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Meilenstein bei TE Print 08/2020: Corona – Lebenszeit berechnen

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Ein Meilenstein aus der Ausgabe 8/2020. Der Artikel beschäftigt sich vollkommen neutral mit den Kosten, die die Corona-Pandemie auf der einen Seite und der Lockdown auf der anderen Seite verursacht. Und in diesem Zusammenhang mit dem Wert eines Menschen an sich in Deutschland und anderswo:

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Meilenstein: WeLT-Autor Andreas Rosenfelder hat bereits …

… am 27. April 2020 einen hervorragenden Artikel und eine starke Meinung zum 

Lockdown in der Corona-Krise

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Mit seinem  aktuellen Meinungsartikel

Das Menschenexperiment

legt Andreas Rosenfelder nach. 

Auch dieser Beitrag von Andreas Rosenfelder ist ein WeLTplus-Artikel:

Weil er für Beurteilung der aktuellen Lage in Sachen Corona  wichtig und unabdingbar ist, zitiere ich ihn weitgehend.

Im Übrigen lohnt sich das WeLTplus Abo (9,99 € / monatlich kündbar) uneingeschränkt. Ebenso wie das der FAZ und auch der NZZ. Erwerben Sie das WeLTplus-Abo  und lesen Sie auch die Verweise und  Leserkommentare zum folgenden Artikel:

Das Menschenexperiment

Wir wissen nicht, ob Corona verschwindet oder bleibt. Aber schon jetzt steht fest:

Grün-kursives Zitat & kompletten Artikel mit allen Verweisen und Kommentaren lesen: Hier klicken

Im Zweifel sind wir bereit, dem Schutz vor dem Virus fast alles unterzuordnen. Über die unerträgliche Leichtigkeit des Freiheitsverzichts

Wir leben in einer Pandemie! So lautet die offizielle Weltbeschreibung im Sommer 2020. Paketboten, Lehrer, Nachrichtensprecher, Barkeeper, Politiker sprechen den Satz wie ein Mantra aus, mal seufzend, mal streng, manchmal auch schulterzuckend abgekürzt: Pandemie! Der Hinweis hat den Charakter einer Letztbegründung, eines Axioms unserer Tage, daraus leitet sich alles andere ab.

Die Sprache ist das älteste und mächtigste Werkzeug, mit dem wir Menschen unsere Welt gestalten. In dieser Gestaltung herrscht keine Beliebigkeit, wohl aber Freiheit. Denn natürlich könnte man die Welt, in der wir leben, auch ganz anders beschreiben: Wir leben in einem intensiv duftenden Juni, wir leben in einer globalen Dürreperiode, wir leben in einer parlamentarischen Demokratie, wir leben in einem Albtraum, wir leben unter dem Schutz des Grundgesetzes, wir leben in einer Balkenspiralgalaxie. Doch all diese Sätze sind gerade grau hinterlegt, als Zugang zur Gegenwart leider nicht anwählbar. Es gilt die eine, die Masterbeschreibung: Pandemie.

Unter „Corona-Leugnern“

Wer vergisst, diese Prämisse in seine Überlegungen einzubauen, wer sich gar weigert, sie als unumstößliches Argument anzuerkennen, der wird verbannt, und zwar ins Lager der „Corona-Leugner“. So lautet der inzwischen amtliche Sammelbegriff für die Kritiker und Skeptiker, Zweifler und Unbelehrbaren, die sich das Axiom von der Pandemie nicht ausdrücklich zu eigen machen – oder auch nur die Frage aufwerfen, ob sie eine hinreichende Begründung ist für die Totalverwandlung der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Sphäre, deren Zeugen wir in den letzten Monaten waren.

„Corona-Leugner“: Diese diskursive Weiterentwicklung des „Klimaleugners“, in dem bereits die Verworfenheit des „Holocaustleugners“ und des archaischen „Gottesleugners“ mitklang, ist ein Alarmsignal. Denn sie steht für die gefährliche, zutiefst antiaufklärerische Tendenz, auch legitime Kritik als Verleugnung von Fakten zu diffamieren. Wir trainieren uns ab, die Welt als einen Schauplatz und Gegenstand menschlicher Freiheit zu betrachten. Schließlich leben wir, so das Glaubenssystem unseres Zeitalters, in einer völlig eindeutigen Situation, aus der sich ganz klare Handlungsanforderungen ableiten, und das mit wissenschaftlicher Stringenz. Aus der Feststellung der Pandemie ergeben sich so „zwangsweise“ politische Maßnahmen, die nur Verrückte infrage stellen können.

Das mag sich vernünftig anhören, es ist aber selbst ideologischer Wahnsinn. Eine Politik, die ihre Entscheidungen nur noch aus Infektionskurven ableitet, hat nicht nur nichts mit einem reflektierten, multiperspektivischen Wissenschaftsbegriff zu tun – nein, schlimmer, es handelt sich bei ihr auch gar nicht mehr um Politik.

„Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen“, so hat die Philosophin Hannah Arendt den Sinn des Politischen erklärt. „Ohne die geistige Freiheit, das Wirkliche zu akzeptieren oder zu verwerfen, ja oder nein zu sagen, ohne diese geistige Freiheit wäre Handeln unmöglich. Handeln aber ist das eigentliche Werk der Politik.“

Wo ist diese fundamentale Freiheit geblieben, die sogar der Wirklichkeit überlegen sein soll, weil sie den Menschen aus der Sphäre der bloßen Notwendigkeiten heraushebt, ihn aus dem ewigen Kreislauf seiner biologischen Existenz befreit? In der griechischen Polis, die Arendt immer im Hinterkopf hatte, mag das ja eine gute Idee gewesen sein, vielleicht auch im Jahr 1963, als sie die Sätze im amerikanischen Exil niederschrieb.

Gesellschaft als infektionshygienische Katastrophe

Aber jetzt gerade ist das halt keine Option, sorry! Wir leben in einer Pandemie, sind auf der Ebene unserer Zellstruktur bedroht, der Staat muss unser nacktes Leben schützen. Da ist es nun einmal angezeigt, auf „gewisse Freiheiten“ zu verzichten, wie es oft mit hämischem Unterton heißt, natürlich – jetzt wieder beschwichtigend – „nur vorübergehend“. Wobei dieses „vorübergehend“ immer seltsam vage bleibt. Die Überlastung unserer Intensivstationen, die durch die Restriktionen ursprünglich verhindert werden sollte, mancher mag sich wie durch einen Nebel daran erinnern – sie ist längst in unendliche Ferne gerückt, die eilig hochgezogenen Notkrankenhäuser stehen leer. Der umfassende Schutz, die Verhinderung von Infektionen ist Selbstzweck geworden.

Wenn eine Demonstration von Berliner Ravern in Schlauchbooten zu einem Zeitpunkt, an dem es rund 7000 aktive Corona-Fälle in Deutschland gibt und Aerosol-Infektionen im Freien wissenschaftlich als zweitrangig gelten, ein absolutes Skandalon darstellt, auf die das Land voll Hass und Abscheu blickt, wenn feiernde Roma-Familien in Göttingen als „infektionshygienische Katastrophe“ gelten – wann genau sollen diese sozialen Ereignisse dann keine Katastrophen mehr sein, sondern wieder etwas schräge Ausformungen jenes Konzepts, das seit der Antike Öffentlichkeit heißt und auf der unberechenbaren Begegnung von Menschen im Raum basiert?

Wann genau wird man wieder damit aufhören, Fotos von „unkontrollierten“ Menschenansammlungen – vom Fotografen oft aus so schräger Perspektive aufgenommen, dass man die tatsächlichen Abstände gar nicht einschätzen kann – als Skandale, die Abgebildeten als sozialen Schmutz zu behandeln und mit dem entsetzlichen Hashtag „Covidioten“ zu versehen?

Bei null werden die Infektionszahlen niemals ankommen, „wir werden mit dem Virus leben müssen“, wie der kluge, pragmatische und menschlich denkende Virologe Hendrik Streeck sagt. Oder, wie Markus Söder jüngst, allerdings weniger pragmatisch, in der WELT AM SONNTAG formulierte: „Corona ist und bleibt tödlich.“ Das ist wahr, zumindest in 0,3 bis 0,7 Prozent aller Fälle. Aber ein Verfallsdatum hat die Tautologie, die der bayerische Ministerpräsident als politisches Argument ins Feld führte, eben nicht.

Die Toten der anderen

Aber stimmt es denn nicht? Leben wir nicht in einer Welt, in der sich eine gefährliche Infektionskrankheit ausbreitet? Zweifelsfrei – und übrigens nicht nur eine. Rund 400.000 Corona-Tote zählt die WHO Anfang Juni. Laut den Statistiken derselben Organisation sterben jedes Jahr 290.000 bis 650.000 Menschen an der saisonalen Grippe. Im Jahr 2018 gab es unglaubliche 1,5 Millionen Tote durch Tuberkulose, 140.000 durch Masern, 405.000 durch Malaria.

All das sind ebenfalls pandemische Erkrankungen. Trotzdem starb keines ihrer Opfer „in einer Pandemie“: Sie starben im Krankenhaus, auf der Parkbank, im Schoß der Familie, in der einsamen Wohnblockwohnung. Keiner dieser Millionen von Toten wurde mit Name und Hobby auf der Titelseite der „New York Times“ gewürdigt, kein schrecklicher Todeskampf dokumentiert, keinem Leichenwagen lauerte ein Kamerateam auf, kein eilig ausgeschachtetes Armengrab wurde fotografiert.

Und, was sagen uns diese Zahlen? Sie sagen uns nichts. Wie alle Daten müssen sie zum Gegenstand von Deutungen werden, um etwas zu bedeuten. Dieses Wissen haben wir in den letzten Wochen so erfolgreich verdrängt, dass schon der Versuch, ein Fragezeichen hinter den Sinn all der schwankenden Infektions-, Todes-, R- und Viruslast-Zahlen zu setzen, mit denen wir täglich bombardiert werden, als „Corona-Relativierung“ zu Buche schlägt.

Apropos Relativierung: Den Zahlenvergleich gerade eben hat die „Tagesschau“ zusammengestellt – und das in ihrem „Faktenfinder“ –, am 3. Februar 2020. Der Artikel heißt „Ist die Angst berechtigt?“ und steht immer noch im Netz. Allein die Frage wirkt heute skandalös. Angst mag bei anderen Gefahren ein zwiespältiges Gefühl sein, das uns Vorsicht gebietet, das wir im Namen der Handlungsfreiheit aber auch überwinden können – etwa beim drohenden Herzinfarkt wegen Stress im Job, der Gefährdung des eigenen Lebens, aber auch Dritter im Straßenverkehr, der niemals ganz ausgeschlossenen Krebserkrankung, die unendlich viele Gründe in der eigenen Lebensführung oder in Umwelteinflüssen finden mag.

Im Fall von Corona aber ist die Angst nicht nur berechtigt, sie ist gleichsam verpflichtend und verlangt nach absolutem Schutz, wie ihn sich Thomas Hobbes in seinem dystopischen Staatsgebäude ausgemalt hat. Die Bundesregierung hat diese lange Zeit lähmende Angst mitzuverantworten, ein Strategiepapier des Innenministeriums empfahl im März die Kommunikation von grotesk übertriebenen Horrorszenarien. Die Sehnsucht nach der Freiheit hingegen, dieser andere Pol der menschlichen Existenz – sie hat in der Pandemie gefälligst zu schweigen. Und das tut sie auch, erschreckend brav, mit wenigen Ausnahmen.

„Maßnahmen, die in Deutschland unüblich wären“

Übrigens stellt der Artikel aus dem „Faktenfinder“ der „Tagesschau“, der wie eine phönizische Tonscherbe aus einem anderen Erdzeitalter zu uns spricht, zur damals noch befremdlichen Strategie des Lockdowns die ketzerische Vermutung an, „dass Chinas Behörden“ damit „verhindern wollen, dass die Bevölkerung ihr Vertrauen verliert und dass andere Länder die Regierung in Peking für inkompetent halten“. Deshalb komme es in China zu „Maßnahmen, die in Deutschland unüblich wären“.

Verkehrte Welt! Nur vier Monate später gilt das exakte Gegenteil. Als selbstverständlich, ja sogar als vergleichsweise harmlos und milde erscheinen uns die kafkaesken Vorschriften zur Kontaktbeschränkung in den einzelnen Bundesländern, der offiziell immer noch auf jedem Gehweg verlangte Mindestabstand, die fortwährende Schließung von Schulen und Kindergärten.

Wenn jemand Nutzen und Notwendigkeit solcher Zwangsmaßnahmen in Zweifel zieht, wie etwa Armin Laschet oder Bodo Ramelow, dann verliert er Vertrauen, wird von den Medien als inkompetent dargestellt. Wenn ein Politiker sich dabei erwischen lässt, einen Freund nach dem Abendessen zum Abschied zu umarmen, und das auch noch ohne Maske, dann steht er am digitalen Pranger – und das, bis er sich, wie Christian Lindner, immerhin doch Chef der liberalen Partei, bußfertig entschuldigt.

Wenn Parks von San Francisco bis Heidelberg kornkreisartige Zirkel in den Rasen ziehen, um jedem Individuum seinen distanzierten Einzelplatz zuzuweisen, ist kein Entsetzen mehr spürbar. Und wenn aus Italien vermeldet wird, dass dort künftig „Zivilhelfer“ auf den Straßen patrouillieren sollen, um übermütige Jugendliche an die Einhaltung der Hygieneregeln zu gemahnen, dann denken wir nicht an die Sittenwächter im Iran, sondern zucken staatsbürgerlich mit den Schultern: Pandemie!

Über den Lockdown-Horror in Spanien und Frankreich, der an Verbrechen gegen die Menschlichkeit grenzt, weil der Staat Kinder monatelang in den Wohnungen einsperrte und Bürger dazu zwang, sich selbst den Weg zum Bäcker per App freischalten zu lassen, empörte sich in Deutschland niemand. Stattdessen pathologisiert man verbissen das einzige europäische Land, das den chinesischen Autoritarismus nicht kopiert.

Fast täglich erscheint irgendwo ein Artikel über den berüchtigten schwedischen „Sonderweg“, dieses unverantwortliche „Experiment mit der Bevölkerung“, das immer wieder zornig für „gescheitert“ erklärt wird – auch wenn die Gesamtzahl der Corona-Toten pro Millionen Einwohner dort, wie jeder Wissbegierige auf den einschlägigen Statistikseiten selbst nachschauen kann, Stand Juni sogar niedriger ist als etwa in Belgien, Spanien, England oder Italien. Überall dort wurde die Lockdown-Strategie über Monate hinweg mit unbarmherziger Strenge durchgezogen, was Millionen von Menschen ins soziale, psychische und oft auch gesundheitliche Elend stürzte, ungezählte Tote forderte – und das Corona-Massensterben vor allem in den Pflegeheimen, den Hotspots der Pandemie, trotzdem nicht verhinderte.

Der sinnlose Lockdown

Dass es ohne allgemeinen Lockdown noch viel schlimmer gekommen wäre, bleibt eine unbewiesene Hypothese. Eine großflächige Clusteranalyse des österreichischen Gesundheitsministeriums brachte ans Licht, dass vor allem Heime, Après-Ski und Chöre, nicht aber Schulen, Kitas oder Geschäfte zur Verbreitung des Virus beigetragen haben. Einiges spricht dafür, dass Deutschland vor allem durch sein stabiles Gesundheitssystem vor Schlimmerem bewahrt wurde – und dass zur Eindämmung der Ausbreitung schon die Absage der Großveranstaltungen im März genügt hätte, verbunden mit frühem Testen und Nachverfolgen und lokalen Maßnahmen. Die Kontaktsperren und vor allem die für Kinder und Familien nachhaltig schlimmen Schulschließungen hätte man sich dann auch sparen können.

Aber all das wollen wir vielleicht gar nicht so genau wissen, es würde unangenehme Fragen aufwerfen. Vielleicht hat das eigentliche Experiment mit der Bevölkerung ja gar nicht in Schweden, sondern bei uns stattgefunden? Die Versuchsanordnung, die sich ohne jede Verschwörung wie von selbst ergeben hat, ist jedenfalls hochinteressant: Wie leicht und wie schnell ist eine neurotische, mit sich selbst offenbar unglückliche Wohlstandsgesellschaft bereit, auf die Freiheit als ihr Grundprinzip zu verzichten? Welche Dosis von Angst, von Schreckensnachrichten, von Bedrohung – sei sie nun objektiv oder subjektiv – ist nötig, damit sich die Menschen auf Dauer im verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand einrichten?

Vielleicht ist die Pandemie nun, wo die Infektionskurven trotz aller umstrittenen Öffnungen nicht „exponentiell“ in die Höhe schnellen, sondern in Richtung x-Achse abflauen, schon vorbei. Vielleicht kommt doch noch die „zweite Welle“, auch wenn ihre Propheten das Szenario in den letzten Wochen zur Sicherheit schon einmal abmoderiert haben. Das gesellschaftspolitische Experiment kann man allerdings jetzt schon als erfolgreich abgeschlossen bezeichnen: Freiheit ist ein optionales Feature, eine Art politisches Zusatzmodul. Nice to have, aber im Fall der Fälle auch ohne größere Beschwerden abschaltbar.

Und der Fall der Fälle ist jetzt klar definiert: die Pandemie. Wenn man sich durch die Pandemieberichte der WHO in den letzten Jahren arbeitet, braucht man sich um Nachschub keine Sorgen zu machen. Beim nächsten Mal tut es dann bestimmt schon nicht mehr so weh, es hat doch diesmal ganz gut geklappt, und außerdem haben wir uns nun ja auch alle zusammen daran gewöhnt. Zu Hause ist es doch auch ganz nett, mit Podcasts, Netflix und Entschleunigung!

Das Private als Fluchtort

Das Oikos ist buchstäblich das neue Haus des Seins, in das uns die Corona-Krise zurückgeworfen hat. Seit Aristoteles bildet es den Gegenpol zum Politischen: Es ist der Ort der Bedürfnisse, der Abhängigkeiten und der Versorgung. Aus Millionen von Homeoffice-Wohnzimmern wird aber auch durch Zoom keine neue Öffentlichkeit, aus zweidimensionalen Gesichtern oder Stimmen im Bluetooth-Kopfhörer erwächst keine Begegnung mit dem Anderen.

Der Rückzug in die sozialen Einzelzellen, die Konzentration auf die rein private Selbstverwirklichung ist ein klassisches Merkmal totalitärer Systeme. „Wären wir wirklich der Meinung, dass es in der Politik nur um Sicherheit und Lebensinteressen geht“, so Hannah Arendt, „hätten wir keinen Grund, die Tyrannis prinzipiell abzulehnen; denn Sicherheit gerade kann sie gewährleisten, und für den Schutz des schieren Lebens hat sie sich oft allen anderen Staatsformen als überlegen erwiesen.“

Ups, wie aufregend! Was wir in der Corona-Pandemie erlebt haben, ist also eine „klitzekleine“ totalitäre Erfahrung – wenn auch nur als Testlauf, ein kollektiver Kurztrip. Aber er hat unseren politischen Horizont erweitert, wir sind bereit für mehr davon. Besonders die politisch-medialen Eliten wirken fleißig an jenem Phänomen mit, das der russische Anthropologe Alexei Yurchak „Hypernormalisierung“ nannte: Er meinte das Lebensgefühl der späten Sowjetunion, wo man eine absurde und autoritäre Realität konsequent als alternativlos behandelte, bis es ihre Infragestellung war, die als unnormal erschien.

Das ging auch bei uns schnell. Avantgarde der Normalisierung ist die identitätspolitische Linke, die „Freiheit“ nur noch als höhnischen Hassbegriff kennt, kein Verhältnis mehr zum emanzipatorischen Gedanken hat und nicht mehr zur Sonne, zur Freiheit strebt. Für sie ist das Virus ein Geschenk des Himmels, denn es macht ihre Idee der Gesellschaft als einer einzigen großen Risikogruppe, als Ansammlung möglicher Opfer, für alle verbindlich.

Aber auch viele Schöngeister fassen den Begriff der Freiheit nur noch mit Anführungszeichen an, als könne er Schmierinfektionen verursachen. So erklärten die hauptamtlichen Literaturkritiker des „Spiegels“ und der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ gerade die Schriftstellerin und Verfassungsrichterin Juli Zeh, die schon früh ihr Unbehagen an den Lockdown-Maßnahmen bekannt hat, unisono für unzurechnungsfähig: Zeh habe ihre bornierte Außenseiterposition, so ungefähr der Vorwurf, selbst nach mehreren Wochen Lockdown nicht an die neuen Realitäten angepasst. Die Rezensionen klangen so, als müsse Zeh zu ihrem eigenen Schutz demnächst in eine staatliche Literaturheilanstalt verbracht werden.

Viele sonst Goethe zitierende Geister haben sich in den letzten Monaten mit Pizza vom Lieblingsitaliener im Ausnahmezustand ihrer Stuckaltbauwohnungen eingebunkert, Drostens NDR-Podcast auf dem Volksempfänger eingestellt und über Facebook im Stil von Karl Lauterbach jede neue Öffnungsrunde als Anfang vom Ende beklagt.

Der ist dann immer ausgeblieben, aber wenn im Kanzleramt irgendwann doch ein neuer Lockdown entworfen werden sollte, stünde das deutsche Kulturkommissariat sicher gerne bereit, um der Bevölkerung im Kanzleistil zu vermitteln, dass man in der Pandemie eben auf „bestimmte Freiheiten“ verzichten müsse, was aber nicht weiter schlimm sei, da es sich bei diesen Freiheiten ohnehin um spätkapitalistische, wahlweise auch neoliberale Fetische handle.

Eine Zeit der Versteinerung

Und wirklich, wer braucht sie noch, die Freiheit, diese radikalste und zugleich leerste Idee aller Zeiten? Die Linke hat sie aufgegeben, die Rechte missbraucht sie als Pathosformel, und die saturierten Konservativen stehen stramm, wenn der starke Staat ruft. Die FDP, die in den letzten Monaten mit ein wenig Mut zur Partei der klugen Kritik, der vernünftigen Skepsis, aber auch der wilden Freiheitssehnsucht hätte werden können, die jene 20 bis 25 Prozent hinter sich hätte scharen können, die aus unterschiedlichen Gründen ein Unbehagen an den Maßnahmen empfinden – sie hat sich abgemeldet und das Feld der opportunistischen AfD überlassen. Besonders Letzteres ist eine Katastrophe.

Worin leben wir? Vielleicht ja in einer jener „Versteinerungs- und Untergangsepochen“, von denen Hannah Arendt sprach: den in der Geschichte immer wiederkehrenden Zeiten, in denen das Politische erstarrt und sich der Freiheitstrieb enttäuscht nach innen richtet, als „Rückzug aus der Welt“.

Doch genau das sind, dialektisch gesehen, die besten Zeiten für die Freiheit, für ein Ausbrechen aus dem Automatismus, einen neuen Anfang. Er könnte damit beginnen, dass wir damit aufhören, die Pandemie mit der Welt zu verwechseln.

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