der Hilflosigkeit des kleinen Kindes. Im Gegensatz zu den rasch umweltangepassten Tieren ist der Mensch eine Frühgeburt, ständig in Angst und angewiesen auf „Vaterschutz“. Die Ähnlichkeit mit dem Naturzustand bei Hobbes ist verblüffend – nur dass Freud das Wechselspiel von Schutz und Gehorsam nicht am Verhältnis zum Staat, sondern zur Kultur veranschaulicht. Wie Hobbes gezeigt hat, dass die angsterfüllten Menschen zum Staat gezwungen werden, so zeigt Freud, wie die hilflosen Menschen zu Technik und Kultur gezwungen werden. Die Technik hat ihm die Herrschaft über die äußere Natur ermöglicht, aber doch nur um den Preis einer Kultur, die ihn zur Herrschaft über seine innere Natur zwingt.
Wie bei Hobbes heißt es auch bei Freud: „Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen und die Gerechtigkeit fordert, dass keinem diese Einschränkungen erspart werden.“ So Freud. Kultur ist der Inbegriff der Überlebensbedingungen. Aber sie macht uns eben auch unglücklich, weil sie Triebverzichte fordert, weil sie Bedürfnisse frustriert, Aggression tabuisiert und sich in empfindlichem Gegensatz zur Sexualität entwickelt. So scheint das Unglück in der Kultur unaufhebbar, weil die Gesellschaft immer wieder die individuelle Freiheit unterdrückt. Institutionalisiert wird dieses Dauerproblem im Recht, das Freud schlüssig aus Triebopfern und Tabus ableitet. So lautet sein Fazit: „Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zu viel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben.“