WELT: Monsieur Sansal, überrascht Sie die Häufung und Brutalität der jüngsten Attentate?
Boualem Sansal: Ganz und gar nicht. Der politische Islamismus ist eine extrem effektive Kriegsmaschine, die sich Gelegenheiten schafft oder diese auszunutzen versteht, wenn sie sich ihr bieten. Sie profitiert davon, dass Europa durch die Pandemie und diverse politische, wirtschaftliche, soziale wie moralische Krisen geschwächt ist.
WELT: Was meinen Sie mit Kriegsmaschine?
Sansal: Der Terrorismus in Europa ist nur ein Randphänomen. Die wesentliche Verbreitung der islamistischen Ideologie erfolgt hierzulande über Predigten und Bekehrungen, über die Erziehung, die Politik, die Diplomatie, die Wirtschaft, die Unterwanderung der Gesellschaft durch Vereine, den Halal-Handel, die islamistische Finanz, die Medien, das Charity-Business.
Aber der politische Islam versteht es, sich je nach Land und Lage anzupassen. In Algerien, Syrien und Irak ist er zum totalen Krieg übergegangen mit einer sehr effizienten Kriegspropaganda, einer eigenen Armee und schwerem Kriegsarsenal. In Europa steht er noch am Anfang der Entwicklung und agiert auf politischer, kultureller und sozialer Ebene. Wenn es sich anbietet, greift er terroristische Attacken oder Guerilla-Techniken zurück.
Sansal: Die Eroberung und Islamisierung der Welt und die Bestrafung derer, die den Islam bekämpft oder Muslime gedemütigt haben.
WELT: Es melden sich zunehmend Stimmen, die dafür plädieren, keine Mohammed-Karikaturen mehr zu veröffentlichen. Würde das etwas ändern, den Terror beenden?
Sansal: Rein gar nichts würde das ändern. Es geht doch nicht darum, sich zu arrangieren oder einen Deal mit den Islamisten zu machen. Der Islam will bekehren und erobern. Das ist der Wille Allahs. Er will auch die Europäer dafür bestrafen, dass sie die muslimischen Territorien besetzt haben, dass sie die Muslime gedemütigt und gezwungen haben, sich zu verstecken, in Kellern zu beten und das Kopftuch verbaten.
WELT: Haben wir das Ausmaß der Bedrohung inzwischen begriffen?
Sansal: Leider nicht. Die westlichen Demokratien, die noch in voller Blüte stehen, haben die Tendenz, die Gefahr zu unterschätzen, die von den Ländern am Rand ausgeht. Sie fürchten sich vor den Riesen wie China und Russland. Ihr Hauptfehler ist, die islamistische Gefahr in Ländern zu vermuten, die abgesehen vom Iran und der Türkei, wirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich und militärisch schwach sind.
Der Westen will einfach nicht wahrhaben, dass der Islam geine Zivilisation im grenzüberschreitenden Vormarsch ist, die 1,5 Milliarden Gläubige zählt, die auf allen fünf Kontinenten verteilt sind. Selbstverständlich handelt es sich mehrheitlich nicht um Islamisten, manche sind nicht gläubig, gehen nicht in die Moschee, aber sie würden niemals gegen den Islam agieren, hinter dem sich der Islamismus versteckt.
WELT: Ist das nicht eine gefährliche Verwechslung von Islam und politischen Islamismus?
Sansal: Der Islamismus ist die politisch-militärische Spielart des Islam. Doch in Demokratien ist es immer mühselig, einen Konsens aufzubauen. In Frankreich ist ein Großteil der Linken davon überzeugt, dass der Islamismus ein wirtschaftlich-soziales Problem ist, das verschwindet, sobald der Reichtum gerechter verteilt und die Einwanderer besser integriert sind. Die Konservativen betrachten den Islamismus allein unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit. Sie bilden sich ein, dass es reicht, die Autorität des Staates wiederherzustellen und härter durchzugreifen, um das Problem zu lösen.
Rechts wie links bildet man sich ein, dass der Islam und der Islamismus nichts miteinander zu tun haben und es genügt, dem Islam mehr Platz zu schaffen, um dem Islamismus zu verdrängen. Als würde die Unterstützung des Katholizismus den Protestantismus oder die evangelischen Freikirchen verdrängen.
WELT: Sie klingen wie umstrittene rechtspopulistische Intellektuelle, die den „großen Bevölkerungsaustausch“ befürchten….
Sansal: Der Ausdruck ist unglücklich. Es geht ja nicht darum, die Bevölkerung zu ersetzen, sondern um eine Art kultureller Fusion: Frankreich ist dabei, sich zu islamisieren.
WELT: Wie erklären Sie sich die hartnäckige Verleugnung des Problems?
Sansal: Die Regierenden mögen keine Whistleblower. In ihren Augen säen sie nur Unsicherheit und Unordnung. Ich weiß davon ein Lied zu singen. Ich gehöre zu denjenigen, die seit mehr als 20 Jahren vor dem Islamismus warnen.
WELT: Die Enthauptung von Samuel Paty wirkt wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie können die westlichen Demokratien von diesem Moment der Bewusstwerdung profitieren?
Sansal: Glauben Sie das wirklich? In zwei Wochen ist Samuel Paty vergessen, die neuen Schreckensnachrichten verdrängen die alten und das Leben geht weiter. Und wo steht der Islamismus, dass wir ihn zurückdrängen könnten? Man kann Islamisten verhaften und ausweisen, aber wie will man den Islamismus „ausweisen“? Und wo ist die Grenze zwischen Islam und Islamismus, zwischen konservativem und einem engagierten Muslim, der für seine Religion wirbt und sie verteidigt, zwischen einem pietistischen Muslim und einem, der den Dschihad vorbereitet?
Die westlichen Gesellschaften haben keine Ahnung vom muslimischen Universum in seinen unterschiedlichen Schattierungen, und deshalb können sie den Islamismus nicht effizient bekämpfen, ohne einen Fauxpas zu begehen und die Situation noch schlimmer zu machen.
WELT:Wie Emmanuel Macron?
Sansal:Bei ihm sieht man das deutlich: Jedes Mal, wenn er über den Islam und den Islamismus redet, oft mit guter Absicht, löst er Stürme der Empörung und Hass aus. Er macht sich nicht klar, dass er Öl ins Feuer gießt.
WELT: Für deutlich über die Hälfte der jungen französischen Muslime steht die Scharia über den Gesetzen der Republik. Was macht man mit einem minderjährigen Schüler, der so denkt?
Sansal: Man hätte etwas unternehmen können, bevor es so weit kam. Wenn es einmal passiert ist, kann man ihn nur überwachen, damit sein neuer Glaube nicht in die Radikalisierung und den Terrorismus führt. Aber wer die Frösche verjagen will, muss den Teich austrocknen: Vor 20 Jahren gab es etwa zehn Moscheen in Frankreich, heute sind es tausende. Um jede Moschee kreisen zahllose Vereine. Rechnen Sie selbst nach, addieren Sie dazu die zahllosen Verbindungen im Internet, dann erhalten Sie ein Bild dessen, was wir jahrelang nicht sehen wollten und haben durchgehen lassen.
WELT: Welche Lehren können wir ziehen aus dem „schwarzen Jahrzehnt“ in Algerien?
Sansal: Wir hatten in Algerien in den 1990er-Jahren täglich Hunderte Tote und an manchen Tagen mehr als Tausend. Aber unsere Erfahrung lässt sich nicht auf Frankreich übertragen. Algerien ist ein Polizeistaat, eine Diktatur, unsere Geheimdienste agieren ungehindert: Lauschangriffe, Verhaftungen ohne Haftbefehl, Folterung, eigene Terroreinheiten, die in den Untergrund gehen. Frankreich ist eine Demokratie, die von ihren eigenen und den europäischen Institutionen überwacht wird. Der juristische Rahmen ist sehr eng, während die Terroristen freie Hand haben und niemanden Rechenschaft ablegen müssen.
WELT: Sind wir zu naiv oder müssen wir diesen Gesetzesrahmen erweitern, unsere Verfassungen ändern?
Sansal: Das ist eine ganz heikle Frage. Während des Algerienkrieges standen die Franzosen vor dieser qualvollen Wahl: den Terrorismus mit den Mitteln des Rechtsstaates bekämpfen oder ihm mit noch brutalerem Terror entgegentreten? Am 16. März 1956 haben sie die rote Linie übertreten und der Armee „Sonderrechte“ eingeräumt. Neun Monate später war der Terrorismus ausradiert, der Untergrund und die Städte „gesäubert“, Algerien „befriedet“. Wenn nur der geringste Verdacht bestand, dass es eine Verbindung zum FLN gab, haben Franzosen gefoltert und ihm großen Maßstab exekutiert.
Diese Schande belastet das Gewissen der Franzosen bis heute. Das müssen wir uns verbieten. Frankreich muss eine andere Vorgehensweise finden, die auf nationaler und europäischer Ebene akzeptiert wird.
WELT: Sie benutzen häufig Begriffe wie „totaler Krieg“, „Endsieg“, die an das Dritte Reich erinnern. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten der nationalsozialistischen und der islamistischen Ideologie?
Sansal: Sie haben einen gemeinsamen Boden, weil sie die Existenz eines auserwählten Volks behaupten, das von einem erfundenen Feind, den Juden für die Nazis, den Juden und Christen für den Islam, bedroht wird. Sie benennen eine Art auserwählten Messias, den Führer für die Nazis, den Kalifen für die Islamisten, sie haben extrem radikalisierte Milizen wie die SA, die SS und die dschihadistischen Brigaden.
WELT: Emmanuel Macron beschwört einen „Islam der Aufklärung“ herauf – einen, der sich mit den Werten unserer Demokratien vereinbaren lässt. Ist das realistisch?
Sansal: Träumen ist nicht verboten. Aber der Islam ist nicht reformierbar, er hat seine innere Logik, die im Koran festgeschrieben ist. Macron steht die Definition des Islam der Aufklärung nicht zu, weil nicht einmal die weisen Muslime wissen, was das heißt. Auch sie können sich nicht erlauben, ihn zu definieren, denn das hieße, den traditionellen Islam als rückschrittlich zu bezeichnen.
Es ist schon witzig, wie westliche Vertreter, die keine Ahnung vom Islam haben, den Muslimen sagen: „Erfindet eine muslimische Aufklärung wie die unsere, eine hübsche Kopie, und ihr werdet einen zivilisierten Islam haben, der euch Zugang zur modernen, westlichen Welt gibt.“ Auf mich wirkt das, als wisse Macron nicht, dass die Aufklärung nicht von gläubigen Christen erfunden wurde, sondern von Gegnern der Kirche, von Atheisten, von Weltlichen, die den Fanatismus und den Aberglauben des Christentums denunzierten.
WELT: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan behauptet, die Muslime würden hierzulande wie die Juden vor dem Zweiten Weltkrieg diskriminiert. Was löst dieser Vergleich bei Ihnen aus?
Sansal: Er hat mich zutiefst schockiert. Das zu behaupten, ist ein echter Skandal. In Frankreich liegt die überwiegende Mehrheit der Muslime nicht im Streit mit dem Staat. Sie leben wie alle Franzosen mit denselben Bequemlichkeiten, denselben Schwierigkeiten. Sie sind keine neu angekommenen Einwanderer wie diejenigen, die nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich gekommen sind und arme Arbeiter waren, die alles mit sich machen ließen und am Rande der Gesellschaft in Slums lebten.
Die Muslime Frankreichs, die die Staatsbürgerschaft haben und in dort geboren wurden, sind Angestellte, Universitätsprofessoren, Unternehmer, Beamte, Künstler, Manager oder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter. Die Islamisten hingegen leben in einer geschlossenen Parallelgesellschaft. Sie kritisieren, fordern, beschuldigen, vor allem inszenieren sie sich als Opfer.
______________________