… ist Osteuropa- und Technikhistorikerin und liebt Grenzgänge zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Forschungsbedingt arbeitet sie ab und zu in Kernkraftwerken. Sie lebt mit Mann und drei Söhnen in Leipzig.
Die CDU/CSU und Teile der FDP wollen den Wiedereinstieg in die Kernenergienutzung. Eine Mehrheit der Deutschen stellt sich laut Umfragen inzwischen pragmatisch positiv zur Atomkraft Aber ist das Anliegen auch machbar? Dieser Beitrag ist eine Bestandsaufnahme für alle, die „Atomkraft, ja bitte“ sagen und dabei glaubwürdig bleiben wollen. Fazit vorab: Nur eine lange Laufzeitverlängerung der Bestandsanlagen würde den Aufwand lohnen. AKW-Neubau braucht einen Gesellschaftsvertrag und einen Kulturwandel.
Nun sind alle deutschen KKW abgeschaltet – das einzige Projekt der Energiewende, das „erfolgreich“ vollendet wurde. 2022 ging es noch um die Laufzeitverlängerung laufender und gerade erst abgeschalteter Anlagen, was rechtlich und technisch weit einfacher gewesen wäre als heute. Die Atomdebatte des Winters 2023/24 findet jedoch in einem weit anspruchsvolleren Umfeld statt. Erstens ist es aufwendiger und daher auch langwieriger und teurer, Kernkraftwerke zurückzuholen, die sich bereits in Abwicklung befinden, und zweitens ist die Diskussion wesentlich zerklüfteter. Manche Politiker wollen nur eine Rückholung und Laufzeitverlängerung weniger Blöcke für wenige Jahre, andere träumen von bis zu acht Blöcken für viele Jahre, wieder andere sogar vom Neubau. Dieser Beitrag soll dabei helfen, etwas mehr Systematik und Fachkunde in die Debatte einzuspeisen, um vor Illusionen zu bewahren.
Energie-Deutschland 2023/24: Situationsbeschreibung
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Zusammenfassend ist festzustellen:
Erstens müssen politische Entscheider, die sich mit der Forderung nach KKW-Laufzeitverlängerung oder sogar Neubau tragen, für eine Rettung der noch rettbaren Bestandsanlagen rasch Kontakt mit den Betreiberfirmen suchen und mutig überparteiliche Bündnisse schmieden, um ein Rückbaumoratorium und die von mir skizzierten weiteren Schritte einzuleiten. Pressetermine vor Werkstoren und vollmundige Versprechungen reichen nicht. Jede weitere Verzögerung macht eine Laufzeitverlängerung teurer und damit unwahrscheinlicher.
Zweitens sollten pro-nukleare Politiker Realisten sein, d.h. sich und ihre Wähler mit dem Umfang der Aufgabe konfrontieren und sich mit Fachleuten konsultieren, die ihnen gesicherte Informationen über die Laufzeitverlängerung, aber auch über an deutsche Bedarfe angepasste und vor allem über aktuell baubare neue Anlagen geben können.
Drittens sollten sich Entscheider vor Augen führen, dass unter deutschen Bedingungen nur eine ausreichend lange Laufzeitverlängerung eine Rettung der Bestandsanlagen rechtfertigen würde.
Viertens müssten sie auf einen langfristigen Kulturwandel in unserem Land hinwirken – in Medien, Kirchen, Schulen und eben auch unseren Behörden. Wir brauchen eine evidenzbasierte, selbstkritische, aber vorurteilslose Haltung zur Atomkraft. Und wir brauchen nuclear literacy in unserer Gesellschaft, Breitenbildung über Kerntechnik und ionisierende Strahlung, um Angstbotschaften entgegenzuwirken.
Fünftens benötigen wir einen Wiederaufbau unserer kerntechnischen Wissenschaftsinstitutionen. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Ausbildung des wissenschaftlich-technischen Nachwuchses.
Es mehren sich die Zeichen, dass der Wandel vor der Tür steht. Die Diskurshegemonie der Atomgegner ist bereits mit dem Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine in Frage gestellt worden. Sie erodiert mit jedem Tag: nicht nur nimmt die Aufgeschlossenheit und Neugierde gegenüber der Kernenergie in der Bevölkerung zu, sondern es nimmt auch die Vorstellung ab, sie sei verzichtbar. Die Tragik ist, dass auch unsere noch zu rettenden Kernkraftwerke mit jedem Tag ein wenig mehr zurückgebaut werden.
Die Verfasserin dankt Rainer Moormann (Aachen) und Ulrich Waas (Erlangen) für die kritische Durchsicht dieses Aufsatzes und für wertvolle Anregungen.
Quelle Ausschnitt, Zitat & komplette Analyse
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