Der Mediziner und Gesundheitsökonom Matthias Schrappe, 65, war von 2007 bis 2011 stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit. Er hat die Corona-Politik der Bundesregierung seit April kritisch begleitet. Zusammen mit acht weiteren Wissenschaftlern veröffentlicht er an diesem Sonntag ein Papier, in dem er eine neue Strategie in der Pandemie anmahnt.
WELT: Herr Schrappe, Sie haben mit acht Wissenschaftlern ein Papier über die Bundesregierung und ihre Corona-Politik verfasst. War das nötig?
Matthias Schrappe: Ja. Weil nichts zu erkennen ist, was nach einer brauchbaren Strategie aussieht. Das fängt bei den Corona-Tests an und endet sicher nicht bei dem, was die Regierung für angezeigt hält bei den Schutzkonzepten für Risikogruppen. Wir hatten schon im April klargemacht, dass es Infektionsherde in Krankenhäusern und Pflegeheimen geben würde. Es hätte umgehend spezifischer Maßnahmen bedurft. Das gilt immer noch, weil fast die Hälfte der Todesfälle auf diese Institutionen zurückgeht. Aber die Bundesregierung ist beratungsresistent. Am Sonntag veröffentlichen wir dennoch ein Thesenpapier, wie man Pflegeheime und Krankenhäuser wirkungsvoll schützen kann. Wir machen das zum sechsten Mal, und beim Formulieren ist es uns schwergefallen, nicht immer das Gleiche zu wiederholen. Notwendig war es trotzdem, weil die Deutschen jetzt den harten Weg antreten müssen. Dabei werden besonders gefährdete Menschen auf der Strecke bleiben. Es gibt keine geeigneten Schutzkonzepte für sie.
WELT: Kein Schutz für ältere Menschen? Nennen Sie mir das Pflegeheim, das jetzt noch unbegrenzt Besucher empfängt.
Schrappe: Wenn in Deutschland von Schutz die Rede ist, dann kann man sich darauf verlassen, dass damit wegsperren gemeint ist. Ich habe meine klinische Karriere in den Anfängen der Aids-Jahre gemacht und zur HIV-Infektion habilitiert. Damals ist man auf die homosexuellen Männer zugegangen, hat sie angesprochen als Risikogruppe, sie beraten. So kam es zur Safer-Sex-Kampagne, die äußerst erfolgreich war. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Kontakte zu verbieten oder Sex. Wir haben gegen alle Widerstände in winzigen Schritten durchgesetzt, dass Drogensüchtige Polamidon bekamen. So hieß das damalige Methadon, das heute Standard ist. Wir bekamen empörte, wüste Drohungen. Unter anderem lehnten Psychiater das Verfahren grundsätzlich ab. Ich erzähle das, um für das zu werben, was man seit damals unter zielgruppenspezifischen Präventionsanstrengungen versteht. Wegschließen gehört sicher nicht dazu.
WELT: Was stattdessen?
Schrappe: Menschlichkeit und ein wohlwollender Schutz, der von der Persönlichkeit und der Würde der Betroffenen ausgeht. Das kann man sich offenbar nur schwer vorstellen. Warum gibt es in Corona-Zeiten für ältere Menschen kein Taxi zum Preis eines ÖPNV-Tickets? Wo sind die Hilfsprogramme für ambulant zu pflegende Personen? Warum können denn Studenten, deren Kellnerjob weggebrochen ist, nicht für das gleiche Geld vor den Seniorenheimen stehen und Abstriche machen? Oder Einkaufsdienste für Senioren? Oder die ambulante Pflege entlasten? Man muss in dieser Zeit doch den Zusammenhalt wecken, die Fantasie anregen, wie man sich und die Mitmenschen schützt. Aber das ist eine Führungsaufgabe, dazu müsste die Bundesregierung bereit sein, mit Präventionsideen zu experimentieren, sie müsste es ausprobieren, und sie sollte vor allem auf diese permanenten Lockdown-Drohungen verzichten.
WELT: Der Bundesregierung, vor allem aber den Ministerpräsidenten, schwebt eher ein Begriff aus der Wirtschaft vor: „Top Down“. Der Hirte pfeift, die Herde setzt sich in Bewegung.
Schrappe: Ich bin Arzt. Ich mag Menschen, ich achte die Rolle und die Autonomie des Patienten. Im Gesundheitssystem haben wir zuletzt große Fortschritte gemacht, wie man als Patient Risiken erkennt und eigenverantwortlich darüber entscheidet. Ich hoffe, es wird kein Zurück geben zum blind gehorsamen, gefügigen Patienten, dem weder Fragen, eine Meinung oder gar Selbstbestimmung zustehen.
WELT: Was raten Sie?
Schrappe: Deutschland hat die üblichen Instrumente der Infektionssteuerung links liegen gelassen. Wir verwenden sie zum Beispiel beim Krankenhauskeim MRSA. Auch da weiß niemand, wo der nächste Herd entsteht, man weiß nur, er kommt. Dagegen helfen schnelle Eingreiftrupps, das könnte uns auch beim Corona-Schutz für verletzliche Bevölkerungsgruppen weiterbringen. Eine Infektion, die asymptomatisch übertragen wird, kann nicht allein durch Barriere- und Nachverfolgungsmaßnahmen in Schach gehalten werden. So viel war auch bei HIV klar, ebenfalls eine asymptomatisch übertragene Erkrankung. Es geht nicht anders, es gibt keine Alternative, als auf die Risikogruppen zuzugehen. Aber das ist in der Politik, die nur das Virus im Blick hat und deshalb auf Virologen hört, nicht angekommen. So bahnen sich Verhängnisse an.
WELT: Das soll der aktuelle „Lockdown light“ ja verhindern …
Schrappe: Ob wir diesen Lockdown machen oder nicht, spielt keine Rolle. Er kann auch keine Welle brechen, wie oft behauptet wird. Es handelt sich eher um einen lang dauernden Anstieg, wie in den anderen Ländern auch.
WELT: Wo stehen wir Ende November?
Schrappe: Die Zahlen werden weiter steigen, vielleicht etwas langsamer. Ob das am Lockdown liegt, wird Ihnen niemand sagen können.
WELT: Woran sollte es denn sonst liegen?
Schrappe: Immer und überall nahm ein Lockdown denselben Verlauf, und das war keine Erfolgsgeschichte. Es gab eine steile Infektionskurve nach unten, die viel Verzicht und Leid gekostet hat. Aber nach dem Lockdown gewann die Kurve rasch ihre alte Höhe zurück. Niemand kann heute sagen, ob ein Lockdown darüber hinaus einen längerfristigen Effekt einbringt.
Es gibt Länder, die einen wesentlich härteren Lockdown hatten als Deutschland. Frankreich zum Beispiel oder Spanien. Die stehen heute schlechter da als wir. Die Pandemie ist kein Geschehen mehr, das man mit Beschränkungen ausbremsen könnte. Die Infektionen wachsen in der Breite, man nennt das sporadischer Ausbreitungstypus, dem man immer nur hinterherrennen kann. Aber es gibt keine Chance, dem Virus zuvorzukommen, was auf Dauer die Gesundheitsämter ruiniert.
WELT: Was also tun?
Schrappe: Es würde helfen, wenn die Labore nicht nur den Befund negativ oder positiv ausgäben, sondern auch die Infektiosität. Den kennen sie, er ergibt sich mit der Zyklenzahl, also der Dauer des PCR-Tests. Je öfter die Nachweisreaktion wiederholt werden muss, desto weniger Virus ist vorhanden. Ein Kind, das zum Nachweis des Virus 38 Zyklen braucht, ist mit Sicherheit nicht infektiös. Da muss nicht die ganze Schulklasse in Quarantäne. Aber die Gesundheitsämter sagen: Das steht nicht in den RKI-Anweisungen, das nehmen wir nicht zur Kenntnis.
„Das Problem ist die Akzeptanz bei der Bevölkerung“
Dem Virologen Alexander Kekulé zufolge wird eine Verlängerung des Lockdowns wenig bringen, da sich viele nicht mehr konsequent an die Maßnahmen hielten. Beim Thema Impfen zeigt er sich verhalten – Nebenwirkungen seien bisher noch zu wenig erforscht. Er verstehe alle, die nicht zu den Ersten gehören wollen.
WELT: Was ist mit Restaurants, Bars und Theatern?
Schrappe: Es gibt keine Gewissheit, ob wir uns dort anstecken. Die Zahlen sprechen eher nicht dafür. Man kann sie geöffnet lassen, unter Schutz versprechenden Maßnahmen. Vielleicht nicht für 500 Leute am Abend, aber für 150. Beim öffentlichen Personennahverkehr könnte man einen Waggon mehr anhängen. Was man so hört, ist das Gegenteil der Fall. Das Treffen von Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten erinnert mich an meine Zeit im Krankenhaus. Wenn die Führung nicht will, dass man sich mit Patientensicherheit beschäftigt, dann passiert nichts. Die Regierung hat jetzt die Chance zu sagen, wir wechseln den Ansatz, es gibt eine andere Strategie.
Wie sinnvoll ist die „Schnupfen-Quarantäne“?
WELT: Oder sie wartet damit, bis der Impfstoff da ist?
Schrappe: Da gilt die alte Infektiologenweisheit: Die Verfügbarkeit eines Impfstoffs ist erst der erste Millimeter eines langen, langen Weges. Selbst wenn man pro Arbeitstag 60.000 Impfdosen verabreichen könnte, würde man 1000 Arbeitstage benötigen, bis alle Menschen in Deutschland geimpft sind. Und es ist nicht nur der Piks, hinter einer Impfkampagne steht eine jahrelange Anstrengung. Wer ein wenig Praxiserfahrung hat, der weiß, dass man da mit vier Jahren kaum hinkommt. Selbst eine Schluckimpfung dauert Jahre.
WELT: Das heißt, wir werden noch Jahre mit dem Coronavirus leben?
Schrappe: Selbstverständlich. Für Ärzte und das Gesundheitssystem wird Corona als Differenzialdiagnose völlig normal werden und auch seinen Schrecken verlieren. Nehmen Sie die klassische Lungenentzündung. Wer damit ins Krankenhaus kommt, hat eine Sterblichkeit von zehn Prozent. Zurzeit hat man mit Sars-Cov-2 im Krankenhaus auch eine Sterblichkeit von zehn Prozent, das Gleiche gilt für Pneumokokken. Es wird für uns normal werden, es wird dazugehören.
WELT: Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagt, kein anderes Land sei mit so milden Mitteln so gut durch die Pandemie gekommen wie Deutschland. Sehen Sie das auch so?
Schrappe: Es gibt sechsmal so viele Intensivbetten wie in Frankreich, und die Intensivmediziner sagen, die Mortalität sinke und sinke. Insofern ist es in Deutschland nicht nur schlecht gelaufen. Aber bevor es jetzt wieder darangeht, die Schulen zu schließen, sind ein paar Überlegungen nicht verkehrt zum Thema: „Was wir bisher noch nicht versucht haben“.
WELT: Was halten Sie vom neuen Infektionsschutzgesetz?
Schrappe: Damit wächst die Kontrollmacht des Staates, die ärztliche Schweigepflicht ist in Gefahr. Wir gefährden einen wichtigen, historisch bewährten Grundwert unserer Gesellschaft.
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