Meilenstein zum Sonntag, 10.1.2021: Marc Tully, Hanseatisches OLG, im WELTplus*-Interview zu …

Meinungsfreiheit & Cancel Culture

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Marc Tully, neuer Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, sieht die Demokratie durch die „Cancel Culture“ bedroht. Sich widersprechende Meinungen müssten ausgehalten werden. Besonders kritisch sieht er soziale Netzwerke.

Kurz vor dem Jahreswechsel wurde Marc Tully Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, er bekleidet somit Hamburgs höchsten Posten in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. In seinem ersten Interview im neuen Amt spricht er über ein Phänomen, das als „Cancel Culture“ bekannt wurde und das aus seiner Sicht schädliche Auswüchse angenommen hat, weil ein „kollektives Sofagericht“ den Daumen über Personen und Institutionen und deren Haltungen hebt oder senkt. Sogar Aufrufe zum Lynchmord habe es dabei gegeben.

WELT AM SONNTAG: Herr Tully, laut Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes hat „jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern“. Wie füllt die Gesellschaft diesen Artikel derzeit mit Leben?

Marc Tully: Das Bundesverfassungsgericht sagt in ständiger Rechtsprechung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung für den demokratischen Rechtsstaat schlechthin konstituierend ist. Meinungsfreiheit setzt aber, damit sie funktioniert, einen Dialog voraus. Ich erlebe zunehmend, dass uns das Dialogische abhanden kommt. Dass es immer mehr Menschen gibt, die auf rudimentärer Tatsachenbasis für sich einen Anspruch auf das Entdecken der absoluten Wahrheit reklamieren und dass die so gefundenen Positionen den öffentlichen Dialog vergiften.

WELT AM SONNTAG: Was besorgt Sie dabei konkret?

Tully: Wenn man die Diskussionskultur so sehr verengt, dass andere Meinungen als die eigene nicht mehr als gleichwertiger Beitrag einer Diskussion akzeptiert werden und auch derjenige, der eine abweichende Meinung hat, als Person diskreditiert wird, dann gerät die öffentliche Diskussionskultur in eine Schräglage, die für ein demokratisches Gemeinwesen gefährlich wird. Wir müssen aufpassen, dass wir divergierende Meinungen nicht als Zumutung begreifen und aus einem vermeintlichen Anspruch auf ein zumutungsfreies Leben nicht nur die Meinung des anderen für falsch halten, sondern auch der Person als solche ihren Wert absprechen. Es hat sich eingebürgert, dass wir schnell und aufgeregt eine verfestigte Meinung zu Themen bilden, die zu komplex sind, um vorschnell nach einer vermeintlichen Wahrheit zu greifen.

WELT AM SONNTAG: Das führt so weit, dass Gedichte von Hauswänden, Autoren aus Verlagsprogrammen entfernt werden oder Menschen vor dem Haus des Fleischproduzenten Clemens Tönnies „Hängt ihn auf!“ brüllen. Wann endet die kritische Debatte und beginnt das, was wir Cancel Culture, also in etwa eine Kultur des Abschaltens und Ausgrenzens, nennen?

Tully: Wir kennen aus der Geschichte die unguten Auswüchse der Bilderstürmerei, und wir erleben in vergleichbarer Weise das Bedürfnis von Teilen der öffentlichen Debatte, Personen der Zeitgeschichte zu tilgen, weil Facetten ihres Wirkens mit unserem Wertekanon nicht mehr übereinstimmen. Das verengt den Blick auf diese Personen. Immanuel Kant oder Christoph Kolumbus etwa stehen für herausragende Leistungen in ihrer Zeit und haben trotzdem in ihrem Charakter Facetten, die wir heute nicht teilen. Gleichwohl sollten wir die Kraft aufbringen, sie nicht einseitig durch eine deformierte Brille zu betrachten und nur mit dem, was wir heute nicht akzeptieren, insgesamt zu verdammen. Wir brechen wegen einzelner Bereiche im Wirken einer Person mit zu großer Vehemenz den Stab über die Person als solche, aktuell etwa bei der „New York Times“-Journalistin Bari Weiss oder der Schriftstellerin Monika Maron.

WELT AM SONNTAG: Unter welchen Bedingungen findet das statt, wie ist die Wechselwirkung etwa zwischen dem Internet und dem, was dann real passiert?

Tully: Cancel Culture würde ich versuchen mit dem Bild eines „kollektiven Sofagerichts“ zu erklären, bei dem eine interessierte Öffentlichkeit über soziale Netzwerke in der Lage ist, ein sich entwickelndes Gefühl gegen eine Person mit einem absoluten Verdikt zu versehen und die soziale Existenz der Person infrage zu stellen. Besonders dramatisch wird es anhand des Beispiels von Clemens Tönnies, bei dem wir, ungeachtet der Frage, ob man seine wirtschaftlichen Praktiken gutheißt, erschreckend zur Kenntnis nehmen müssen, dass offenbar zu einer Art Lynchmord aufgerufen worden ist. Das ist eine Eskalationsstufe, die wir in Deutschland lange nicht hatten, die uns wegen unserer Geschichte aber besonders erschüttern sollte. Die letzten Aufrufe zu Lynchmorden oder Brandschatzungen kennen wir aus der Nazidiktatur. Und wenn wir anfangen, den Selbstwert der Person, mit der wir unterschiedlicher Meinung sind, in dieser Form kategorial zu negieren, führt uns das ins Unglück.

WELT AM SONNTAG: Dann bedroht Cancel Culture den Rechtsstaat.

Tully: Der Rechtsstaat tritt seinen Bürgern unterschiedlich entgegen. Auf der wichtigsten Ebene sind es die Entscheidungen der Legislative und der Exekutive. Bei der Covid-19-Krise etwa erleben wir in schneller Abfolge infektionsrechtliche Beschränkungen des öffentlichen Lebens, die wir hinterfragen, weil wir das pandemische Geschehen nur unzureichend verstehen. Ein großer Teil der Bevölkerung akzeptiert die Notwendigkeit der Beschlüsse und hat Vertrauen in den verfassten Staat.

WELT AM SONNTAG: Ein anderer, sehr laut auftretender Teil aber auch nicht.

Tully: Ein kleiner Teil der Bevölkerung tut sich damit schwer, erhebt seine eigene Auffassung, allenfalls aus Wissensfragmenten, zur absoluten Wahrheit und zieht daraus für sich die Legitimation, staatliches Handeln kategorial infrage zu stellen. Das ist gefährlich, weil es die Legitimationsbasis des Staates insgesamt und damit die Legitimationsbasis unserer Gesellschaftsordnung infrage stellt. Wir brauchen die Fähigkeit, zu akzeptieren, dass wir in unserer ersten Einschätzung auch irren können. Deshalb sind kollektive Entscheidungsfindungen der im demokratischen Prozess angelegten Strukturen zwar mühsam, aber häufiger mit einer größeren Richtigkeitsgewähr versehen als die erratisch sprunghafte Überzeugungsbildung des Einzelnen.

WELT AM SONNTAG: Was droht einer Demokratie, wenn das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat sinkt?

Tully: Wenn die gewählte Gesellschaftsform im Kern eine ist, die in aller Regel richtige Ergebnisse produziert und diese aber infrage gestellt wird, dann sägen wir an dem Ast, auf dem wir als Gesellschaft sitzen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass größere Teile der Bevölkerung das gesellschaftliche Gerüst, auf dem die Gesellschaft fußt, und das ist der demokratische Rechtsstaat mit seinen demokratisch legitimierten Strukturen, unentwegt anzweifeln. Diese Strukturen sind dazu verpflichtet, ihr Handeln zu erklären und durch Kommunikation Akzeptanz zu erreichen. Sie müssen aber auch hinreichend wehrhaft sein, um sich dem erratisch Exzessiven entgegenzuwerfen.

WELT AM SONNTAG: Tritt Cancel Culture die Meinungsfreiheit als wesentliches demokratisches Grundrecht und den Rechtsstaat demnach mit Füßen?

Tully: Wenn die Kritik das thematisch Inhaltliche verlässt und sich an der Person des Andersdenkenden abarbeitet, dann hat das mit freier Meinungsäußerung, so wie sie das Grundgesetz versteht, nichts mehr zu tun.

WELT AM SONNTAG: Sind Sie als Richter zuweilen neidisch, weil Sie sich an Gesetze halten müssen, während Teile der Gesellschaft moralisch und ohne ein Gerichtsverfahren verurteilen?

Tully: Es ist eine Errungenschaft der Aufklärung, dass Entscheidungsfindungsprozesse, die mit einem Urteil enden – unabhängig davon, ob es ein Gerichtsurteil oder eines der öffentlichen Meinung ist – in strengen Strukturen ablaufen. Dazu gehörten die Unschuldsvermutung und das Erfordernis, allen Seiten rechtliches Gehör zu gewähren. Wenn ich beseelt von meiner Überzeugung der absoluten Wahrheit urteile, ohne den anderen angehört zu haben, und mein Urteil auf Grundlage einer vermeintlich richtigen Haltung fälle, dann werfe ich die Erkenntnisse von 300 Jahren gesellschaftlicher und staatlicher Evolution über Bord und bin in der Denkweise der Inquisition angelangt.

WELT AM SONNTAG: Ersetzt die Moral das Recht?

Tully: Im Idealfall besteht eine emotionale Identität zwischen Recht und Moral, weil wir das amoralische Recht innerlich ablehnen. Wir müssen aber sehr vorsichtig sein, einen von Zeitläufen geprägten Moralbegriff über das Recht zu stellen. Insbesondere das Gefühl eigener moralischer Überlegenheit sollte niemals Leitmotiv des Handelns des Einzelnen sein, weil es das in einem demokratischen Prozess geschaffene Recht damit aushebelt. Eine offene Gesellschaft erträgt an ihren Rändern sehr viel. Und wir müssen andere Meinungen ertragen, mögen sie uns noch so abwegig erscheinen. Cancel Culture ist darauf angelegt, die soziale Existenz desjenigen, dessen Meinung ich für verfehlt halte, auszulöschen – und das ist brandgefährlich.

WELT AM SONNTAG: Aber ist denn Justiz frei von moralischen Erwägungen?

Tully: Rechtsanwendung operiert immer auf der Grundlage eines wertenden Vorverständnisses. Man kann sich also von Beeinflussungen durch Moralvorstellungen im weitesten Sinne nie vollständig freimachen. Man muss sich in der Rechtsanwendung dieses Einflusses nur bewusst sein. Und man muss sich immer hinterfragen, ob die Auslegung, die man im Recht gefunden hat, eine ist, die dem normativen Willen des Gesetzgebers entspricht.

WELT AM SONNTAG: Greifen die Akteure der Cancel Culture deshalb kommunikativ zu einer Art Selbstjustiz, weil deren Glaube an die Justiz verbraucht ist?

Tully: Ich habe nicht den Eindruck, dass Cancel Culture und Justiz im selben Geschäftsfeld unterwegs sind. Cancel Culture richtet sich an einzelne Personen, die in das Kreuzfeuer von Partikularinteressenvertretern geraten, die mit großer Vehemenz ihre Standpunkte zu bestimmten Themen zu Gehör bringen.

WELT AM SONNTAG: Wie kann die Justiz auf die leidende Debattenkultur reagieren?

Tully: Justiz ist ein auf strukturelle Langsamkeit angelegter Erkenntnisprozess. Es würde der öffentlichen Debatte guttun, wenn sie gelegentlich innehält, den eigenen Standpunkt hinterfragt und bereit wäre, eine Diskussion als dynamischen Prozess zu begreifen, statt eine Diskussion zu führen, bei der das Ergebnis von Anfang an feststeht und nur noch mit Gewalt gegen Widersprüche verteidigt werden soll. Entscheidungsfindung in der Justiz lehrt, dass das ständige Hinterfragen elementarer Teil vernünftiger Erkenntnisgewinnung ist. Zuhören ist das Gegenteil von bewusstem Ausblenden des Gegners. Wir müssen uns Mühe geben, die eingetretene Verengung der Diskussionskultur im öffentlichen Raum wieder zu weiten, respektvoller miteinander umgehen und es aushalten, dass Menschen unterschiedlicher Auffassung sein können.

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Manfreds Kolumne: Quo vadis Deutschland?

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… dass wir derzeit in den westlichen OECD-Staaten (also in Europa und seinen ehemaligen Siedlerkolonien) eine Erosion des gesellschaftlichen Legitimitätsmodells der Nachkriegsära und die Herausbildung eines neuen, usurpatorischen (nicht legitimen) Herrschaftsmodells beobachten. Ich betrachte im Folgenden die Eigenschaften des alten Modells, die Ursachen für den Übergang, sowie die Herrschaftstechniken und -probleme des neuen Machtmodells.

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Torsten Krauel zu den 9 Wahlen 2021

Deutschland kommt im nächsten Jahr …

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… aus dem Wählen gar nicht raus. Im Mittelpunkt wird der Klimaschutz stehen, auf Landes- wie auf Bundesebene. Das Kanzleramt gewinnt am Schluss, wer einen evolutionären statt revolutionären Klimaschutz am überzeugendsten vertritt.

Das Wahljahr 2021 stellt Deutschlands Weichen für die nächsten Jahrzehnte. Es geht um eine Richtungsentscheidung zur Staatsräson und Wirtschaftsordnung. Wird die Bekämpfung des Klimawandels die Kernaufgabe des Staates, der sich alles unterzuordnen hat? Und setzt die Politik dabei primär auf marktwirtschaftliche freie Eigeninitiative oder auf staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und Alltagswelt?

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Meilenstein: Interview mit Peter Thiel – Kernenergie ist Zukunftsenergie

Wenn jemand weiß, wie man Geld verdient, …

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… dann wohl Peter Thiel: Sein Meisterstück an den Finanzmärkten war der Einstieg bei Facebook – aus 500.000 Dollar Einsatz wurde rund eine Milliarde Dollar Gewinn. Der 53-jährige macht auch auf dem Feld der Politik Schlagzeilen, seit bekannt wurde, dass er den US-Präsidenten Donald Trump unterstützt. Im Interview spricht er über die drei großen Visionen für die westliche Gesellschaft, die Gefahren, die von China ausgehen und seine weitere persönlichen Ziele.

WELT: Herr Thiel, die USA sind in Aufruhr. Auf den Straßen brodelt es. Gegen die amerikanische Geschichte ist eine Art Kreuzzug im Gang. Journalisten und Professoren verlieren ihre Jobs, sobald sie etwas Falsches sagen. Hat diese Hysterie etwas mit der Pandemie zu tun? Was geht hier vor sich?

Peter Thiel: Lassen Sie mich zuerst etwas darüber sagen, was das Covid-Phänomen bedeutet. Dann können wir über den verrückten sozialen Tumult sprechen. Viele Leute denken heute: „Wann kehren wir zur Normalität zurück? Was ist der Weg zurück zur Normalität?“ Ich sehe das als psychologischen Indikator dafür, dass die Leute tief drin wissen: Es gibt keinen Weg zurück zur alten Normalität, weil die Normalität, die wir hatten, in vielerlei Hinsicht gar nicht zukunftsfähig war.

WELT: Das Virus bringt eine Zäsur?

Thiel: Davon bin ich überzeugt. Man kann das Jahr 2020 als das erste Jahr des 21. Jahrhunderts deuten. An seinem Ende hatte das 20. Jahrhundert zusehends zombieartige Züge. Ende 2019 dachte ich: „Was geht hier eigentlich ab? Was können wir über dieses abgelaufene Jahrzehnt überhaupt sagen?“ Gut, es war das Jahrzehnt der iPhones. Wir hatten „Game of Thrones“, die Legalisierung von Marihuana. Aber es gab kein definierendes Ereignis, nichts Ikonisches. Selbst die Autos sahen 2019 ziemlich genauso aus wie 1999. Das letzte Jahrzehnt war das Jahrzehnt, in dem nichts passierte. Dieser Zombie-Zustand konnte nicht andauern. Ich sehe Covid-19 als Waldbrand, aber es ist ein Waldbrand in einem Wald, der bereits sehr krank war.

WELT: Waren die USA so krank? Vor Corona brummte die Wirtschaft wie nie.

Thiel: Das Jahr 2020 brachte einen Quantensprung der Lächerlichkeit in vielen Bereichen. An den Universitäten zahlt man mittlerweile 50.000 Dollar Semestergebühr für Zoom-Meetings mit den Professoren. Eine der größten Lügen war, dass man den Jungen erzählte, die großen Städte seien die Zukunft. Dabei funktionieren die Großstädte am schlechtesten. Die Immobilien sind überteuert, der Wettbewerb ist so extrem, dass er kontraproduktiv ist.

Die essenzielle Hässlichkeit der Megacitys kommt in der Krise ans Licht. Vorher war alles durch einen sterilen Aktivismus verdeckt. Man spürt jetzt die Überhitzung. Covid-19 bringt eine Verschiebung. Zuvor gab es das Gefühl, die Zukunft werde irgendwie zurückgehalten. Veränderungen, die längst hätten stattfinden müssen, kamen nicht, weil man sich dagegen sträubte. Jetzt wird die Zukunft freigesetzt. Es gibt zwar die Befürchtung, die Veränderung sei bedrohlich und zerstörerisch, aber sie ist meines Erachtens immer noch gesünder als die Fortsetzung dieses Zombie-Zustands, dieses institutionellen Komas.

WELT: Wie deuten Sie die fiebrigen Proteste in den Städten?

Thiel: Es ist immer schwer, etwas zu analysieren, wenn man mittendrin steckt. Ist es ein verrücktes Rückzugsgefecht der extremen Linken? Oder ist es ein Katalysator für noch mehr Wahnsinn? Ich empfinde diese Vorgänge als sehr seltsam. Den ethnischen Minderheiten bringen diese Proteste gar nichts. Man kann argumentieren, es sei superverrückt, Statuen abzureißen, weil man damit die eigene Geschichte abreißt. Andererseits ist es supertrivial. Der Sturz eines Denkmals ist billig und rein symbolisch. Er ändert nichts an den ökonomischen Strukturen.

WELT: Wie gefährlich ist das Ganze?

 

Thiel: Vielleicht wird alles nach den Wahlen verschwinden, weil die Aufstände vor allem auch gegen den Präsidenten gerichtet sind. Es ist ein Aberwitz: Man behauptet, es gehe um ethnische Minderheiten, aber eigentlich geht es darum, Trump durch einen noch älteren, noch weißeren Mann zu ersetzen.

WELT: Hat das Internet die Menschen freier oder unfreier gemacht?

Thiel: Vor 20 Jahren dachte man, das Internet sei eine gewaltige Kraft der Freiheit und der Dezentralisierung. Neue Stimmen konnten sich bemerkbar machen. Inzwischen nimmt die Zentralisierung zu. Ein paar Konzerne kontrollieren die großen Datenserver.

WELT: Muss man davor Angst haben?

Thiel: Es ist immer noch besser als die Alternative, und die Alternative sind die alten Medien. Ihr Meinungsspektrum ist viel enger. Das Silicon Valley ist vielfältiger. Die große Frage ist, ob es so bleibt.

WELT: Die Social-Media-Giganten zensurieren im großen Stil. Wer etwas Falsches sagt, muss damit rechnen, auf Twitter oder Facebook gesperrt zu werden. Verraten die Tech-Konzerne gerade ihr eigenes Versprechen?

Thiel: Im Silicon Valley gab es von Anfang an diese linksliberale Illusion, das Internet werde vor allem linksliberale Ideen verbreiten. Das existenzielle Problem des durchschnittlichen Twitter-Mitarbeiters besteht doch darin, dass er vor vier Jahren Bernie Sanders im Weißen Haus sehen wollte, dann aber merkte, dass Trump die Nummer eins auf Twitter ist. Die Twitter-Leute wollten Bernie, aber eigentlich arbeiteten sie für Trump. Das Silicon Valley wurde von Linksliberalen im Namen der Freiheit gegründet mit der Absicht, das Meinungsspektrum nach links zu verbreitern. Sie verbreiterten es aber unabsichtlich nach rechts. Hegel hätte dies den Trick die List der Geschichte genannt.

 

WELT: Sie waren einer der prominentesten und seltenen Exponenten des Silicon Valley, die sich für Trump ausgesprochen haben. Wie viele enge Freunde haben Sie damals verloren?

Thiel: Ich unterstützte Trump, und ich unterstütze ihn noch immer, weil ich glaube, dass seine Verurteilung der Zustände wahrer ist als die politisch korrekte Lüge des Mitte-links-Establishments. In diesem Punkt ist das Trump-Phänomen authentischer.

WELT: Wie beurteilen Sie Trumps Leistung als Präsident?

 

Thiel: Er ist der Kontrapunkt zu den Etablierten. Er ist die Alternative zu dem, was man vorher unhinterfragt für richtig gehalten hat. Diesen Kontrapunkt setzt er hervorragend. Seine Schwäche? Trump würde mir wohl zustimmen, dass er am Anfang zu viele Leute in die Regierung geholt hat, die zu sehr der alten Konsenssicht verhaftet waren. Für abschließende Urteile ist es noch zu früh. Wird Trump die Haltung des Westens gegenüber China ändern? Oder bekommen wir bald Joe Biden, diesen Marschall Pétain der Demokraten, der die Unterwerfung des Westens unter China vollenden wird? Ich sehe Biden als eine leicht jüngere, senilere Variante von Pétain, aber auch Pétain hatte glücklicherweise nicht das letzte Wort in der Geschichte.

WELT: Seine Kritiker behaupten, Trump sei charakterlich nicht geeignet als Präsident. Sie kennen ihn persönlich. Was ist Ihr Eindruck?

Thiel: In all unseren Interaktionen fand ich ihn unglaublich flüssig. Er hat ein scharfes Verständnis von Leuten, von der Dynamik. Die Art, wie er Dinge beschreibt, ist selbst dann, wenn er leicht danebenliegt, immer noch zutreffender als die politisch korrekte Konvention, die alle nachbeten. Bei einem Abendessen erzählte er mir von einem Treffen mit Präsident Xi, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Er, Trump, habe ihn im Gespräch als „König Chinas“ bezeichnet. Das ist faktisch natürlich falsch, kommunistische Länder haben keinen König, aber es ist eine bessere Beschreibung von Xis Position als all die Titel, die er sich selbst gibt oder die ihm zugewiesen werden. Trump hat die phänomenale Fähigkeit, zum Kern der Dinge vorzustoßen in einer Gesellschaft, der diese Fähigkeit abhanden zukommen scheint.

WELT: Ist der Klimawandel eines der großen Menschheitsprobleme?

Thiel: Ich nehme den Klimawandel als politisches und kulturelles Phänomen sehr ernst. Nehmen wir zuerst Europa. Da haben wir die Frage, wie die Zukunft aussehen soll. Und die Zukunft definiere ich als eine Zeit, die anders aussieht als die Gegenwart. Die Zukunft kann nicht diese niemals enden wollende Gegenwart sein, dieser ewige „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Zustand. Nun haben die führenden europäischen Parteien keinerlei Vision für eine Zukunft, die sich von der Gegenwart unterscheiden würde. Es geistern trotzdem Zukunftsvisionen herum. Ich sehe drei. Die erste Vision ist das Scharia-Gesetz, nach dem Frauen eine Burka tragen sollen. Man kann sich streiten, ob das erstrebenswert ist, aber es ist eine Zukunft, die sich von der Gegenwart unterscheidet.

Die zweite Vision ist, dass die künstliche Intelligenz des kommunistischen China alle durchleuchten wird. Ich nenne es das Auge Saurons in der Begrifflichkeit von „Der Herr der Ringe“. Es ist ein totalitärer Staat, der totalitärer ist als alles, was wir im 20. Jahrhundert gesehen haben. Hinter der dritten Tür stehen Greta und die grüne Revolution. In dieser Zukunft werden alle ihren Abfall wiederaufbereiten und mit elektrischen Autos herumfahren. Die grüne Utopie ist – innerhalb des Visionsvakuums der europäischen Politik – relativ gesehen die am wenigsten schlechte aller derzeit kursierenden Zukünfte. Darum hat diese Vision ein solches Charisma entfalten können. Aus Mangel an besseren Alternativen.

WELT: Europa zwischen China, Scharia und Greta: welch trostloser Ausblick. Wie gefährlich ist der Klimawandel an sich?

Thiel: Ich würde mehr an den Klimawandel und an die heutige Klimapolitik glauben, wenn ich das Gefühl hätte, es gäbe die Möglichkeit einer offenen Debatte und einen größeren Spielraum für Diskussionen. Die Art, wie heute Wissenschaft finanziert wird durch diese selbstbezüglichen Komitees von Gleichgläubigen, die anderen Gleichgläubigen Geld geben, hat mich zur Überzeugung kommen lassen, dass selbst dann, wenn wir ein menschengemachtes Klimawandelproblem haben, die Wissenschaft dahinter zwangsläufig falsch sein muss.

WELT: Der Wissenschaft ist nicht mehr zu trauen? Das wäre fürchterlich.

Thiel: Es ist so unglaubwürdig und so korrupt. Vielleicht ist Methan das ernsthaftere Treibhausgas als CO2. Vielleicht ist das Problem, dass wir Steaks essen, und nicht, dass wir Autos benutzen. Was mich am meisten frappiert: Wenn wir die Klimakatastrophe wirklich ernst nehmen wollen, dann müssen wir eine ganz andere Politik fordern. Ich würde zwei große politische Maßnahmen vorschlagen, aber keine davon ist heute auf der Agenda. Das ist der Grund, warum ich glaube, dass diese Klimaleute kein vollständig gutes Motiv haben.

WELT: An welche Maßnahmen denken Sie?

Thiel: Nuklearenergie ist das Wichtigste. Sie ist die saubere Energie der Zukunft. Die Klimalobby müsste ihr weltweit zum ganz großen Durchbruch verhelfen. Der zweite Aspekt ist, dass wir – wenn schon – den Klimawandel als globales Problem ernst nehmen sollten. Aber es grenzt an magisches Denken, wenn jeder in Deutschland oder Kalifornien ein Elektroauto fährt und annimmt, er sei ein weltweites Vorbild und alle würde es ihm nachmachen. Das ist Unsinn. Wenn man weniger Verschmutzung produziert in Deutschland, wird heute die Verschmutzung einfach um den Erdball exportiert nach China, wo die Verschmutzung nach oben geht, weil sie in China Kohle benutzen, was einen größeren Treibhauseffekt erzeugt.

Es sollte massive, einschneidende Zölle und Handelsbeschränkungen gegen China oder Indien und andere Staaten geben. Wir sollten nichts von ihnen importieren. Wir sollten sie wirtschaftlich bestrafen, weil sie den Planeten verschmutzen, denn die Hälfte aller Treibhausgase kommt aus Indien und China, und das weltweite Wachstum ist dort am stärksten. Die Debatte läuft aber nicht in diese Richtung. Sie dreht sich um Menschen in Schweden, die in Zügen herumrollen. Würden wir also die Klimafrage wirklich ernst nehmen, würden wir eine ganz andere Diskussion führen. Deshalb misstraue ich der Klimadebatte zutiefst.

WELT: Ist der Westen im Niedergang?

Thiel: Eindeutig ja. Oswald Spengler (Autor des Bestsellers „Der Untergang des Abendlandes“, Anm. d. Red.) fühlt sich auch nach 100 Jahren trotz aller Fehler und Irrtümer seltsam prophetisch an. Man muss den Niedergang des Westens, wenn man die Frage so direkt stellt, aus meiner Sicht sehr ernst nehmen.

WELT: Mit China bekommt der Westen starke Konkurrenz. Hilft uns China, die eigenen Stärken wiederzuentdecken?

Thiel: Vorsicht. Man muss seine Feinde mit Bedacht auswählen, denn die Gefahr ist, dass man so wird wie sie. Teile unserer Elite finden es vielleicht nicht einmal so unsympathisch, wenn wir wie die Chinesen werden, fügsamer, kontrollierbarer. Viele glauben, China funktioniere besser als der Westen. Ich hingegen bin der Meinung, dass wir eine echte Alternative zu China bilden müssen. Es wäre ein Pyrrhussieg, China zu besiegen, indem wir werden wie China.

WELT: Halten Sie das echt für möglich?

Thiel: Wir haben über Kollektivismus gesprochen, kontrolliertes Denken, Sprechverbote. Das haben wir doch alles schon. Natürlich sind die Strafen nicht so hart wie in China, aber auch in den USA verlieren Leute ihren Job, wenn sie das Falsche sagen. Man wird „deplatformed“. Die Risiken sind nicht untrivial. Wir sind China ungemütlich näher als noch vor vierzig Jahren.

WELT: Was ist an China gefährlich?

Thiel: Es wäre für den Westen besser, wenn China heute eine fundamental andere, nicht westliche Zivilisation wäre, wenn China dieses ureigene Selbstvertrauen noch hätte, wie damals, als die chinesischen Kaiser im 18. Jahrhundert den westlichen Abgesandten sagten, sie hätten keinerlei Interesse an ihren Schmuckstücken und Uhren, China sei bereits großartig. Diese Traditionen aber wurden alle ausgemerzt. China wird nicht in die Ming-Dynastie zurückkehren. Stattdessen gibt es ein kulturelles Vakuum, und China will die USA nachahmen. Das ist die Gefahr. Wenn die Chinesen ihre eigene Identität pflegten, wäre die Auseinandersetzung viel weniger konfrontativ. Beängstigend ist, dass die Chinesen wie die USA sein wollen, die führende Supermacht. Daraus ergibt sich der große Konflikt.

WELT: Ist Russland Gegner oder Partner des Westens?

Thiel: Die große Herausforderung für den Westen ist China, und wir sollten mit Russland gegen China zusammenarbeiten, wie wir in den 1970ern und 1980ern mit China gegen Russland zusammengearbeitet haben. Allerdings frage ich mich, ob Russland nicht bereits ein Satellit Chinas ist. Huawei soll in Russland die ganze Telekommunikationsinfrastruktur aufbauen. Für mich ist Huawei das Spionagesystem des 21. Jahrhunderts.

WELT: Was wollen Sie in der Zukunft noch erreichen?

 

Thiel: Wenn Sie mich so direkt fragen: Ich möchte in den nächsten zehn Jahren etwas machen, was den Niedergang des Westens umkehrt. Aber wie soll man da vorgehen? Die letzten Jahre habe ich es versucht, indem ich erfolgreiche Unternehmen gegründet und investiert habe, aber das ist irgendwo nicht genug. Was darüber hinaus in unserer Gesellschaft etwas bringt, ist schwer zu sagen. Aber darüber denke ich konkret nach: „Was können wir tun in dieser hochgradig gestörten westlichen Zivilisation, in der wir uns befinden und die wir schützen wollen?“ Das scheint mir heute die zentrale Frage zu sein.

Zur Person

Peter Thiel, 53, wurde in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Philosophie in Stanford, mit noch unter 30 Jahren startete er seine erste Investmentfirma. Sein Durchbruch war um die Jahrtausendwende der Online-Bezahldienst PayPal, den er mit Freunden und dem späteren Überflieger-Visionär Elon Musk trotz Rückschlägen zu einem Milliardenerfolg machte. Sein Geniestreich war der Einstieg als erster Großinvestor bei Facebook. Aus 500.000 Dollar Einsatz resultierte rund eine Milliarde Gewinn. Politisch aufhorchen ließ er als eloquenter Verfechter libertärer Ideen und als Unterstützer des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.

Dieses Interview erschien zuerst in einer längeren Fassung im Schweizer Magazin „Die Weltwoche“. Roger Köppel ist Verleger und Chefredaktor dieser Zeitschrift.

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Artikel zum Sonntag, 20.12.2020: Wer ist der Fisch?

Die katholische Seelsorgerin Hildegard Stumm …

… erzählt und deutet das Märchen vom „Fischer und seiner Frau in der Morgenandacht, die am 15.12.2020 vom Dlf gesendet wurde:

Quelle grün-kursive Zitate unten & Andacht komplett lesen: Hier klicken

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AfD: Befragung der Bundeskanzlerin im Bundestag 16.12.2020

  • Quelle: Hier klicken
  • Gesamte Befragung der Kanzlerin/Bundesregierung mit allen Fragen, Antworten und Dokumenten: Hier klicken
Bundeskanzlerin Merkel zum Thema …
  • Impfstoff: […] Das ist ein Impfstoff [von Biontech-Pfizer], der genetische Komponenten enthält und damit sehr präzise funktionieren könnte, so jedenfalls die jetzigen Versuchsergebnisse der Phase-III-Studien. […]
  • Maske: […] Es soll auch Menschen geben – das sage ich vollkommen neutral, wir wollen nämlich keine Impfpflicht einführen –, die sich
    nicht gern impfen lassen. Wenn das mehr als 40, 50, 60 Prozent der Bevölkerung sein sollten, dann werden wir noch sehr lange eine Maske tragen müssen, und zwar sehr viel länger, weil wir dann die Herdenimmunität nicht erreichen oder das in anderen Ländern der Welt
    nicht passiert. Das liegt in der Natur der Sache. […]

Quelle: Hier klicken Seite 25202

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