Fehlannahme 1:
Wenn die Inzidenzwerte steigen, müssen unweigerlich neue Maßnahmen ergriffen werden.
Dass Inzidenzwerte für sich genommen kein geeigneter Parameter sind, um zu bestimmen, welche Maßnahmen im Kampf gegen das Virus zu ergreifen sind, sollte eigentlich unbestritten sein. Auch das Gesundheitsministerium will fortan nicht länger zentral auf Inzidenzwerte setzen. In den Fokus soll stattdessen insbesondere die Zahl der Hospitalisierungen von Corona-Patienten rücken.
Das ist ohne Zweifel der richtige Ansatz. Die Inzidenzwerte sagen nichts darüber aus, ob jemand tatsächlich Symptome zeigt – geschweige denn, dass eine Lebensgefahr besteht oder ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist. Nur zur Verhinderung dieser Gefahren können staatliche Eingriffsmaßnahmen aber zulässig sein. Zu Beginn der Pandemie mag die Inzidenz ein sinnvoller Orientierungswert gewesen sein; heute haben wir aber genug Informationen über die Wirkung des Virus für verschiedene Personengruppen, um die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen deutlich differenzierter beurteilen zu können.
Trotz dieser Einsicht hält sich die Auffassung, dass hohe Inzidenzen unbedingt – und notfalls auch mit staatlichen Freiheitsbeeinträchtigungen – vermieden werden müssen. In aktuellen Medienberichten wird immer wieder warnend hervorgehoben, dass die Infektionszahlen steigen. Der Anstieg der Inzidenzen spätestens im Herbst oder Winter ist aber nicht nur völlig vorhersehbar, er ist für sich genommen auch nicht problematisch.
Da Angehörige von Risikogruppen zunehmend einen vollständigen Impfschutz erlangt haben, sind erhöhte Inzidenzwerte in erster Linie auf Infektionen bei jüngeren Menschen zurückzuführen. Für diese Gruppe stellt Corona aber in der Regel keine Gesundheitsgefahr dar, die über solche Risiken hinausgeht, die wir als Gesellschaft auch sonst als allgemeines Lebensrisiko hinzunehmen bereit sind. Selbst bei stark erhöhten Inzidenzwerten ist daher nicht ohne Weiteres damit zu rechnen, dass es zu einem Kollaps des Gesundheitssystems kommt.
Es ist also ein verbreiteter Irrtum, dass steigende Inzidenzwerte unweigerlich neue, eingriffsintensive Corona-Schutzmaßnahmen erforderlich machen. Sofern die Ansteckung infolge eines Angebots effektiver Impfungen lediglich mit einem allgemeinen Lebensrisiko verbunden ist und zugleich keine Überforderung des Gesundheitssystems droht, dürfen an Inzidenzwerte keine staatlichen Maßnahmen geknüpft werden. Aufgeregte Berichte über steigende Infektionszahlen verzerren die reale Risikosituation in Deutschland. Medien und Politik sollten stattdessen jetzt konsequent auf andere Daten wie die Hospitalisierungen und Todesfälle schauen.
Fehlannahme 2:
Es müssen mindestens 80 bis 85 Prozent der Deutschen geimpft sein, bevor die Maßnahmen enden können.
Diese Einschätzung liest man derzeit immer wieder. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, hat sich bereits vor einer Weile entsprechend geäußert. Jüngst legte der SPD-Politiker Carsten Schneider nach: Wenn nicht ausreichend Menschen geimpft seien, gebe es „das alte, normale Leben nicht zurück“.
Diese Aussage verbindet ein gefährliches Staatsverständnis mit einer unverhältnismäßigen Pandemiepolitik. Erst einmal geht es nicht darum, dass der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern ihr normales Leben wie ein Geschenk zurückgeben darf oder auch nicht. Das normale Leben ist nichts anderes als die Ausübung der Grundrechte, die uns das Grundgesetz gewährt – und die aus gutem Grund Eingriffe des Staates einschränken. Jede einzelne staatliche Maßnahme muss sich am Verhältnismäßigkeitsprinzip messen lassen; wenn sie diesen Test nicht besteht, ist sie verfassungswidrig.
Nun soll es nach Schneider weitere „extreme Einschränkungen“ geben, wenn sich Menschen nicht impfen lassen. Das klingt wie eine Kollektivstrafe, die den sozialen Druck auf Ungeimpfte verstärken soll. Wer sich nicht impfen lässt, ist schuld daran, dass Kinder nicht in die Schule gehen dürfen, Restaurants geschlossen bleiben müssen und Familien sich nicht treffen können.
So funktioniert das Recht aber nicht. Freiheitsbeschränkungen sind nicht zulässig, um Unwillige zu einer Impfung zu „motivieren“. Der Staat hat seine Bürgerinnen und Bürger vor besonderen Gefahren zu bewahren, die über ein allgemeines Lebensrisiko hinausgehen. Bei Covid-19 besteht eine solche Gefahr für die Risikogruppen, sie muss der Staat schützen. Wenn die Mitglieder der Risikogruppe (und erst recht, wenn alle Bürgerinnen und Bürger) ein Impfangebot erhalten haben und sich damit wirksam gegen eine Infektion schützen können, entfällt die Legitimation für staatliche Grundrechtseingriffe.
Das gilt selbstverständlich auch dann, wenn sich viele Menschen in Deutschland gegen eine Impfung entscheiden sollten. Es ist die freie Entscheidung eines jeden Einzelnen, das Risiko einer Erkrankung mit Covid-19 einzugehen. Wer nicht zur Risikogruppe gehört, kann dafür gute Gründe haben. Und selbst wenn der Verzicht auf eine Impfung medizinisch unvernünftig sein sollte – jeder Mensch darf für sich irrationale Entscheidungen treffen, auch das ist Ausdruck von Autonomie.
Begründen kann man die Notwendigkeit einer bestimmten Impfquote daher nur mit dem Ziel einer Herdenimmunität, die auch Personen schützt, die sich nicht durch eine Impfung selbst schützen können. Soll das aber die Grundlage für staatliche Eingriffe sein, brauchen wir deutlich mehr Informationen. Wie viele Personen, für die Covid-19 ein erhebliches Risiko darstellt (denn nur für die hat der Staat einen Schutzauftrag), können sich tatsächlich dauerhaft nicht impfen lassen? Und gibt es andere Möglichkeiten, ihr Infektionsrisiko gering zu halten – etwa auch Hilfe beim Selbstschutz beispielsweise in Pflegeeinrichtungen?
Es ist verwunderlich, dass die Kritik an den Ungeimpften und die Forderung nach für sie spürbaren Nachteilen immer lauter wird, ohne dass diese Punkte ernsthaft diskutiert werden. Die „Zeit“ verstieg sich sogar zu der Aussage, dass eine „Diskriminierung“ von Ungeimpften ethisch gerechtfertigt sei.
Hieran könnte ein grundlegender Denkfehler schuld sein: Die Pandemie ist nur überwunden, wenn sich alle impfen lassen. Wer sich nicht impfen lässt, der hält die Pandemie am Laufen – so etwa der reißerische Titel des „Spiegel“: „Impfen? Irgendwann. Vielleicht. Wie Ignoranz und Zweifel den Sieg über die Seuche vereiteln“. Das Virus wird sich aber wohl nicht „besiegen“ lassen – und darum geht es auch gar nicht. Der Grund für staatliche Maßnahmen entfällt nicht erst dann, wenn kein einziger Corona-Fall mehr gemeldet wird. Sondern dann, wenn sich die Risikogruppe wirksam schützen kann. Dafür brauchen wir keine bestimmte Impfquote.
In jedem Fall unzulässig ist das vom SPD-Politiker Schneider in Aussicht gestellte Vorgehen, nämlich bei fehlender Herdenimmunität die Freiheiten sämtlicher Bürgerinnen und Bürger – auch der Geimpften – einzuschränken. Wann enden dann die Corona-Schutzmaßnahmen? Was ist, wenn die „Impfunwilligen“ unwillig bleiben? Mit den flächendeckenden Impfangeboten sind weitere Lockdowns nicht mehr verfassungsmäßig.
Fehlannahme 3:
Impfungen sind für Kinder wichtig, da nur dann die Schulen wieder öffnen können.
Es wird viel diskutiert über die Notwendigkeit einer Schutzimpfung von Kindern und Jugendlichen gegen Corona. Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat eine allgemeine Impfempfehlung bislang lediglich für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ausgesprochen, die aufgrund spezifischer Vorerkrankungen einem besonderen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind oder in deren Umfeld sich Angehörige oder andere Kontaktpersonen mit hoher Gefährdung befinden. Für alle anderen Personen in dieser Altersgruppe ist eine Empfehlung unterblieben.
Die Entscheidung der Stiko wurde und wird von vielen Seiten kritisiert. Dabei findet sich in der Debatte immer wieder die Aussage, Impfungen für Kinder seien wichtig, damit Schulen wieder geöffnet werden könnten. Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen höchst problematisch.
Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie erfolgen zum Schutze derer, die ein besonderes Risiko für einen schweren, gar tödlichen Verlauf aufweisen. Für Kinder ohne spezifische Vorerkrankungen bedeutet eine Infektion mit Covid-19 nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand ein Risiko, das wir als allgemeines Lebensrisiko etwa im Kontext der saisonalen Grippe ganz ohne Schulschließungen oder sonstige Freiheitseinschränkungen hinnehmen. Es muss daher so klar benannt werden: Schulschließungen erfolgen nicht zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, sondern zum Schutz der Risikogruppen.
Wenn aber eine Schutzimpfung für alle Gefährdeten – und darüber hinaus für jede andere und jeden anderen – möglich ist, lassen sich Schulschließungen nicht mehr rechtfertigen. Sie wären eine unverhältnismäßige Maßnahme der Pandemiebekämpfung. Wenn sich jeder effektiv selbst schützen kann, dürfen Dritte hierfür nicht länger herangezogen und in ihrer Freiheit beschnitten werden. Kinder und Jugendliche haben also ein Recht darauf, dass ihre Schulen geöffnet werden – und müssen sich dafür nicht erst impfen lassen.
Damit erweist sich das Argument, die Impfung von Kindern und Jugendlichen erfolgten zu ihrem eigenen Nutzen, weil dies die Öffnung der Schulen ermögliche, als unhaltbar. Dass Kinder seit über eineinhalb Jahren massive Eingriffe in ihre Freiheitsrechte hinzunehmen haben, ist ein Sonderopfer, das sie dem Gemeinwesen gegenüber erbringen. Solche Sonderopfer werden im Recht üblicherweise ausgeglichen. Im Zusammenhang mit Corona scheint dieser Mechanismus allerdings zum Leidwesen der Kinder und Jugendlichen vergessen. Vielmehr soll hier gewissermaßen ein Sonderopfer (Schulschließung) mit einem weiteren Sonderopfer (Impfung) behoben werden. Ob eine Impfung für Kinder erforderlich ist, darf sich allein nach den Folgen für ihre Gesundheit richten. Sie dadurch sinnvoll zu „machen“, weil man anderenfalls nicht begründete Nachteile in Aussicht stellt, ist schlicht unredlich.
Kinder und Jugendliche sind die großen Leidtragenden der staatlichen Schutzmaßnahmen. Ihr Recht auf Bildung, ihre sozialen Kontakte, ihr Engagement in Sport- und Musikvereinen wurden massiv beschränkt, um andere zu schützen. Das gesellschaftliche Drängen nach einer Impfung von Kindern und Jugendlichen vernachlässigt die Belange dieser Gruppe nun erneut. Denn offenkundig stehen hier nicht die gesundheitlichen Folgen für die jungen Menschen selbst im Vordergrund, sondern abermals gesellschaftliche Interessen an geringen Infektionszahlen. Anstatt sich intensiv darum zu bemühen, den Bildungsrückstand aufzuholen und die psychischen und sozialen Folgen der Pandemie gerade für Kinder und Jugendliche auszugleichen, soll ihnen nun die Verantwortung für die Beschneidung ihrer Freiheiten zugeschrieben werden.
Die Stiko wurde und wird dafür kritisiert, zu zögerlich zu sein und keine Verantwortung zu übernehmen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist gerade Ausdruck von Verantwortung, dass sich die Expertinnen und Experten der Stiko nicht einem gesellschaftlichen Druck gebeugt und vorschnell Empfehlungen ausgesprochen haben. Ein mangelndes Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kindern und Jugendlichen zeigt sich hingegen dann, wenn die Stiko entgegen ihrer wissenschaftlichen Bewertung zu einer Impfempfehlung gedrängt werden soll.
Elisa Hoven ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig und Richterin des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen. Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht an der Universität zu Köln und Mitglied im Deutschen Ethikrat.
*Weil der Artikel und die Meinungen außerordentlich wichtig für die Debatte „Corona“ sind, zitieren wir den Text & das Meinungsbild. Verweise, Grafiken und sämtliche Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.