Die Schlussfolgerung, die das Ministerium aus der Studie zieht, erinnert nicht nur ein wenig an Norbert Blüms „Die Rente ist sicher“.
Genau wie Blüms Spruchdient die Überschrift der Pressemitteilung des Ministeriums der Sedierung, der Verdummung, der Täuschung der Bevölkerung.
Grün-kursive Zitate & komplette Pressemitteilung lesen: Hier klicken
Nach einer neuen Studie ist die Stromversorgung im Land bis zum Jahr 2025 gewährleistet. Für die Zeit danach müssen aus Sicht von Umwelt- und Energieminister Franz Untersteller schon heute der Ausbau der Netze und der Erneuerbaren weiter vorangetrieben werden.
[…]
„DLR, IFK und IER gehen für alle betrachteten Szenarien und Varianten davon aus, dass im Jahr 2025 für die Deckung der Nachfrage ausreichende Erzeugungskapazitäten vorhanden sind“, kommentierte Umwelt- und Energieminister Franz Untersteller die Ergebnisse der Studie. „Süddeutschland wird jedoch in Zukunft zunehmend auf Stromimporte aus dem Norden oder den Nachbarländern angewiesen sein. Damit ist klar, dass wir dem Ausbau der Übertragungsnetze auch weiterhin größte Bedeutung beimessen müssen.“ Auch die verschiedenen Reserveinstrumente seien notwendig, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, so der Minister.
So, so …
„Süddeutschland wird jedoch in Zukunft zunehmend auf Stromimporte aus dem Norden oder den Nachbarländern angewiesen sein. …“
Das passt irgendwie nicht zur Schlagzeile der Pressemitteilung. Denn wenn Deutschland in seinem Süden zumindest zeitweise nicht genügend Strom zur Verfügung hat, um den Bedarf zu decken, weshalb sollte das benachbarte Ausland zusätzlich zu dem Strom, den es selber benötigt, den Strom produzieren, den Deutschland zwecks Bedarfsdeckung benötigt?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass besonders in der kalten, dunklen Jahreszeit – man nennt es trotz Klimawandels immer noch Winter – zu Strombedarfsspitzen überall in Europa kommt. Einer Zeit, in der die Sonne auch nur tagsüber scheint, und sich starke Windstromerzeugung mit wirklichen Windstromerzeugungs – Flauten abwechselt, wie das Schaubild rechts oben eindrucksvoll belegt.
In genau solch einer Zeit warten unsere europäischen Nachbarn nur darauf, dem großen Deutschland, das so vorbildlich den Atom- und Kohleausstieg betreibt, das die Energiewende veranstaltet „… um zu zeigen, dass es geht!“, mit Atom- und Kohlestrom ´auszuhelfen`. Oder glaubt irgendjemand, es wäre Wind-, Sonnenstrom, der da geliefert würde. Denjenigen nenne ich reichlich naiv.
Was für eine verlogene und heuchlerische Politikerkaste geht im heutigen Deutschland zu Werke. Mit eine Chuzpe, nein, ich behaupte, es ist ideologisch-hirnverbrannte Blödheit plus Großopportunismus, die ihresgleichen sucht.
________________________
Die Studie – gesamt und Auszüge – möchte ich Ihnen selbstverständlich nicht vorenthalten:
[…] Im Ergebnis zeigt sich, dass in Süddeutschland bei einer autarken Betrachtung bereits heute eine negative Leistungsbilanz von 9,1 GW besteht. Süddeutschland ist somit bereits heute (und auch schon in der Vergangenheit) von Importen aus Norddeutschland oder den Nachbarländern abhängig. Dabei ist die heute verfügbare Leistung aus der Netzreserve nicht berücksichtigt. Wird die gesicherte Leistung der Netzreserve in die Leistungsbilanz einbezogen,so verringert sich das Leistungsdefizit in Süddeutschland auf 3,3 GW.
Ab 2019 wäre auch mithilfe von Stromimporten aus Norddeutschland alleine eine Lastdeckung nicht mehr möglich. Wenn entsprechende Importe aus dem benachbarten Ausland nicht verfügbar sind, müsste dann zusätzlich die Kapazitätsreserve von 2 GW eingesetzt und die Sicherheitsbereitschaft von 2,7 GW aus dem Norden importiert werden.
Ab 2020 werden selbst diese Leistungen nicht mehr zur Sicherstellung der Versorgungsicherheit in Süddeutschland ausreichen. Wäre eine Netzreserve in heutiger Höhe weiterhin vorhanden, könnte sie eingesetzt werden, um diese Leistungslücke zu schließen, auch wenn es nicht dem Zweck der Netzreserve entspricht. Ein Einsatz von Netzreserve als Kapazitätsreserveleistung wäre sogar früher notwendig, sollte die dafür angedachte Kapazitätsreserve erst mit Verzögerung zur Verfügung stehen. Süddeutschland würde ab 2023 vollständig seine Autarkie verlieren, da ab dann in beiden Szenarien die Stromimporte aus Norddeutschland und der Einsatz der angenommenen verfügbaren Reservekapazitäten nicht mehr ausreichen würden, das Leistungsdefizit zu beheben, die Importe aus dem benachbarten Ausland werden notwendig sein. Das Leistungsdefizit in Süddeutschland unter Berücksichtigung von möglichen Importen aus Norddeutschland steigt für den angenommenen beschleunigten Kohleausstieg bis 2025 bis auf Versorgungssicherheit in Süddeutschland bis 16 GW an, die dann entweder durch entsprechende Reserven oder durch Importe aus dem benachbarten Ausland zu decken wären. Entsprechend (NEP 2015) wären hierfür mit 17,2 GW ausreichend Übertragungskapazitäten (NTC) vorhanden.
Ähnliche Rückschlüsse lassen sich aus den statischen Leistungsbilanzen für Gesamtdeutschland ziehen. Ab 2019 wird die Kapazitätsreserve von 2 GW und die Sicherheitsbereitschaft von 2,7 GW zur gesicherten Leistungsdeckung, und ab 2020 zusätzlich die Netzreserve (6,9 GW) in heutiger Höhe gemeinsam benötigt, um das Bilanzdefizit ausgleichen zu können. Auch hier hätte eine verzögerte Verfügbarkeit der Kapazitätsreserve zur Folge, dass die Netzreserve zur Lastdeckung zweckentfremdet herangezogen werden müsste. Deutschland müsste seine Last in kritischen Situationen ab 2023 mit Hilfe von Importen decken. Verfügbare Übertragungskapazitäten zu den Nachbarländern sind ausreichend vorhanden. Entsprechend der getroffenen Annahmen zum Kraftwerkspark in den betrachteten Ländern wäre dort auch ausreichend freie Erzeugungskapazität vorhanden. Ob diese Erzeugungskapazität der Nachbarländer im Betrachtungsraum Deutschland für den Import zur Verfügung steht, wurde im Rahmen der statischen Leistungsbilanz nicht untersucht. […]
Der letzte Satz ist entscheidend. Im Rahmen der Studie ist er der wissenschaftlichen Lauterkeit geschuldet.
Im Wissen um diesen Sachverhalt als verantwortliches Ministeriums, als verantwortlicher Minister die Schlussfolgerung …
Stromversorgung bis 2025 ist sicher
… zu ziehen, ist nicht nur Volksverdummung. Es ist …
… sieben davon mit Schwerverletzten. Behindertenverbände, aber auch die
Grünen fordern nun Pflichtkurse für die Nutzer – am besten gleich in den Schulen.
Seit der Einführung der E-Tretroller kommt es immer wieder zu schweren Unfällen. Zum Beispiel in Köln: Bis Ende Juli wurden in der Stadt bereits 21 Unfälle damit aufgenommen, teilte die Polizei der größten NRW-Stadt mit. In 20 davon waren die E-Scooter-Fahrer auch die Verursacher der Unfälle. Die Schadensbilanz: sieben Schwer- und 14 Leichtverletzte. Die örtliche Polizei will nun gemeinsam mit Verleihfirmen Maßnahmen ergreifen.
Die hohe Unfallzahl liege vor allem daran, dass die E-Scooter oft betrunken oder zu zweit genutzt würden, hieß es von der Polizei. Man gehe zudem von einer hohen Dunkelziffer aus, da nicht jeder Unfall der Polizei bekannt werde.
______________________
Zu schnell gegangen sei die Einführung der E-Scooter auf keinen Fall, sagte Ploß, Mitglied des Verkehrsausschusses im Bundestag. Man habe sich in Deutschland sehr viel Zeit dafür genommen, habe sie als letztes Land in der EU eingeführt
Man wollte ein möglichst gutes Mittelmaß zwischen einer unbürokratischer Lösung und dieser neuen Form der Mobilität finden, sagt er. In vielen Gesprächen mit den Bundesländern sei dies abgestimmt worden.
Gedacht seien die E-Scooter als Verkehrsmittel. Deshalb teile er die Kritik, dass in einigen Städten noch nicht genügend kontrolliert werde, so Ploß. E-Scooter seien kein Spielzeug auf Gehwegen, sage die Verordnung. Für die Umsetzung und die Kontrollen seien aber die Kommunen und Bundesländer zuständig. […]
Das Interview des Dlf mit Christoph Ploß am 6.7.2019:
Ganz unten:Zum 20.Juli 1944 – Infos und Kommentare
___________________
Das Aufatmen währte nur kurz:
Flinten-Uschi geht, AKK kommt!
Kameraden, ihr tut mir aufrichtig leid.
Ja, ja, das ist radikal-extrem-rechtsextremradikalrassihomo-fremdentralala.
Weiß ich, stört mich nicht.
Deutschland schafft sich dynamisiert ab.
Ein wichtiges Ministerium wird als Sprungbrett für „höhere Aufgaben“ eine Frau geopfert, die vielleicht klug rumschwätzen kann, ansonsten eher mit Ahnungslosigkeit – davon recht viel – gesegnet ist.
Uwe Junge, AfD, ruft angeblich zum Militärputsch auf:
FDP-Vizefraktionschef Alexander Graf Lambsdorff nannte die Entscheidung für die CDU-Vorsitzende etwa „eine Zumutung für die Truppe und für unsere Nato-Partner“. Doch Junge, der auch deutscher Stabsoffizier (Oberstleutnant a. D) ist, bewege sich mit seiner Kritik auf einem ganz anderen Level, befinden mehrere Politiker auf Twitter: „Wann kommt endlich der Aufstand der Generäle?“, fragte Junge in seinem Tweet zu AKK – und überschritt damit für viele eine rote Linie.
Es ist nicht das erste Mal, dass Junge mit einem Tweet provoziert: Unter anderem schrieb er im Dezember 2017 mit Bezug auf die Morde an Maria L. und Mia V. in Freiburg und Kandel: „Der Tag wird kommen, an dem wir alle … Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer zur Rechenschaft ziehen werden.“
So erleben wir angeblich Rechtsradikalismus pur. Unsere Menschen mit Guten Gedanken merken gar nicht, wie lächerlich sie sich machen.
Natürlich ist zu erwarten, dass die Generäle der Bundeswehr sich ihre Gedanken machen, ob der nochmaligen Entscheidung der Kanzlerin, eine vollkommen ahnungslose Frau in das wichtige Ministerium zu berufen.
Ihren Unmut werden sie hoffentlich massiv äußern. Das übrigens genau meint Uwe Junge. Keinen Putsch. Der wäre mit dem Material und den paar Männeken und Fräuchen, genannt Soldaten, ohnehin nicht bewerkstelligen.
Massive Kritik – u.U. auch mit der Bitte um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand –, weil man mit einer solchen „Führung“ nicht seinen Auftrag erfüllen kann. Massive Kritik, wenn auch hinter verschlossenen Türen. Käme es nicht dazu, wie oben beschrieben, wären die Bundeswehr-Generäle genau so hörige Büttel, wie die Mehrheit (Kreis um Graf Schenk von Stauffenberg ausgenommen) der Generäle der Wehrmacht, die Adolf Hitler Speichel leckend zu Füßen lagen und seine z. T. aberwitzigen Befehle umsetzen ließen.
__________
Zum 75. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats
Lesen Sie Kommentare zum Jahrestag:Hier & hier klicken
Hören Sie das Kalenderblatt des Dlf vom 20. Juli 2019:
_______________________
Warum wurde AKK Verteidigungsministerin?Hier klicken
… unterzeichnet wurde, war Carl Melchior nicht mehr am Ort des Geschehens. Der letzte französische Abreisestempel auf dem für die Fahrten nach Versailles ausgestellten Ministerialpass Melchiors, des Finanzsachverständigen der deutschen Friedensdelegation, datiert vom 16. Juni. An diesem Tag hatten die Alliierten den sechs deutschen Delegierten eine harsche, weitestgehend abschlägige Antwort auf deren Eingaben zum Vertragsentwurf übergeben. Sie enthielt eine ultimative Aufforderung, den Vertrag anzunehmen, sonst werde Deutschland besetzt.
Noch am selben Abend reiste fast die gesamte, mit Kommissionen und Stab etwa 180 Mitglieder zählende deutsche Delegation ab. «Mit Flaschen, Steinen und allem möglichen Unrat beworfen», wie Melchiors Sekretär Albert Rose festhielt, setzte sich der Tross in Bewegung. Melchior traf ein Stein im Nacken.
Carl Melchior war der einzige der sechs Delegierten, der kein politisches Amt innehatte. Er war und blieb bis zum Lebensende Bankier, Teilhaber der 1798 gegründeten Privatbank M. M. Warburg & Co. in Hamburg. Das Institut hat das «Dritte Reich» und die «Arisierung» dank umsichtigen Treuhändern überlebt und besteht wieder unter seinem alten Namen; es ist heute die grösste inhabergeführte Privatbank Deutschlands.
Der umfassend gebildete, weltläufige Jurist – Melchior entstammte einer jüdischen Kaufmanns- und Bankiersfamilie, sein Vater war Mitglied der Hamburger Bürgerschaft – hatte zunächst als Grundbuchrichter gearbeitet und war dann als Syndikus zu Warburg gekommen, wo man ihn 1917 zum Teilhaber machte. Politisch hatte er sich zwar 1918 an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) beteiligt und war vorübergehend im Vorstand dieser mit ihrem wirtschaftsfreundlichen Programm bald als «Judenpartei» diffamierten liberalen Partei. Doch Melchior strebte nicht in die Politik. Auch später, als man ihm antrug, Finanzminister zu werden, lehnte er ab.
Auf Abruf bereit
Sich der Regierung mit Rat und Tat zur Verfügung zu stellen, war für Melchior ebenso eine staatsbürgerliche Selbstverständlichkeit wie für den Bankier Max Warburg. Es lag stets aber auch im Interesse des Unternehmens. Zwischen den körperlich zarten, beherrschten Melchior und den umtriebigen, temperamentvollen Warburg, der als Fachmann ebenfalls in Versailles zugegen war, passte kein Blatt. Sie siezten einander und waren doch beinahe wie Brüder. Was der eine unternahm, besprach er mit dem anderen; man hielt sich mit einem Firmentagebuch à jour.
Melchiors Tätigkeit führte zu einem diplomatischen Einsatz, der im Krieg begann und erst 1933 unfreiwillig endete. Er entwickelte sich zum auf Abruf bereitstehenden Staatsdiener, wie er im Buche steht, kompetent, «pflichttreu und schlicht», wie der Jurist Hans Schäffer über ihn schrieb, aber «ohne jeden Formalismus, jede Härte und jeden Aufstiegswunsch».
Melchior war nicht nur kein Politiker, er war auch kein radikaler Querdenker. Der Strudel dessen, was für heutige Betrachter Geschichte ist, riss ihn mit wie die anderen Beteiligten auch, und zugleich produzierte und formte er die Zeitläufte durch sein Tun. Mit seinem Sachverstand, seinen Verbindungen, seinem Verhandlungsgeschick, seinem «Pokergesicht» und seinem «geheimrätlichen Stil», wie Warburg sagte, vertrat er das, was man für deutsche Interessen hielt. In seinem Streben, seinen Erfolgen und letztlich seinem Scheitern, ja in seinem Schicksal spiegelt sich das deutsche Drama der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kontakt zu John Maynard Keynes
Im Kriegseinsatz verwundet, war Melchior noch 1917 dazu abgestellt worden, die Zentrale Einkaufsgesellschaft Deutschlands neu zu organisieren sowie mit Rumänien und der Ukraine Kornlieferungen auszuhandeln, um die Lebensmittelknappheit abzuwenden, die nach der britischen Seeblockade drohte. Bis er sich wegen antisemitischer Anfeindungen zurückzog, tat er dies so erfolgreich, dass seine Dienste im Folgenden immer wieder neu angefragt wurden. Keine Regierung konnte auf ihn verzichten. Die Sorge um die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu tragbaren Konditionen beschäftigte ihn auch als Vorsitzenden der Finanz-, der Ernährungs- und der Schifffahrtskommission der deutschen Waffenstillstandsdelegation.
Jede Verhandlung, jedes Abkommen bedingte für Melchior diplomatische Folgeeinsätze. Das Waffenstillstandsabkommen war befristet, es musste mehrfach nachverhandelt und erneuert werden. Zudem liefen diffizile Ausführungsverhandlungen, während die mit ihren tiefen Interessengegensätzen ringenden Siegermächte schon die Grundzüge eines Friedensvertrags entwarfen.
In diesem Kontext traf Melchior unter anderem auf John Maynard Keynes, der als Vertreter des Schatzkanzlers im Obersten Wirtschaftsrat sass, dem Gremium, das die Wirtschaftspolitik der Alliierten in Europa bis zum Abschluss der Friedensverträge koordinierte, sowie als britischer Unterhändler in Versailles anwesend war. In einer seiner besten literarischen Fingerübungen hat der Ökonom seinem Gegenüber, dessen Sorgen er teilte und mit dem er jahrelang geheimdiplomatisch eng zusammenarbeitete, ein Denkmal gesetzt: «Nur er wahrte die Würde der Niederlage.»
Die ökonomische Ratio stand für die Alliierten nicht im Vordergrund, sondern vor allem die Verhinderung künftiger deutscher Macht.
Was die beiden Fachleute spontan verband, war ihre Frustration über die Amerikaner. Keynes suchte diesen Späteinsteigern in den Krieg einen Schuldenerlass und finanzielle Unterstützung abzuringen; Melchior empfand wie viele andere die Zusagen von Präsident Woodrow Wilson gegenüber Deutschland als Irreführung.
Die schweizerische Regierung – durch diplomatische Kontakte hatte sie nach Ausrufung der Republik die neue Reichsregierung von Beginn ihres Bestehens an unterstützt – hatte zwar Ende November eine Mitteilung des amerikanischen Aussenministers Robert Lansing vermittelt, nach der Wilson bereit sei, «die Versorgung Deutschlands mit Nahrungsmitteln in günstigem Sinn zu erwägen und diese Frage mit den verbündeten Regierungen sofort aufzunehmen». Doch davon konnten sich die Deutschen nichts kaufen, denn Wilson hatte die Rechnung ohne die anderen Alliierten gemacht, die dafür einen Preis setzen wollten. Erst im März 1919 war es so weit, Melchior konnte aus Brüssel kabeln: «abkommen (sic) gezeichnet». Im April kam es zu ersten Lieferungen.
Bei Melchiors Abreise am 16. Juni aus Versailles weilte auch Keynes nicht mehr in Frankreich. Den Vertragstext, der den Deutschen am 7. Mai übergeben worden war, hatte der Ökonom als «höllisch» gegeisselt, am 6. Juni hatte er alle Ämter niederlegt. Er fürchtete, eine Belastung Deutschlands über dessen Leistungsfähigkeit hinaus werde Europa ins Verderben treiben. Seine Kritik schrieb er im Buch «The Economic Consequences of the Peace» nieder, später auch in «A Revision of the Treaty». Doch die ökonomische Ratio stand für die Alliierten gar nicht im Vordergrund, sondern vor allem die Verhinderung künftiger deutscher Macht.
Die Sprengkraft von Artikel 231
An den Vorgängen in Versailles war für die deutsche Delegation besonders demütigend, dass sie gar nicht erst in mündliche Verhandlungen eintreten durfte – weshalb sich daheim rasch der Begriff des «Diktatfriedens» verbreitete. Man fühlte sich auch hier von Wilson getäuscht. In dessen «14 Punkten» war Anfang 1918 von einem «Frieden ohne Sieg» die Rede gewesen, von einer liberalen Neuordnung Europas in Selbstbestimmung und Einvernehmen. Die Deutschen hatten deshalb auf ein Kriegsende ohne schwere Sanktionen gesetzt.
Nach dem Vertrag galt es nun aber nicht nur Reparationen zu zahlen, sondern Deutschland verlor zudem 13 Prozent seines Gebiets und 10 Prozent der Bevölkerung; knapp 15 Prozent des Ackerlandes fielen weg; die abbaubaren Rohstofflager an Eisenerz, Zink und Steinkohle wurden dezimiert. Fast die ganze Handelsflotte und ein Viertel der Fischfangflotte wurden kassiert. Der deutsche Staat wurde weitgehend entmilitarisiert, das Rheinland in drei Zonen aufgeteilt und besetzt. Die Kolonien wurden unter den Siegermächten aufgeteilt. All dies musste die Wirtschaftskraft Deutschlands stärker beeinträchtigen als die Reparationszahlungen selbst, fürchtete Melchior.
Die grösste Sprengkraft des Versailler Vertragswerks aber entfaltete Artikel 231: «Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.» Das war das Gegenteil der üblichen «Vergessensklausel», die eine Dämpfung der Emotionen und einen Neubeginn ermöglichen sollte. Keine Spur also von einem «Frieden ohne Sieg».
Die unerhörte Grausamkeit des «Grossen Krieges» hatte den Siegernationen tiefe Ressentiments eingepflanzt, die in einer giftigen Kommunikation zum Ausdruck kamen.
Die Alliierten hatten den Passus auf Anraten des amerikanischen Anwalts und späteren Aussenministers John Foster Dulles als völkerrechtliche Basis für Reparationen eingefügt. Schliesslich sollte nicht mehr die Kungelei der Diplomaten dominieren, sondern neu das Recht, gesetzt unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit – so hatte es auch der einflussreiche liberale Publizist Walter Lippmann empfohlen, der Wilson beriet. Dass nebenbei ein massiver Vorwurf festgehalten wurde, kam den europäischen Alliierten entgegen, insbesondere dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau.
Die unerhörte Grausamkeit des «Grossen Krieges» hatte den Siegernationen tiefe Ressentiments eingepflanzt, die in einer giftigen Kommunikation zum Ausdruck kamen, mehr noch als im Vertragstext selbst. Dass gesichtswahrende Einigungen unmöglich geworden waren, verstärkte die Hilflosigkeit einer aristokratisch geprägten Diplomatenriege, die zudem auch noch im ungewohnten Licht einer demokratischen Öffentlichkeit agieren sollte. Die Deutschen verloren die Fassung und bissen sich an der Kriegsschuld fest, allen voran Aussenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau.
Gescheiterter Gegenentwurf
Wohl kaum einem Deutschen war es damals möglich, den Versailler Vertrag zu schätzen – und sei es nur dafür, dass er trotz aller Ranküne und allen Ungeschicktheiten auch den mutigen Versuch darstellte, in eine neue Zeit des internationalen Miteinanders aufzubrechen, vor allem mithilfe des durch ihn neu gegründeten Völkerbunds, der später auch Deutschland offenstehen sollte. Auch Melchior war entsetzt. Ihm stand vor Augen, wie gross schon in der kurzen Frist die finanziellen Belastungen sein würden, und er ahnte wohl, welche politische Dynamik die Kombination aus Kriegsschuldzuschreibung und Reparationsforderungen entfalten würde.
Zwar folgte im Vertrag auf den Kriegsschuldartikel unmittelbar die Einschränkung, eine volle Wiedergutmachung werde kaum möglich sein. Doch auch hier hatte Wilson ein Versprechen zurückgezogen: Es seien nur die zivilen Schäden zu ersetzen, hatte es ursprünglich geheissen. Inzwischen hatte sich Wilson, wie Melchior mutmasste, von Clemenceau und dem britischen Premierminister Lloyd George übertölpeln lassen.
In den letzten Wochen in Versailles hatte Melchior mit der Finanzkommission noch einen Gegenentwurf entwickelt, ein Konzept für einen «Frieden der ökonomischen Vernunft».
Wie hoch die Summe nun sein würde, blieb offen und wurde in die Hand eines Wiedergutmachungsausschusses gelegt, der weitreichende Rechte einer fiskalischen Aufsicht über Deutschland bekam. All dies gab angstvollen Spekulationen Auftrieb. «Damit hat unser öffentliches Leben nur noch den Schein, nicht mehr das Wesen wirklicher Souveränität», klagte Melchior. «Deutsches Eigentum ist vogelfrei.»
In den letzten Wochen in Versailles hatte Melchior mit der Finanzkommission der deutschen Delegation noch einen Gegenentwurf entwickelt, ein an der Leistungsfähigkeit Deutschlands anknüpfendes Konzept für einen «Frieden der ökonomischen Vernunft». Demnach sollte für die Reparationen ein fester Prozentsatz der Einnahmen des Deutschen Reiches zur Verfügung stehen. Die Gesamtsumme war auf immerhin 100 Milliarden Goldmark festgelegt. Dass auch diese Eingabe kategorisch abgewiesen wurde, lag wesentlich daran, dass die Deutschen dazu eine weitgehende territoriale Unversehrtheit ihres Landes wünschten. «Die Lebensluft und Ehre muss man Deutschland lassen», schrieb die Delegation. Doch wie auch Keynes urteilte, konnte ein solches Angebot von den Alliierten «kaum als ernsthaft angesehen werden».
Das Ringen geht weiter
Nach ihrer Abreise aus Versailles empfahl die deutsche Delegation Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann einstimmig und nachdrücklich, den Vertrag nicht zu unterzeichnen. Wie glaubwürdig die Invasionsdrohung der kriegsmüden Siegermächte war, war und ist strittig. Jedenfalls legte Scheidemann, der erst am 9. November 1918 die Republik ausgerufen hatte, am 20. Juni sein Amt nieder – nach einem Sitzungsmarathon der Nationalversammlung, die wegen der revolutionären Unruhen in Berlin nun in Weimar tagte. Brockdorff-Rantzau tat es ihm gleich.
Das Parlament stimmte dem Vertrag am 23. Juni zu. Scheidemanns Nachfolger wurde Gustav Bauer. Dieser entsandte zwei Minister, unter ihnen Hermann Müller, den neuen Aussenminister, zur Unterschrift nach Versailles. Die Ratifizierung folgte zügig.
Für Carl Melchior setzte sich danach die Arbeit umso intensiver fort, auch wenn daheim jeder Verhandlungserfolg als ungenügend bewertet wurde und ihm antisemitische Schmähungen eintrug. «Unser Schicksal – und damit das Schicksal des europäischen Kontinents – wird davon abhängen, ob wir den Wiedergutmachungsausschuss zur Einsicht bringen, dass die Grundlagen für die Begrenzung unserer Entschädigungspflicht nicht in den Zahlen und Mengen des Friedensvertrags, sondern in der Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, seiner Produktionsmöglichkeit und seiner Steuerkraft zu finden sind», sagte er vor der Gesellschaft Hamburger Juristen.
Das war nicht nur seine Agenda. Es war die dominierende, fatale Logik, nach der sich im Folgenden die Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten entwickelten: Es blieb ein Gegeneinander, das Ringen ging weiter. Partnerschaftlich wurde der Umgang nicht.
Gefährliches Spiel
Um zu verhindern, dass eine strikte Durchsetzung «ein Weltenunglück» verursachte, wie er fürchtete, kämpfte Carl Melchior fortan um eine Milderung der Folgen des Versailler Vertrags. Er war 1920 als Sachverständiger auf zwei Reparationskonferenzen im Einsatz und 1922 zudem auf der Konferenz von Genua, wo eine Neuordnung des Finanzsystems auf der Agenda stand.
In der Zwischenzeit hatte der Wiedergutmachungsausschuss die Gesamthöhe der deutschen Reparationszahlungen auf 132 Milliarden Goldmark beziffert, zahlbar binnen 57 Jahren, nachdem die Forderungen zuvor von 20 bis hin zu Phantasiebeträgen jenseits der 250 Milliarden Goldmark geschwankt hatten. Die deutsche Regierung hatte sich nun darauf verlegt, die Forderungen der Alliierten formal zu akzeptieren, um diesen dann aber vor Augen zu führen, dass sie nicht zu erfüllen waren – ein unwürdiges, gefährliches Spiel, das mitnichten zur Vertrauensbildung beitrug, sondern Deutschland 1923 auch noch die Ruhrbesetzung eintrug.
Der als «Erfüllungspolitik» diffamierte scheinbare Kotau kostete den Finanzminister Matthias Erzberger von der Zentrumspartei wie auch den liberalen Aussenminister Walther Rathenau das Leben. Beide wurden von antisemitischen Rechtsterroristen ermordet.
Allein weil die Zunahme der Zahl an Nullen die Schreibarbeit in der Buchhaltung vervielfachte, musste das Bankhaus M. M. Warburg & Co. immer mehr Angestellte beschäftigen.
Zu den Kollateralschäden der Politik in diesen Jahren gehörte eine dramatische Hyperinflation, verursacht durch die übermässige Ausweitung der Geldmenge in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Sie erfasste nicht die Reparationsleistungen, die in Goldmark, Devisen und Sachgütern zu erfolgen hatten. Dennoch erschien die Lage auch den Alliierten dramatisch. Die Mark hatte 1922 noch ein Tausendstel ihres Wertes von 1914. Allein weil die Zunahme der Zahl an Nullen die Schreibarbeit in der Buchhaltung vervielfachte, musste das Bankhaus M. M. Warburg & Co. immer mehr Angestellte beschäftigen; die Zahl stieg von 174 im Jahr 1919 auf 505 im Jahr 1923.
Im November 1923 kam es zum Währungsschnitt und zur Einführung der Rentenmark. Der Wiedergutmachungsausschuss knüpfte daraufhin die Zahlungspflicht, wie von Melchior beabsichtigt und auch von Keynes gefordert, an die Leistungsfähigkeit. Dieser sogenannte Dawes-Plan von 1924 ermöglichte einen frischen Kapitalzufluss nach Deutschland.
Wenig später, im Jahr 1926, fand Deutschland schliesslich Aufnahme in den Völkerbund, dem am Ende ausgerechnet die Amerikaner ferngeblieben waren. Melchior wurde deutscher Repräsentant im Finanzausschuss und 1930 sogar dessen Vorsitzender. In den Jahren 1929 und 1930 reiste er abermals nach Paris und nach Den Haag, um an den Verhandlungen zum Young-Plan teilzunehmen, der als letzter Reparationsvertrag den Dawes-Plan ablösen sollte.
Man einigte sich auf eine Jahreszahlung von rund 2 Milliarden Reichsmark und eine vorzeitige Freigabe des Rheinlands. Der damalige Reichskanzler Hermann Müller, der als Aussenminister noch seine Unterschrift unter den Versailler Vertrag hatte setzen müssen, dankte Melchior im Januar 1930 mit einem offenen Brief, in dem er inständig bat, bei Bedarf wieder auf ihn zählen zu dürfen. Zwei Monate später freilich war auch dieser Reichskanzler verschlissen.
Ernte in Lausanne
Im April 1930 wurde Melchior als stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrats an die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel berufen, deren Einrichtung Teil des Young-Plans war. Die Aufgabe dieses Instituts sollte es sein, die Reparationszahlungen zu bündeln und zu verteilen. Heute fungiert die BIZ als Bank der Zentralbanken und spielt zudem eine wichtige Rolle in der Bankenaufsicht.
Die Ernte seiner langjährigen diplomatischen Bemühungen konnte Melchior endlich im Sommer 1932 ebenfalls in der Schweiz einfahren, auf der Lausanner Konferenz im Château d’Ouchy, die er wie stets mit vorbereitet hatte: das Erlöschen der Reparationspflichten. Im Vertrag war noch eine Restzahlung vereinbart worden, doch dazu kam es nicht mehr, dank einem «Gentlemen’s Agreement», wie Melchior es nannte, weil die Alliierten über den noch ausstehenden Schuldenausgleich untereinander uneins waren. Damit jedenfalls hatte das im Versailler Vertrag angelegte fortgesetzte Ringen zwischen Deutschland und den Siegermächten vorläufig ein Ende. Insgesamt hat Deutschland am Ende nach eigener Rechnung knapp 70 Milliarden Goldmark an Reparationen bezahlt.
Privates Glück kommt spät
Jahrzehntelang ständig per Eisenbahn in Europa unterwegs, doppelt belastet im Dienst für Bank und Vaterland, mit schier endlosen Arbeitstagen, ist Melchior als Privatperson womöglich auch deshalb wenig bekannt, weil sein Privatleben mit seinem Berufsleben weitgehend in eins fiel. In Hamburg teilte er mit seiner Schwester Clara eine Villa am Rothenbaum; heute ist dort das Institut Français untergebracht. Er besass eine stattliche Gemäldesammlung der klassischen Moderne, und von Auslandsreisen brachte er antike Kunstgegenstände mit.
Von 1930 an dürfte Marie de Molènes ein regelmässiger Gast gewesen sein. Während der Pariser Konferenz zum Young-Plan hatte der Junggeselle die 28 Jahre jüngere, in zweiter Ehe verwitwete Schwester eines Anwalts und sozialistischen Politikers kennengelernt. Einer Adelsfamilie aus der Dordogne entstammend, klassisch gebildet und polyglott, schrieb sie an einem Entwicklungsroman, «Fortunade à Berlin», von dem sie wünschte, er möge die deutsch-französische Verständigung voranbringen, «von der unsere Zukunft und der europäische Frieden abhängen».
Melchiors Lebenswerk, die Erleichterung der ökonomischen Bedingungen des Friedensvertrages, hatte gegen die Wucht der destruktiven Kräfte nicht ausgereicht.
Das Jahr von Carl Melchiors grösstem Erfolg, 1932, markierte zugleich das Ende seiner Karriere und den Vorabend des dunkelsten Kapitels in der Geschichte Deutschlands. Sein Lebenswerk, die Erleichterung der ökonomischen Bedingungen des Friedensvertrages, hatte gegen die Wucht der in Deutschland wirksamen destruktiven Kräfte nicht ausgereicht. Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, im Februar brannte der Reichstag, im März wurde die NSDAP stärkste Partei, im April wurden die ersten Judengesetze erlassen.
Melchior kam der Abberufung von seinem Direktoriumsposten bei der BIZ per Rücktritt zuvor. Auch für Warburg und die Bank wurde die Luft immer dünner. Viele Geschäftskontakte froren ein. Notgedrungen widmeten sich die Teilhaber fortan vor allem jüdischen Belangen. Melchior baute den Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau unter der Leitung des Berliner Oberrabbiners Leo Baeck mit auf. Der Ausschuss widmete sich der Wohlfahrtspflege und half Menschen, denen die Judengesetze den Lebensunterhalt raubten.
Die Sommermonate musste Melchior im Sanatorium verbringen. Im September heiratete er in Paris seine Gefährtin; die beiden erwarteten ein Kind. Charles Melchior de Molènes, «le petit Carl», wie ihn die Mutter zärtlich nannte, kam am 9. März 1934 auf die Welt. Der Vater war da schon neun Wochen tot. Carl Melchior, krank, erschöpft und bei allem privaten Glück auch in grosser Sorge um die Zukunft, war am 30. Dezember in Hamburg gestorben. Das ganze Ausmass des Zivilisationsbruchs zu erleben, der nun folgte, blieb ihm erspart.
Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Universität Erfurt. Sie lebt in Zürich.
… hatte ihr erster Rektor, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, seine berühmt-berüchtigten «Reden an die deutsche Nation» gehalten. Im Dezember 1807, also noch während der französischen Besatzungszeit. Es war also historisch begründet, dass die sonst in Weimar tagende Nationalversammlung zur Aussprache über Annahme oder Ablehnung des verhassten Versailler Friedensvertrages am 12. Mai 1919 an diesem Ort zusammentrat.
Nun appellierte der sozialdemokratische Regierungschef Philipp
Scheidemann an die Nation, mit ihm und seiner Regierung den Alleinschuldvorwurf der Alliierten als «unannehmbar» abzulehnen. Er zählte längst zu den populärsten Politikern seiner Zeit, hatte wenige Monate zuvor von einem Reichstagsbalkon die erste deutsche Republik ausgerufen und besass ein Gespür für den dramatischen Augenblick – und für wirkungsmächtige, potenziell geflügelte Worte: «Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?», rief er seinen Abgeordnetenkollegen28 zu, und die Versammlung dankte ihm dafür, parteiübergreifend – stehend, mit minutenlangem Beifall. Eine national-parlamentarische Einigung im Erregungszustand, gut und schön. Aber was sollte danach kommen? Die Frage war von existenzieller Bedeutung. Denn Deutschland drohten im Fall einer Nichtunterzeichnung schlimmere Sanktionen als Schuldparagraphen und Reparationen – Besetzung, Abspaltung, der Zerfall des föderativen Staatsgebildes.
Einmal mehr musste der Reichspräsident eingreifen. Friedrich Ebert war zum Äussersten entschlossen und drohte mit seinem Rücktritt. Es gelang ihm, aus engen Vertrauten ein «Unterzeichnungskabinett» zu bilden. Als aber bekanntwurde, dass im Falle einer Annahme der Schuld- und Auslieferungsparagraphen die Reichswehr putschen würde, machte sich Panik breit. Besetzung und Teilung des Landes durch die Siegermächte von aussen und Bürgerkrieg im Innern, Finis Germania?
Friedenstelegramm und Protestnote
Wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums der Entente bat Friedrich Ebert die Parteiführer um eine gemeinsame Erklärung an die Truppe, «in schwerster Zeit ein Beispiel der Selbstverleugnung und der Aufopferung zu geben und Hand in Hand mit den anderen Volksgenossen an der Wiederaufrichtung unseres Vaterlandes» zu arbeiten. Zur gleichen Zeit erschien ein Aufruf der Regierung: «An das deutsche Volk! Die Reichsregierung hat mit der Zustimmung der Nationalversammlung erklärt, den Friedensvertrag zu unterschreiben. Schwersten Herzens, unter dem Druck der rücksichtslosesten Gewalt, nur in dem einen Gedanken: unserem wehrlosen Volke neue Kriegsopfer und Hungerqualen zu ersparen.»
Davon ganz unbeeindruckt, setzte bei Mannheim schon am frühen Abend des 23. Juni ein Bataillon über den Rhein. Die Franzosen hatten es eilig, der Forderung der Sieger Geltung zu verschaffen. Nur mit Mühe konnten sie zurückgehalten werden. Friedenstelegramm und Protestnote waren Hermann Müllers erste Amtshandlungen. Am Vortag hatte ihm der Reichspräsident die Leitung des Auswärtigen Amtes übertragen. Müller war in der elitären Diplomatenbehörde der erste Sozialdemokrat, einer der ersten Nichtaristokraten und mit gerade 43 Jahren auch einer der Jüngsten. Ohne Erfahrungen war er nicht. Während des Krieges hatte er an zahlreichen Konferenzen der gespaltenen II. Internationale teilgenommen. Noch am Vorabend des Krieges entsandte ihn der Parteivorstand zu einer Erkundungsmission nach Paris. Mancher glaubte wohl, er könne den Kriegsausbruch aufhalten, die französischen Genossen womöglich für eine gemeinsame Ablehnung der Kriegskredite gewinnen. Vergeblich.
Was Müller am 1. August 1914 nicht mehr verhindern konnte, musste er jetzt von Amts wegen liquidieren. Am Abend des 26. Juni 1919 stieg er mit seinem Kabinettskollegen Johannes Bell (Z) und einer kleinen Delegation in den Nachtzug nach Köln. Dort erhielt die Reisegruppe Gesellschaft durch Offiziere der Entente. Zwischenfälle sollten vermieden werden. Vor allem aber sollten die beiden Minister die Zerstörungen in Belgien und in Nordostfrankreich mit eigenen Augen sehen. Der Zug fuhr langsam. Nach über dreissigstündiger Reisezeit erreichte er den kleinen Bahnhof Saint-Cyr-l’Ecole bei Versailles. Eilig wurden die Deutschen in gepanzerten Limousinen zum Hôtel des Réservoirs gefahren. Das Protokoll des welthistorischen Ereignisses lief im Minutentakt ab. Dann ging es zum Schloss. Sofort führte man sie hinauf zum Spiegelsaal, hastig vorbei an den herausgeputzten Damen der Pariser Gesellschaft, die sich, auf Stühlen stehend, mit ihren Lorgnetten ein genaues Bild von den Repräsentanten aus dem so verachteten wie gefürchteten Nachbarland machen wollten. Da rief auch schon die raue Kommandostimme Clemenceaus: «Faites entrer les Allemands», und sogleich führte der Chef des Protokolls Bell und Müller herein – wie Angeklagte vor Gericht. Abermals krächzte die Stimme des Ministerpräsidenten: «Messieurs, la séance est ouverte», und forderte die deutschen Bevollmächtigten auf, ihre Unterschriften unter den Vertrag zu setzen.
Der französische Premier sass unter jenem Deckenfries, das Ludwig XIV. zeigt und mit dem Schriftzug «Le roi gouverne par lui-même» versehen ist. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte an diesem Ort die mit viel Symbolik überhöhte Reichsgründung stattgefunden, war der preussische König zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen worden. Für diese Demütigung rächten die Franzosen sich jetzt. Die bereitliegenden Federhalter waren u. a. von Elsass-Lothringen gestiftet. Aber der deutsche Aussenminister wusste davon und unterschrieb mit dem eigenen. Anderntags argwöhnte die Presse Täuschung und befürchtete, dass der Vertrag ungültig sei, weil mit unsichtbarer Tinte unterzeichnet.
So schnell, wie man die Deutschen in den Spiegelsaal hineingeführt hatte, wurden sie auch wieder hinausgeführt – als wären sie verurteilte Kriegsverbrecher und hätten im Kreis der internationalen Staatengemeinschaft keinen Platz mehr. Die Weltöffentlichkeit wollte sie so sehen. Man bat Müller, die Nacht zu bleiben, um Komplikationen zu vermeiden; ganz Frankreich war auf den Beinen und feierte ausgelassen den Triumph. Aber er drängte zur sofortigen Rückreise. Müller musste zwar nicht, wie 1914, befürchten, interniert zu werden. Mit Komplikationen war allerdings durchaus zu rechnen.
Als Steine gegen den deutschen Sonderzug flogen und Fensterscheiben splitterten, wollten die Begleitoffiziere den Zug anhalten lassen. Doch der frankophone Aussenminister winkte freundlich ab. Er wolle aus solchem Übermut und Unfug keinen diplomatischen Zwischenfall machen. Im Rückblick resümierte er diesen ereignisreichen Tag: Der so umstrittene Versailler Vertrag war unterschrieben, um Schlimmeres zu vermeiden, «aber der Kampf um den wahren Frieden» werde erst beginnen.
Zwei deutsche Vorkämpfer
So war es nur konsequent, dass Hermann Müller in dem knappen Jahr seiner Amtsführung und natürlich später auch als Partei- und Fraktionsvorsitzender auf allen Feldern tätig wurde, mit denen es die deutsche Aussenpolitik damals zu tun hatte: den Schülerschen Reformen zur Überwindung der antiquierten Strukturen des Auswärtigen Amtes, der Demilitarisierung des Baltikums, der hochkontroversen Debatte um die Kriegsschuld- und Kriegsverbrecherfrage, dem Verhältnis zu Frankreich, England und den USA, der europäischen Nachkriegsordnung, Spa, Locarno, Rapallo, dem London-Abkommen, dem Dawes-Plan bis hin zur abschliessenden Reparationsregulierung mit der Verabschiedung der Young-Plan-Gesetze und der vorzeitigen Rheinlandräumung in seiner zweiten Kanzlerschaft von 1928 bis 1930.
Hermann Müller war nicht zuletzt als sozialdemokratischer Aussenminister auch der erste Sprecher, der vor der Nationalversammlung am 23. Juli 1919 die programmatischen Grundlagen der neuen, republikanischen Aussenpolitik Deutschlands vorstellte und begründete. Er nahm dabei Bezug auf die Friedensresolution der demokratischen Mehrheit des kaiserlichen Reichstages von 1917, distanzierte sich entschieden vom Militarismus und Chauvinismus des untergegangenen monarchischen Nationalstaates und plädierte umso entschiedener dafür, dass Deutschland auf «freiheitlichen Bahnen» vorangehen müsse, wenn es denn in die Staatengemeinschaft zurückkehren, auf dem Auslandsmarkt wieder deutsche Exportware absetzen und eines Tages auch wieder «moralische Eroberungen in der Welt» machen wolle. Zwar sei es durch den «härtesten Frieden der Weltgeschichte» gefesselt, aber es habe sich zur «loyalen Erfüllung des Friedensvertrages» verpflichtet; «selbst wenn wir bis zur Grenze unserer Fähigkeiten gehen müssen», fügte er beschwörend hinzu.
Müller sprach auch über die besonders leidgeprüften Belgier und Franzosen. Ausdrücklich bekannte er, dass sich Deutschland durch Verletzung der belgischen Neutralität vor der ganzen Welt ins Unrecht gesetzt habe. Und versprach Wiedergutmachung durch tätige Hilfe beim Wiederaufbau. Als frankophiler Sprecher der neuen deutschen Aussenpolitik verbeugte sich Müller auch vor den Franzosen. Kein Volk habe so viele Opfer zu beklagen und kein Land solche Verwüstungen. Auch hier sagte er vor allem für den Wiederaufbau im Nordosten Frankreichs Hilfe zu und appellierte an seine Landsleute, Verständnis aufzubringen für die deutschfeindliche Einstellung unter den Franzosen.
Schon in der nur neunmonatigen Übergangszeit seiner Amtsführung gelang es ihm, Anerkennung und Ansehen zu erwerben. Müller nahm die Politik Stresemanns um Jahre vorweg. Er hat sie zudem in den zwanziger Jahren immer wieder gegen den agitatorischen Widerspruch der rechtsnationalen Parteien parlamentarisch durchgesetzt, auch wenn sich die SPD nach dem Krisen- und Putschjahr von 1923 bis 1928 in die Opposition zurückzog.
Stresemanns Name steht völlig zu Recht für die aussenpolitischen Erfolge Weimars und die kurzzeitige Rückkehr Deutschlands in die europäische Staatengemeinschaft. Aber als Hermann Müller bereits eine europäische Friedens- und Versöhnungspolitik konzipierte, die auf Verständigung, Vertragserfüllung und Revision der Versailler Sanktionen beruhen sollte, dachte der später gefeierte Friedensnobelpreisträger noch in den alten Mustern des «Machtfriedens». Der Weg vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner und Locarnopolitiker war lang, Stresemann hat ihn in bemerkenswert kurzer Zeit zurückgelegt. Er konnte dabei allerdings auf die Unterstützung des aussenpolitisch stets koalitionsbereiten Sozialdemokraten Hermann Müller zählen.
In den deutschen Aussenministern Gustav Stresemann und Hermann Müller, die beide auch Reichskanzler waren, hatte die befriedete und freiheitliche Europäische Union zwei bemerkenswerte deutsche Vorkämpfer, das sollte hundert Jahre nach Versailles nicht vergessen werden.
… innerhalb der Nato hat die Nordatlantische Allianz in eine Krise gestürzt. Bei Ihrem Besuch in Berlin letzte Woche erhielten Sie erneut keine Zusage, dass die Deutschen ihre Militärausgaben deutlich erhöhen werden. Ist das Überleben der Nato gefährdet?
Mike Pompeo: Jedes Land sollte seine Verpflichtungen einhalten. Die deutsche Regierung sagte zu, ihre Verteidigungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Das hat ihr nicht Amerika aufgezwungen, das war ihre eigene Zusage. Aber wichtiger noch ist: Die USA haben nicht aufgehört, in multilateralen Organisationen mitzumachen; wir tragen 60 Prozent der Lasten innerhalb der Nato. Ich würde argumentieren, dass die Dinge damit verkehrtherum sind.
Bedauerlicherweise gibt es Länder, die ihre Versprechungen nicht einhalten. Sie reden zwar von Multilateralismus, wir aber handeln danach, wir leben ihn. Ohne das Modell der kollektiven Verteidigung besteht das Risiko, dass die Nato zu zerfallen beginnt. Wenn die Bürger von Nato-Staaten glauben, sie könnten Trittbrett fahren und sich für ihren Schutz auf die USA verlassen, so irren sie sich. Die Mitglieder müssen einen Teil ihrer Verteidigung selber übernehmen. Dieses Ungleichgewicht, wie es nun schon seit längerem besteht, kann nicht ewig andauern.
[…]
______________________
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat zu „Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und uns selbst“ aufgerufen. „Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheit nennen und nicht Wahrheit Lügen“, sagte sie am Donnerstagabend vor rund 20.000 Absolventen, Angehörigen und Professoren in einer ungewöhnlich emotionalen Rede an der US-Eliteuniversität Harvard.
… auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie: Sie entwickeln Reaktoren (Terrestrial Energy), bauen eigene Kernkraftwerke (CANDU-Baureihe von Schwerwasserreaktoren) und betreiben sie seit Jahrzehnten sehr erfolgreich (Anteil etwa 15 Prozent an der Stromproduktion). Damit widerlegen sie gleich zwei Argumentationsketten der „Atomkraftgegner“:
Erstens: Kanada zeigt, dass es keinen Zusammenhang zwischen der friedlichen Nutzung der Kernenergie und dem Streben nach Kernwaffen gibt. Man kann sehr wohl erfolgreich Kerntechnik ohne einschlägige Rüstungsindustrie betreiben. In der vollen Bandbreite von Grundlagen-Forschung über Entwicklung bis hin zur Produktion – wie einst auch in Deutschland.
Zweitens: Kanada ist nicht nur mit schier unerschöpflichen Vorkommen an fossilen Energien (Erdgas, Kohle und Öl), sondern auch mit sogenannten „Alternativenergien“ (Wasserkraft, Wind und Holz) reichlich gesegnet. Es wäre damit nahezu frei in seiner Entscheidung, welche Energieformen genutzt werden sollen. Diese Entscheidungsfreiheit haben Länder wie Frankreich, Deutschland, Süd-Korea oder Japan wegen ihrer eingeschränkten Ressourcen leider nicht. Kanada teilt aber mit vergleichbaren Ländern wie Russland oder Brasilien den Nachteil schierer Ausdehnung. Beispielsweise befinden sich geeignete Flüsse nicht unbedingt in der Nähe der großen Städte beziehungsweise der Industriezentren.
… Deutschlands kommt nicht allein ins Erfurter Steigerwaldstadion. Bevor Thilo Sarrazin den Parksaal betritt, in dem etwa 550 Menschen auf ihn warten, haben sich mehrere Personenschützer im fußballfeldgroßen Raum postiert. Sarrazin hat in den vergangenen neun Jahren über zwei Millionen Bücher verkauft, aber für seine Bekanntheit, seinen Erfolg, seine Lust am peniblen Widerspruch zahlt er einen hohen Preis. Er wird bedroht, offen, anonym, frei bewegen kann er sich nicht mehr.
Fast drei Dutzend Lesungen hat Sarrazin in diesem Jahr schon hinter sich gebracht, in denen er sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ präsentiert. Doch die Lesung in der thüringischen Landeshauptstadt am Mittwochabend fällt aus dem üblichen Rahmen. Denn Sarrazin, gegen den inzwischen das dritte Parteiausschlussverfahren in der SPD läuft, ist von einem Sozialdemokraten eingeladen worden.
Es sei „einiges unternommen worden, um diese Veranstaltung zu verhindern“, eröffnet der Gastgeber den Abend um Punkt 19 Uhr. Als Ende März bekannt wurde, dass der sozialdemokratische Stadtrat und Landtagsabgeordnete Oskar Helmerich ausgerechnet den SPD-Außenseiter Sarrazin zu einer Wahlkampfveranstaltung einladen würde, ging die Thüringer Parteiführung sofort auf Distanz. Trotz großen Drucks sagte Helmerich den Termin nicht ab. „Ideologischer Bevormundung muss man die Stirn bieten!“, ruft er in den Saal und erntet Applaus. Dann ruft jemand: „Verräter!“
Bevor Helmerich vor drei Jahren in die SPD eintrat, war er ein führendes Mitglied der Thüringer AfD. Er verließ die Partei, weil er den rechtsradikalen Kurs von Björn Höcke nicht länger mittragen wollte. Mit der AfD verbindet ihn seitdem eine innige Feindschaft, wie auch der Zwischenruf zeigt. In der SPD halten ihn dagegen manche für ein „U-Boot der AfD“ und fordern, er möge die Partei verlassen. Helmerich, der Gastgeber, sitzt politisch zwischen allen Stühlen. Aber heute Abend geht es nicht um ihn. Die Bühne gehört Sarrazin. Seinetwegen haben die Gäste 24 Euro Eintritt bezahlt, jetzt muss er auch liefern.
Und das tut er. Sarrazin beklagt gleich in seinem Eingangsreferat, dass die Politik in Deutschland inzwischen nur noch „verdrängt, was man nicht sehen will“. Kaum ein Kritiker hätte sein Buch wirklich gelesen, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk käme er, Sarrazin, gar nicht mehr vor. Noch nie sei „eine einzige Aussage von mir rechtlich angegriffen worden“ sagt er weiter, um dann zum eigentlichen Thema des Abends zu kommen: dem Islam.
Er habe den Koran gelesen und vor allem Düsternis gefunden: Intoleranz und Gewalt. Der Islam behindere „Wissbegier und Emanzipation, Meinungsfreiheit und Demokratie“; die Verneinung des Individuellen im Islam und die Moderne seien schlicht „nicht kompatibel“. Die hohen Geburtenraten von muslimischen Frauen seien voller „demografischer Sprengkraft“, diese Religion habe bisher keinen Beitrag zu Wissenschaft und Technik geleistet. So geht das etwa 20 Minuten, am Ende von Sarrazins Vortrag bleibt vom Islam und der muslimischen Welt, in der immerhin 1,57 Milliarden Menschen leben, im Grunde nur ein Häufchen Asche übrig. „Ich kann mich ja irren“, sagt Sarrazin, „dann soll man mir halt widersprechen.“
Für diesen Widerspruch sind zwei Mitglieder der Erfurter Ahmadiyya-Gemeinde in den Parksaal gekommen, die Publizistin Maryam Hübsch und der Gemeindesprecher Suleman Malik. Man kennt diesen Schlagabtausch: Sie werfen Sarrazin vor, nur bestimmte Suren aus dem Koran zu zitieren, und betonen gleichzeitig Friedfertigkeit und den festen Willen zur Reform.
Sarrazin kontert, dass die Anhänger der in Britisch-Indien gegründeten Ahmadiyya-Bewegung ja selbst in islamischen Ländern verfolgt würden. Muslime, die sich gegen die politische Brutalisierung des Islam stemmen und ihren gesetzeskonformen Weg in säkularen Gesellschaften gehen wollen, sind für ihn eigentlich eine statistische Anomalie. Der Trend sieht anders aus, sagt er, wenn der Islam an die Macht komme, werde er zur Ideologie.
Im Grunde könnte das eine interessante Debatte werden, denn auch Sarrazin räumt ein, dass es „drei blutige Jahrhunderte“ gedauert habe, bis sich Europa von der Herrschaftsideologie des Christentums befreien oder die angestammte Religion im Abendland doch zumindest in Schach gehalten werden konnte. Aber nicht wenige im Publikum scheint dieser christliche Rückblick in die islamische Gegenwart zu überfordern.
Am Ende zeigt sich die tiefe Kluft
Wenn Hübsch oder Malik das Wort ergreifen, setzt im Parksaal sofort ein Murmelchor ein, der anschwillt, bis gebrüllt wird. „Geh doch in dein Land!“, ruft ein Erfurter Hübsch zu. Sie trägt Kopftuch, aber sie ist die Tochter eines Deutschen, wurde in Frankfurt geboren. Sie ist nicht willkommen im Steigerwaldstadion, sie wird geduldet. Sarrazin ermahnt das Publikum, die Beiträge seiner Kontrahenten „jetzt einfach mal auszuhalten“. Es klingt gönnerhaft.
Auch Wolfgang Tiefensee, der Chef der Thüringer SPD, ist im Saal. Aufs Podium will er nicht. In einer zehnminütigen Rede betont er, was alle längst wissen: Das hier sei keine Veranstaltung der SPD. Sarrazin sei ein „sehr intelligenter Mann“ (Beifall), aber man müsse doch darüber nachdenken, „was aus seinen Thesen folgt, wo das hinführt“ (Buh-Rufe).
Andere gehen ohne Buch nach Hause. Am Ausgang hat die Ahmadiyya-Gemeinde einen Info-Stand aufgebaut, junge Muslime verteilen „Fakten und Argumente“ zum Thema Islam, „eine Antwort auf die Vorwürfe der AfD“. Suleman Malik sagt, es seien auch Antworten auf Sarrazin. Manche Besucher packen die Broschüre ein, sie kostet nichts. Andere werden wütend: „Ihr verseucht mit euren Moscheen unser ganzes Land“, brüllt ein älterer Herr einen jungen Muslim an, der die Heftchen verteilt. „Sie sind ja radikal!“, gibt der zurück. Der Mann baut sich drohend auf, ein Freund zerrt ihn aus dem Stadion, „bringt doch nix!“. Beim Rausgehen ruft der Deutsche dem Muslim noch zu: „Man sieht sich im Leben immer zwei Mal!“
Es klingt nicht wie die Verabredung zum Dialog. Oskar Helmerich glaubt, es wäre eine erfolgreiche Veranstaltung gewesen.