Wie jede andere Coronaschutzmaßnahme muss sich aber auch eine allgemeine Impfpflicht am verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bemessen lassen. Dessen Voraussetzungen sind nicht gewahrt. Allenfalls rechtfertigen lassen sich derart einschneidende Freiheitseingriffe gegenüber Angehörigen von Risikogruppen, die in besonderer Weise gefährdet sind, intensivpflichtig zu werden. Zumindest derzeit liegen die Voraussetzungen für eine solche risikogruppenspezifische Impfpflicht allerdings nicht vor.
Staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zielen in der gegenwärtigen Situation darauf ab, das Gesundheitssystem vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Hiervor kann sich der Einzelne nicht effektiv selbst schützen. Die Überlastung des Gesundheitssystems kann nur durch eine gemeinsame, staatlich organisierte Kraftanstrengung vermieden werden. Impfungen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu: Wer geimpft ist, ist einem bedeutend geringeren Risiko ausgesetzt, intensivpflichtig zu werden. Weil die Zahl der Impfungen in Deutschland nach wie vor nicht hoch genug ist, um die Kliniken vor dem Zustrom vieler Corona-Patienten zu bewahren, wird seit Monaten um die Erhöhung der Impfquote gerungen. Doch: Weder kostenpflichtige Tests noch 2G-Regelungen haben die Quote in der Gesamtbevölkerung in eine ausreichende Höhe getrieben.
Zielerreichung reicht nicht
Dabei steht eines fest: Die vierte Welle wird sich durch eine allgemeine Impfpflicht nicht brechen lassen. Dafür käme die Maßnahme schlicht zu spät. Allerdings ist mittlerweile vielen klar geworden, dass sich Corona auch nach diesem Herbst nicht wieder verabschieden wird. Das Virus wird vielmehr bleiben, und so müssen wir über Strategien nachdenken, wie künftige Wellen frühzeitig gebrochen werden können – wie wir „vor die nächste Welle“ kommen.
Insoweit erlangt auch die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht ihre Berechtigung. Dabei mahnt uns allerdings die Verfassung, nicht vorschnell alles, was möglich erscheint, auch umzusetzen. In einer freiheitlichen Gesellschaft müssen sämtliche Interessen Berücksichtigung finden, gegeneinander abgewogen und miteinander in Einklang gebracht werden. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schreibt daher vor, dass staatliche Maßnahmen zur Erreichung eines bestimmten Zwecks nicht bloß zur Zielerreichung geeignet, sondern darüber hinaus erforderlich und angemessen sein müssen.
Als legitimer Zweck einer Impfpflicht kommt derzeit allein der Schutz des Gesundheitssystems vor einem Zusammenbruch in Betracht. Eine Erforderlichkeit der Impfpflicht zur Erreichung dieses Zwecks ist anzunehmen, wenn kein ebenso effektives, milderes Mittel zur Zielerreichung vorhanden ist. Angemessenheit setzt voraus, dass der Nutzen der Maßnahme nicht außer Verhältnis zu den dadurch herbeigeführten Beeinträchtigungen stehen darf. Sowohl die Erforderlichkeit als auch die Angemessenheit einer allgemeinen Impfpflicht als staatliche Maßnahme zur Pandemiebekämpfung sind allerdings anzuzweifeln.
Erforderlichkeit
Hat der Staat genug getan, um die Menschen zur freiwilligen Impfung zu bewegen? Diese Frage kann mit Berechtigung gestellt und verneint werden, fällt der Blick auf andere europäische Länder, die ganz ohne allgemeine Impfpflicht mitunter deutlich höhere Impfquoten erzielt haben als Deutschland. Gezielte Kampagnen zur alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Information über die Impfung und deren Bedeutung für das Gemeinwesen, der Appell an die Solidarität und auch diverse Anreize haben diese Erfolge möglich gemacht. Gerade vor dem Hintergrund, dass eine Erhöhung der Impfquote frühestens die nächste Welle brechen könnte, besteht von staatlicher Seite eine Pflicht, vorrangig Maßnahmen zur Förderung der freiwilligen Impfbereitschaft zu ergreifen, bevor an eine allgemeine Impfpflicht gedacht wird.
Doch was gilt, wenn auch diese Versuche erfolglos bleiben und die nationale Impfquote nach wie vor nicht hoch genug ist, um eine Überlastung der Intensivstationen auszuschließen? Auch unter dieser Voraussetzung ist eine generelle Impfpflicht nicht gerechtfertigt, wenn ein weniger eingriffsintensives, aber ebenso effektives Mittel bereitsteht. Ein solches ebenso effektives Mittel ist aber mit einer nach dem individuellen Risiko ausdifferenzierten Impfpflicht ersichtlich vorhanden: Es spricht vieles dafür, dass eine (künftige) Überlastung des Gesundheitssystems mit einer Impfpflicht für diejenigen Gruppen vermieden werden kann, die in besonderer Weise gefährdet sind, intensivpflichtig zu werden.
Das Risiko eines schweren Verlaufs einer Corona-Infektion und damit der Intensivpflicht hängt entscheidend vom Alter der Person ab. Dem DIVI-Intensivregister lässt sich entnehmen, dass ein weit überwiegender Teil der intensivpflichtigen Corona-Patienten über 60 Jahre (63,1%) bzw. über 50 Jahre (84,1%) alt ist.
In Deutschland sind derzeit mehr als drei Millionen Menschen über 60 Jahre nicht geimpft. Es liegt auf der Hand, welch erhebliches Belastungspotential hiermit für das Gesundheitssystem einhergeht. Zugleich wird deutlich, wie bedeutsam der Schutz dieser Menschen vor einer Erkrankung für uns alle ist – nur wenn uns dieser Schutz älterer Gesellschaftsmitglieder gelingt, ist die stabile gesundheitliche Versorgung aller in Deutschland gesichert.
Dabei sind spezifische Maßnahmen gegenüber denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, deren Erkrankung das Gesundheitssystem in besonderer Weise gefährdet, milder als undifferenzierte Maßnahmen gegenüber allen. Angesichts der altersmäßigen Verteilung der intensivpflichtigen Personen liegt es nahe, dass Maßnahmen, die diese Personen vor schweren Verläufen schützen, das Gesundheitssystem massiv entlasten.
Ob unter diesen Maßnahmen auch eine Impfpflicht für alle über 60-Jährigen sein muss, wie es sie seit Kurzem in Griechenland gibt? Dies ist von der Effektivität anderer Maßnahmen abhängig, die gegenüber diesem Personenkreis ergriffen werden könnten. Zu denken ist insbesondere an umfangreiche Kontaktbeschränkungen für diese Menschen. Ob solche ausreichen, um die Intensivstationen erheblich zu entlasten, kann freilich aus juristischer Perspektive nicht beurteilt werden. Hierfür bedürfte es valider empirischer Untersuchungen. Fest steht aus der Sicht der Juristin allerdings eines: Die Darlegungslast liegt insoweit beim Staat.
Insofern teile ich nicht die Einschätzung, eine Impfpflicht erweise sich als milderes Mittel verglichen mit einem Lockdown bzw. einer Endlosschleife von Lockdowns. Zunächst sollten dabei nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden: Zum Schutz des Gesundheitssystems sind in erster Linie Maßnahmen zum Schutz derjenigen gerechtfertigt, die in besonderer Weise durch das Corona-Virus gefährdet sind. Verglichen werden müsste also ein Lockdown des nicht geimpften Teils dieser Personengruppe mit einer für sie geltenden Impfpflicht. Darüber hinaus müsste der Vergleich sauber vollzogen werden.
Dazu gehört, nicht bloß von einer Endlosschleife von Lockdowns zu sprechen, sondern die Alternative vollständig ins Bild zu rücken. Diese liegt aber in einer Endlosschleife von Impfungen dieses Personenkreises – nach derzeitigem Wissensstand alle sechs Monate. Diese Betrachtung wirft aber ein anderes Bild auf den Untersuchungsgegenstand. Saisonale Selbstisolation erscheint dann als deutlich geringerer Eingriff – verglichen mit der Pflicht, sich jedes halbe Jahr einer Impfung und damit einer Verletzung der eigenen Körperintegrität zu unterziehen, wenn der Betroffene diese für sich nicht wünscht.
Angemessenheit
Eine allgemeine Impfpflicht, insbesondere wenn sie alle gesellschaftlichen Gruppen erfasst, ist also bereits nicht erforderlich. Fragen wirft außerdem die Angemessenheit einer solchen Maßnahme auf. Zumindest Relativierungen der Bedeutung des Grundrechts der Körperintegrität liegen neben der Sache. In den Worten des früheren Verfassungsrichters Udo Di Fabio ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein „deutliches Zeichen gegen die Gräueltaten des Nationalsozialismus, gegen die totalitäre Geringschätzung der Unversehrtheit von ‚Menschenmaterial‘“.
Die hohe Anerkennung dieses Grundrechts kommt nicht zuletzt in der Abschaffung von Folter und Leibesstrafen zum Ausdruck. Eingriffe in die Körperintegrität weisen ein besonders hohes Gewicht auf, weil sie den Menschen in seiner intimen Leiblichkeit betreffen, die Grundvoraussetzung – „natürliche Basis“ – für die Ausübung anderer Freiheitsrechte ist. Nach einer im Verfassungsrecht vertretenen Position weist der Eingriff in die Körperintegrität durch eine Impfpflicht zudem eine Würdedimension auf.
In unserer Rechtsordnung kommt jedem Menschen ein Wert an sich zu – jeder besitzt eine Würde, die nach unserer Verfassung „unantastbar“ ist. Dass die Körperintegrität einen solchen Würdebezug aufweist, legen auch jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Zwangsbehandlung nahe. Darin heißt es, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht „durch die Inbezugnahme der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG den Gewährleistungsgehalt der körperlichen Unversehrtheit“ verstärkt und ihm dadurch „ein besonderes Gewicht“ verleiht. Eingriffe in die Körperintegrität wie zum Beispiel durch eine Impfpflicht sollten daher nicht kleingeredet werden.
Angesichts dieser Erheblichkeit des (ggf. alle sechs Monate wiederholten) Eingriffs in die Körperintegrität des Einzelnen ist eine Impfpflicht zumindest nicht angemessen gegenüber Menschen, die zu keiner der anerkannten Risikogruppen zählen. Das Risiko, dass diese Personen intensivpflichtig werden, ist gering. Zugleich wiegt ihr Wunsch, sich keines Eingriffs in die eigene Leiblichkeit aussetzen zu müssen, schwer. Diesem geäußerten Willen Zwang entgegenzusetzen, der zu einem weit überwiegenden Teil fremdnützig ist, lässt sich aus meiner Sicht nicht rechtfertigen.
In die Abwägung einzubeziehen sind dabei auch die zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen einer solchen politischen Entscheidung: Würden all jene, für die die Infektionssterblichkeit infolge einer Corona-Erkrankung auf dem Niveau einer Influenza-Infektion liegt (nach Angaben des Virologen Christian Drosten gilt dies für alle Menschen zwischen 35 und 44 – für noch jüngere Menschen ist das Risiko weiter minimiert), in einer gesetzlichen Impfpflicht erfasst, sind ganz erhebliche Abwehrreaktionen in der Gesellschaft zu erwarten. Die heute bereits zu beobachtende gesellschaftliche Spaltung würde eine neue Qualität annehmen. Das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger, die lange Zeit nahezu ausnahmslos eine allgemeine Impfpflicht ausgeschlossen haben, wäre empfindlich gestört. Für eine erfolgreiche Pandemie-Bekämpfung ist all dies Gift.
Doch auch für Ältere sollte nicht vorschnell die Angemessenheit einer Impfpflicht angenommen werden. Sie muss letztes Mittel bleiben, um der hohen Bedeutung des Rechts auf körperliche Integrität Rechnung zu tragen.
Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht an der Universität zu Köln und Mitglied im Deutschen Ethikrat.
Wer plädiert noch gegen eine allgemeine Impfpflicht?
*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona“ ist, zitieren wir den Text. Verweise, Kommentare und das Meinungsbild der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.