Kategorie: Frankreich
1870/71 – Der deutsch-französische Krieg
Der Sommer schien entspannt.
… Wie jeden Sommer kurte Preussens König Wilhelm I. auch 1870 im mondänen Badeort Ems an der Lahn. Vincent Graf Benedetti, Frankreichs Botschafter in Preussen, trat am Vormittag des 13. Juli auf der Kurpromenade an den König heran, sprach mit ihm und ging wieder seines Weges. Wohl niemand hätte geahnt, dass diese harmlos wirkende Szene zwei Tage später zum Anlass für einen sechsmonatigen Krieg werden würde, der das Antlitz Europas dauerhaft verändern sollte. Denn die Sommeridylle trog.
Von der Öffentlichkeit unbemerkt, hatte sich seit Februar 1870 eine diplomatische Krise aufgebaut, die aus heutiger Sicht operettenhaft wirkt. Prinz Leopold von Hohenzollern, Spross einer katholischen Nebenlinie der Preussen regierenden Hohenzollern-Dynastie, sollte den vakanten spanischen Königsthron übernehmen. Seine diskret eingefädelte Thronkandidatur war Anfang Juli an die Öffentlichkeit gedrungen und löste eine Welle chauvinistischer Erregung in Frankreich aus. Wie im 16. und im 17. Jahrhundert durch Habsburg drohe Frankreich nun durch die in Spanien und am Rhein regierenden Hohenzollern eine tödliche Umklammerung. Das war unter den Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts zwar völliger Unsinn, doch viele wollten ihn glauben. Wie war es dazu gekommen?
Als zwei unter Volldampf aufeinander zurasende Züge nahm der Publizist Lucien-Anatole Prévost-Paradol Deutschland und Frankreich schon 1868 wahr. Ihr Zusammenstoss lasse sich nach «diversen Ausweichversuchen» nicht mehr verhindern, so dass «Ströme von Blut und Tränen» fliessen würden. Dabei war Napoleon III., Kaiser der Franzosen und Neffe des grossen Korsen, keineswegs antipreussisch eingestellt. Otto von Bismarck, damals noch preussischer Gesandter in Paris, erhielt Ende Juni 1862 «die unzüchtigsten Bündnisvorschläge» von Napoleon, denn dieser war «ein eifriger Verfechter deutscher Einheitspläne, nur kein Österreich darin».
Tatsächlich tat Frankreich alles, um Habsburg zu schwächen. 1859 hatte es Italien geholfen, die habsburgische Herrschaft in der Lombardei zu beenden, und 1866 Preussens Triumph über Österreich zugelassen. «Wir sind in Sadowa geschlagen worden», so zürnte darob Frankreichs Kriegsminister Jacques-Louis Randon; die Forderung nach der «Revanche pour Sadowa» wurde als Ziel französischer Politik zum geflügelten Wort. Zu der sich nun formierenden «Kriegspartei» gehörte der Kaiser selbst zwar nicht, aber auch er fühlte sich von Bismarck betrogen, denn er erhielt keine Kompensationen für sein Stillhalten 1866. Der Erwerb des Grossherzogtums Luxemburg, das der König der Niederlande an Frankreich verkaufen wollte, scheiterte im Frühjahr 1867 kläglich. Die antipreussische Stimmung wuchs.
[…]
___________________________
Bundeskanzler Kurz & die 500 EU-Milliarden
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz …
Mehr… hat sich kritisch zu dem von Deutschland und Frankreich vorgeschlagenen Wiederaufbauplan für die europäische Wirtschaft geäußert. Österreich halte an seiner Position fest, dass von der EU rückzahlbare Kredite und keine Zuschüsse an Krisenstaaten vergeben werden sollten, sagte Kurz am Montag in Wien.
„Wir werden uns weiterhin solidarisch zeigen und Länder, die am stärksten von der Corona-Krise betroffen sind, unterstützen, jedoch muss dies über Kredite erfolgen und nicht über Zuschüsse“, hieß es auf Anfrage der Nachrichtenagentur APA aus dem Bundeskanzleramt.
Dazu habe er sich auch mit den Regierungschefs Dänemarks, der Niederlande und Schwedens ausgetauscht, schrieb der konservative Politiker auf Twitter. „Unsere Position bleibt unverändert“, so Kurz weiter.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron hatten am Montag ein Programm zur wirtschaftlichen Erholung der EU im Umfang von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen. Dies könnte vor allem von der Pandemie stark betroffenen Staaten wie Italien und Spanien Luft verschaffen. Der Plan muss allerdings von allen 27 EU-Staaten einstimmig beschlossen werden. Die Milliardensumme soll demnach im Namen der EU am Kapitalmarkt aufgenommen werden und im Rahmen des mehrjährigen EU-Finanzrahmens als Hilfen an Krisenstaaten gehen.
EZB-Chefin Lagarde lobt den Plan
[…]
____________________________
Recht hat der Sebastian Kurz. Niemand hat in diesen Zeiten etwas zu verschenken.
____________________________
Islamisierung – Frankreich ist schon etwas weiter:
- In einem Land, das früher für die Meinungsfreiheit stand, ist Selbstzensur auf dem Vormarsch.
- „In den letzten fünf Jahren bin ich jeden Monat oder so zur Polizei gegangen, um Morddrohungen, nicht Beleidigungen, Morddrohungen, anzuzeigen.“ — Marika Bret, heute Journalistin bei Charlie Hebdo, 8. Januar 2020.
- „Niemand traut sich mehr, Karikaturen von Mohammed zu veröffentlichen. Die Selbstzensur setzt sich durch… Der Hass richtet sich eher gegen die, die sich gegen die Verschleierung von Informationen wehren, als gegen die, die sie verschleiern. Ganz zu schweigen von der Psychiatrisierung des Terrorismus, um den Islam besser zu entlasten. Hätte man uns in den frühen 2000er Jahren gesagt, dass im Jahr 2020 etwa 20 französische Karikaturisten und Intellektuelle unter Polizeischutz stehen würden, hätte uns das niemand geglaubt.“ — Pascal Bruckner, Autor.
- „Fünf Jahre nach den Morden im Charlie Hebdo und im Hyper Cacher hat Frankreich gelernt, mit der islamistischen Bedrohung zu leben“, schrieb Yves Thréard, stellvertretender Redakteur der Tageszeitung Le Figaro.
„Kein Monat vergeht… ohne dass ein mörderischer Angriff mit dem Schrei ‚Allahu Akbar‘ auf unserem Boden stattfindet… Aber was bringt es, die Auswirkungen des Islamismus zu bekämpfen, wenn wir nicht die Ursprünge dieser Todesideologie bekämpfen? An dieser Front jedoch konkurriert die Verleugnung weiterhin mit der Naivität. In den letzten fünf Jahren hat sich nichts geändert. Ganz im Gegenteil.
„Im Namen der Vielfalt, der Nicht-Diskriminierung und der Menschenrechte hat Frankreich einige Schläge gegen seine Kultur und Geschichte eingesteckt… Die Islamisten sind ein heißes Eisen. Sie setzen den Kampf fort, der auch ohne Waffen den Reiz eines Krieges der Zivilisationen hat. Ist der berühmte ‚Charlie-Geist‘, von dem einige Leute dachten, er weht nach den Anschlägen vom Januar 2015, nur eine Illusion?“
[…]
__________________
Lesen Sie auch den Bericht des Deutschlandfunk: Hier klicken
__________________
Macron – Der Mann hat Eier!
Der französische Präsident Emmanuel Macron …
Mehr… hält trotz der wochenlangen Streiks an der geplanten Rentenreform fest. In seiner traditionellen Neujahrsansprache im französischen Fernsehen sagte er, er hoffe auf einen schnellen Kompromiss mit den Gewerkschaften ohne von den Grundzügen der Reform abzuweichen. „Die Überarbeitung des Rentensystems wird zu Ende gebracht, weil es ein Projekt für soziale Gerechtigkeit und für den Fortschritt ist“, sagte Macron.
Die Gewerkschaften hatten gehofft, dass Macron in seiner Fernsehansprache Abstriche von der Reform ankündigt. Er könne nachvollziehen, dass „die getroffenen Entscheidungen verletzen und Befürchtungen und Widerstand wecken können“, sagte der Staatschef. Dies sei jedoch kein Grund, auf Änderungen zu verzichten. Ein Festhalten an den bisherigen Regelungen bedeute „Verrat an unseren Kindern und deren Kindern, die dann den Preis für unseren Verzicht zahlen müssen“, betonte Macron.
[…]
_________________________
Die Rentenreform wird Herrn Macron wahrscheinlich den politischen Kopf kosten. Aber er sit ja noch jung. Und er wird, wenn er standhaft! bleibt, in die Geschichte eingehen. Positiv.
_________________________
Deutschland heute: Freibad macht Spaß
100 Jahre Unterzeichnung Versailler Vertrag #2
Als am 28. Juni 1919 der Versailler Vertrag …
Mehr… unterzeichnet wurde, war Carl Melchior nicht mehr am Ort des Geschehens. Der letzte französische Abreisestempel auf dem für die Fahrten nach Versailles ausgestellten Ministerialpass Melchiors, des Finanzsachverständigen der deutschen Friedensdelegation, datiert vom 16. Juni. An diesem Tag hatten die Alliierten den sechs deutschen Delegierten eine harsche, weitestgehend abschlägige Antwort auf deren Eingaben zum Vertragsentwurf übergeben. Sie enthielt eine ultimative Aufforderung, den Vertrag anzunehmen, sonst werde Deutschland besetzt.
Noch am selben Abend reiste fast die gesamte, mit Kommissionen und Stab etwa 180 Mitglieder zählende deutsche Delegation ab. «Mit Flaschen, Steinen und allem möglichen Unrat beworfen», wie Melchiors Sekretär Albert Rose festhielt, setzte sich der Tross in Bewegung. Melchior traf ein Stein im Nacken.
Carl Melchior war der einzige der sechs Delegierten, der kein politisches Amt innehatte. Er war und blieb bis zum Lebensende Bankier, Teilhaber der 1798 gegründeten Privatbank M. M. Warburg & Co. in Hamburg. Das Institut hat das «Dritte Reich» und die «Arisierung» dank umsichtigen Treuhändern überlebt und besteht wieder unter seinem alten Namen; es ist heute die grösste inhabergeführte Privatbank Deutschlands.
Der umfassend gebildete, weltläufige Jurist – Melchior entstammte einer jüdischen Kaufmanns- und Bankiersfamilie, sein Vater war Mitglied der Hamburger Bürgerschaft – hatte zunächst als Grundbuchrichter gearbeitet und war dann als Syndikus zu Warburg gekommen, wo man ihn 1917 zum Teilhaber machte. Politisch hatte er sich zwar 1918 an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) beteiligt und war vorübergehend im Vorstand dieser mit ihrem wirtschaftsfreundlichen Programm bald als «Judenpartei» diffamierten liberalen Partei. Doch Melchior strebte nicht in die Politik. Auch später, als man ihm antrug, Finanzminister zu werden, lehnte er ab.
Auf Abruf bereit
Sich der Regierung mit Rat und Tat zur Verfügung zu stellen, war für Melchior ebenso eine staatsbürgerliche Selbstverständlichkeit wie für den Bankier Max Warburg. Es lag stets aber auch im Interesse des Unternehmens. Zwischen den körperlich zarten, beherrschten Melchior und den umtriebigen, temperamentvollen Warburg, der als Fachmann ebenfalls in Versailles zugegen war, passte kein Blatt. Sie siezten einander und waren doch beinahe wie Brüder. Was der eine unternahm, besprach er mit dem anderen; man hielt sich mit einem Firmentagebuch à jour.
Melchiors Tätigkeit führte zu einem diplomatischen Einsatz, der im Krieg begann und erst 1933 unfreiwillig endete. Er entwickelte sich zum auf Abruf bereitstehenden Staatsdiener, wie er im Buche steht, kompetent, «pflichttreu und schlicht», wie der Jurist Hans Schäffer über ihn schrieb, aber «ohne jeden Formalismus, jede Härte und jeden Aufstiegswunsch».
Melchior war nicht nur kein Politiker, er war auch kein radikaler Querdenker. Der Strudel dessen, was für heutige Betrachter Geschichte ist, riss ihn mit wie die anderen Beteiligten auch, und zugleich produzierte und formte er die Zeitläufte durch sein Tun. Mit seinem Sachverstand, seinen Verbindungen, seinem Verhandlungsgeschick, seinem «Pokergesicht» und seinem «geheimrätlichen Stil», wie Warburg sagte, vertrat er das, was man für deutsche Interessen hielt. In seinem Streben, seinen Erfolgen und letztlich seinem Scheitern, ja in seinem Schicksal spiegelt sich das deutsche Drama der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kontakt zu John Maynard Keynes
Im Kriegseinsatz verwundet, war Melchior noch 1917 dazu abgestellt worden, die Zentrale Einkaufsgesellschaft Deutschlands neu zu organisieren sowie mit Rumänien und der Ukraine Kornlieferungen auszuhandeln, um die Lebensmittelknappheit abzuwenden, die nach der britischen Seeblockade drohte. Bis er sich wegen antisemitischer Anfeindungen zurückzog, tat er dies so erfolgreich, dass seine Dienste im Folgenden immer wieder neu angefragt wurden. Keine Regierung konnte auf ihn verzichten. Die Sorge um die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu tragbaren Konditionen beschäftigte ihn auch als Vorsitzenden der Finanz-, der Ernährungs- und der Schifffahrtskommission der deutschen Waffenstillstandsdelegation.
Jede Verhandlung, jedes Abkommen bedingte für Melchior diplomatische Folgeeinsätze. Das Waffenstillstandsabkommen war befristet, es musste mehrfach nachverhandelt und erneuert werden. Zudem liefen diffizile Ausführungsverhandlungen, während die mit ihren tiefen Interessengegensätzen ringenden Siegermächte schon die Grundzüge eines Friedensvertrags entwarfen.
In diesem Kontext traf Melchior unter anderem auf John Maynard Keynes, der als Vertreter des Schatzkanzlers im Obersten Wirtschaftsrat sass, dem Gremium, das die Wirtschaftspolitik der Alliierten in Europa bis zum Abschluss der Friedensverträge koordinierte, sowie als britischer Unterhändler in Versailles anwesend war. In einer seiner besten literarischen Fingerübungen hat der Ökonom seinem Gegenüber, dessen Sorgen er teilte und mit dem er jahrelang geheimdiplomatisch eng zusammenarbeitete, ein Denkmal gesetzt: «Nur er wahrte die Würde der Niederlage.»
Die ökonomische Ratio stand für die Alliierten nicht im Vordergrund, sondern vor allem die Verhinderung künftiger deutscher Macht.
Was die beiden Fachleute spontan verband, war ihre Frustration über die Amerikaner. Keynes suchte diesen Späteinsteigern in den Krieg einen Schuldenerlass und finanzielle Unterstützung abzuringen; Melchior empfand wie viele andere die Zusagen von Präsident Woodrow Wilson gegenüber Deutschland als Irreführung.
Die schweizerische Regierung – durch diplomatische Kontakte hatte sie nach Ausrufung der Republik die neue Reichsregierung von Beginn ihres Bestehens an unterstützt – hatte zwar Ende November eine Mitteilung des amerikanischen Aussenministers Robert Lansing vermittelt, nach der Wilson bereit sei, «die Versorgung Deutschlands mit Nahrungsmitteln in günstigem Sinn zu erwägen und diese Frage mit den verbündeten Regierungen sofort aufzunehmen». Doch davon konnten sich die Deutschen nichts kaufen, denn Wilson hatte die Rechnung ohne die anderen Alliierten gemacht, die dafür einen Preis setzen wollten. Erst im März 1919 war es so weit, Melchior konnte aus Brüssel kabeln: «abkommen (sic) gezeichnet». Im April kam es zu ersten Lieferungen.
Bei Melchiors Abreise am 16. Juni aus Versailles weilte auch Keynes nicht mehr in Frankreich. Den Vertragstext, der den Deutschen am 7. Mai übergeben worden war, hatte der Ökonom als «höllisch» gegeisselt, am 6. Juni hatte er alle Ämter niederlegt. Er fürchtete, eine Belastung Deutschlands über dessen Leistungsfähigkeit hinaus werde Europa ins Verderben treiben. Seine Kritik schrieb er im Buch «The Economic Consequences of the Peace» nieder, später auch in «A Revision of the Treaty». Doch die ökonomische Ratio stand für die Alliierten gar nicht im Vordergrund, sondern vor allem die Verhinderung künftiger deutscher Macht.
Die Sprengkraft von Artikel 231
An den Vorgängen in Versailles war für die deutsche Delegation besonders demütigend, dass sie gar nicht erst in mündliche Verhandlungen eintreten durfte – weshalb sich daheim rasch der Begriff des «Diktatfriedens» verbreitete. Man fühlte sich auch hier von Wilson getäuscht. In dessen «14 Punkten» war Anfang 1918 von einem «Frieden ohne Sieg» die Rede gewesen, von einer liberalen Neuordnung Europas in Selbstbestimmung und Einvernehmen. Die Deutschen hatten deshalb auf ein Kriegsende ohne schwere Sanktionen gesetzt.
Nach dem Vertrag galt es nun aber nicht nur Reparationen zu zahlen, sondern Deutschland verlor zudem 13 Prozent seines Gebiets und 10 Prozent der Bevölkerung; knapp 15 Prozent des Ackerlandes fielen weg; die abbaubaren Rohstofflager an Eisenerz, Zink und Steinkohle wurden dezimiert. Fast die ganze Handelsflotte und ein Viertel der Fischfangflotte wurden kassiert. Der deutsche Staat wurde weitgehend entmilitarisiert, das Rheinland in drei Zonen aufgeteilt und besetzt. Die Kolonien wurden unter den Siegermächten aufgeteilt. All dies musste die Wirtschaftskraft Deutschlands stärker beeinträchtigen als die Reparationszahlungen selbst, fürchtete Melchior.
Die grösste Sprengkraft des Versailler Vertragswerks aber entfaltete Artikel 231: «Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.» Das war das Gegenteil der üblichen «Vergessensklausel», die eine Dämpfung der Emotionen und einen Neubeginn ermöglichen sollte. Keine Spur also von einem «Frieden ohne Sieg».
Die unerhörte Grausamkeit des «Grossen Krieges» hatte den Siegernationen tiefe Ressentiments eingepflanzt, die in einer giftigen Kommunikation zum Ausdruck kamen.
Die Alliierten hatten den Passus auf Anraten des amerikanischen Anwalts und späteren Aussenministers John Foster Dulles als völkerrechtliche Basis für Reparationen eingefügt. Schliesslich sollte nicht mehr die Kungelei der Diplomaten dominieren, sondern neu das Recht, gesetzt unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit – so hatte es auch der einflussreiche liberale Publizist Walter Lippmann empfohlen, der Wilson beriet. Dass nebenbei ein massiver Vorwurf festgehalten wurde, kam den europäischen Alliierten entgegen, insbesondere dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau.
Die unerhörte Grausamkeit des «Grossen Krieges» hatte den Siegernationen tiefe Ressentiments eingepflanzt, die in einer giftigen Kommunikation zum Ausdruck kamen, mehr noch als im Vertragstext selbst. Dass gesichtswahrende Einigungen unmöglich geworden waren, verstärkte die Hilflosigkeit einer aristokratisch geprägten Diplomatenriege, die zudem auch noch im ungewohnten Licht einer demokratischen Öffentlichkeit agieren sollte. Die Deutschen verloren die Fassung und bissen sich an der Kriegsschuld fest, allen voran Aussenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau.
Gescheiterter Gegenentwurf
Wohl kaum einem Deutschen war es damals möglich, den Versailler Vertrag zu schätzen – und sei es nur dafür, dass er trotz aller Ranküne und allen Ungeschicktheiten auch den mutigen Versuch darstellte, in eine neue Zeit des internationalen Miteinanders aufzubrechen, vor allem mithilfe des durch ihn neu gegründeten Völkerbunds, der später auch Deutschland offenstehen sollte. Auch Melchior war entsetzt. Ihm stand vor Augen, wie gross schon in der kurzen Frist die finanziellen Belastungen sein würden, und er ahnte wohl, welche politische Dynamik die Kombination aus Kriegsschuldzuschreibung und Reparationsforderungen entfalten würde.
Zwar folgte im Vertrag auf den Kriegsschuldartikel unmittelbar die Einschränkung, eine volle Wiedergutmachung werde kaum möglich sein. Doch auch hier hatte Wilson ein Versprechen zurückgezogen: Es seien nur die zivilen Schäden zu ersetzen, hatte es ursprünglich geheissen. Inzwischen hatte sich Wilson, wie Melchior mutmasste, von Clemenceau und dem britischen Premierminister Lloyd George übertölpeln lassen.
In den letzten Wochen in Versailles hatte Melchior mit der Finanzkommission noch einen Gegenentwurf entwickelt, ein Konzept für einen «Frieden der ökonomischen Vernunft».
Wie hoch die Summe nun sein würde, blieb offen und wurde in die Hand eines Wiedergutmachungsausschusses gelegt, der weitreichende Rechte einer fiskalischen Aufsicht über Deutschland bekam. All dies gab angstvollen Spekulationen Auftrieb. «Damit hat unser öffentliches Leben nur noch den Schein, nicht mehr das Wesen wirklicher Souveränität», klagte Melchior. «Deutsches Eigentum ist vogelfrei.»
In den letzten Wochen in Versailles hatte Melchior mit der Finanzkommission der deutschen Delegation noch einen Gegenentwurf entwickelt, ein an der Leistungsfähigkeit Deutschlands anknüpfendes Konzept für einen «Frieden der ökonomischen Vernunft». Demnach sollte für die Reparationen ein fester Prozentsatz der Einnahmen des Deutschen Reiches zur Verfügung stehen. Die Gesamtsumme war auf immerhin 100 Milliarden Goldmark festgelegt. Dass auch diese Eingabe kategorisch abgewiesen wurde, lag wesentlich daran, dass die Deutschen dazu eine weitgehende territoriale Unversehrtheit ihres Landes wünschten. «Die Lebensluft und Ehre muss man Deutschland lassen», schrieb die Delegation. Doch wie auch Keynes urteilte, konnte ein solches Angebot von den Alliierten «kaum als ernsthaft angesehen werden».
Das Ringen geht weiter
Nach ihrer Abreise aus Versailles empfahl die deutsche Delegation Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann einstimmig und nachdrücklich, den Vertrag nicht zu unterzeichnen. Wie glaubwürdig die Invasionsdrohung der kriegsmüden Siegermächte war, war und ist strittig. Jedenfalls legte Scheidemann, der erst am 9. November 1918 die Republik ausgerufen hatte, am 20. Juni sein Amt nieder – nach einem Sitzungsmarathon der Nationalversammlung, die wegen der revolutionären Unruhen in Berlin nun in Weimar tagte. Brockdorff-Rantzau tat es ihm gleich.
Das Parlament stimmte dem Vertrag am 23. Juni zu. Scheidemanns Nachfolger wurde Gustav Bauer. Dieser entsandte zwei Minister, unter ihnen Hermann Müller, den neuen Aussenminister, zur Unterschrift nach Versailles. Die Ratifizierung folgte zügig.
Für Carl Melchior setzte sich danach die Arbeit umso intensiver fort, auch wenn daheim jeder Verhandlungserfolg als ungenügend bewertet wurde und ihm antisemitische Schmähungen eintrug. «Unser Schicksal – und damit das Schicksal des europäischen Kontinents – wird davon abhängen, ob wir den Wiedergutmachungsausschuss zur Einsicht bringen, dass die Grundlagen für die Begrenzung unserer Entschädigungspflicht nicht in den Zahlen und Mengen des Friedensvertrags, sondern in der Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, seiner Produktionsmöglichkeit und seiner Steuerkraft zu finden sind», sagte er vor der Gesellschaft Hamburger Juristen.
Das war nicht nur seine Agenda. Es war die dominierende, fatale Logik, nach der sich im Folgenden die Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten entwickelten: Es blieb ein Gegeneinander, das Ringen ging weiter. Partnerschaftlich wurde der Umgang nicht.
Gefährliches Spiel
Um zu verhindern, dass eine strikte Durchsetzung «ein Weltenunglück» verursachte, wie er fürchtete, kämpfte Carl Melchior fortan um eine Milderung der Folgen des Versailler Vertrags. Er war 1920 als Sachverständiger auf zwei Reparationskonferenzen im Einsatz und 1922 zudem auf der Konferenz von Genua, wo eine Neuordnung des Finanzsystems auf der Agenda stand.
In der Zwischenzeit hatte der Wiedergutmachungsausschuss die Gesamthöhe der deutschen Reparationszahlungen auf 132 Milliarden Goldmark beziffert, zahlbar binnen 57 Jahren, nachdem die Forderungen zuvor von 20 bis hin zu Phantasiebeträgen jenseits der 250 Milliarden Goldmark geschwankt hatten. Die deutsche Regierung hatte sich nun darauf verlegt, die Forderungen der Alliierten formal zu akzeptieren, um diesen dann aber vor Augen zu führen, dass sie nicht zu erfüllen waren – ein unwürdiges, gefährliches Spiel, das mitnichten zur Vertrauensbildung beitrug, sondern Deutschland 1923 auch noch die Ruhrbesetzung eintrug.
Der als «Erfüllungspolitik» diffamierte scheinbare Kotau kostete den Finanzminister Matthias Erzberger von der Zentrumspartei wie auch den liberalen Aussenminister Walther Rathenau das Leben. Beide wurden von antisemitischen Rechtsterroristen ermordet.
Allein weil die Zunahme der Zahl an Nullen die Schreibarbeit in der Buchhaltung vervielfachte, musste das Bankhaus M. M. Warburg & Co. immer mehr Angestellte beschäftigen.
Zu den Kollateralschäden der Politik in diesen Jahren gehörte eine dramatische Hyperinflation, verursacht durch die übermässige Ausweitung der Geldmenge in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Sie erfasste nicht die Reparationsleistungen, die in Goldmark, Devisen und Sachgütern zu erfolgen hatten. Dennoch erschien die Lage auch den Alliierten dramatisch. Die Mark hatte 1922 noch ein Tausendstel ihres Wertes von 1914. Allein weil die Zunahme der Zahl an Nullen die Schreibarbeit in der Buchhaltung vervielfachte, musste das Bankhaus M. M. Warburg & Co. immer mehr Angestellte beschäftigen; die Zahl stieg von 174 im Jahr 1919 auf 505 im Jahr 1923.
Im November 1923 kam es zum Währungsschnitt und zur Einführung der Rentenmark. Der Wiedergutmachungsausschuss knüpfte daraufhin die Zahlungspflicht, wie von Melchior beabsichtigt und auch von Keynes gefordert, an die Leistungsfähigkeit. Dieser sogenannte Dawes-Plan von 1924 ermöglichte einen frischen Kapitalzufluss nach Deutschland.
Wenig später, im Jahr 1926, fand Deutschland schliesslich Aufnahme in den Völkerbund, dem am Ende ausgerechnet die Amerikaner ferngeblieben waren. Melchior wurde deutscher Repräsentant im Finanzausschuss und 1930 sogar dessen Vorsitzender. In den Jahren 1929 und 1930 reiste er abermals nach Paris und nach Den Haag, um an den Verhandlungen zum Young-Plan teilzunehmen, der als letzter Reparationsvertrag den Dawes-Plan ablösen sollte.
Man einigte sich auf eine Jahreszahlung von rund 2 Milliarden Reichsmark und eine vorzeitige Freigabe des Rheinlands. Der damalige Reichskanzler Hermann Müller, der als Aussenminister noch seine Unterschrift unter den Versailler Vertrag hatte setzen müssen, dankte Melchior im Januar 1930 mit einem offenen Brief, in dem er inständig bat, bei Bedarf wieder auf ihn zählen zu dürfen. Zwei Monate später freilich war auch dieser Reichskanzler verschlissen.
Ernte in Lausanne
Im April 1930 wurde Melchior als stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrats an die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel berufen, deren Einrichtung Teil des Young-Plans war. Die Aufgabe dieses Instituts sollte es sein, die Reparationszahlungen zu bündeln und zu verteilen. Heute fungiert die BIZ als Bank der Zentralbanken und spielt zudem eine wichtige Rolle in der Bankenaufsicht.
Die Ernte seiner langjährigen diplomatischen Bemühungen konnte Melchior endlich im Sommer 1932 ebenfalls in der Schweiz einfahren, auf der Lausanner Konferenz im Château d’Ouchy, die er wie stets mit vorbereitet hatte: das Erlöschen der Reparationspflichten. Im Vertrag war noch eine Restzahlung vereinbart worden, doch dazu kam es nicht mehr, dank einem «Gentlemen’s Agreement», wie Melchior es nannte, weil die Alliierten über den noch ausstehenden Schuldenausgleich untereinander uneins waren. Damit jedenfalls hatte das im Versailler Vertrag angelegte fortgesetzte Ringen zwischen Deutschland und den Siegermächten vorläufig ein Ende. Insgesamt hat Deutschland am Ende nach eigener Rechnung knapp 70 Milliarden Goldmark an Reparationen bezahlt.
Privates Glück kommt spät
Jahrzehntelang ständig per Eisenbahn in Europa unterwegs, doppelt belastet im Dienst für Bank und Vaterland, mit schier endlosen Arbeitstagen, ist Melchior als Privatperson womöglich auch deshalb wenig bekannt, weil sein Privatleben mit seinem Berufsleben weitgehend in eins fiel. In Hamburg teilte er mit seiner Schwester Clara eine Villa am Rothenbaum; heute ist dort das Institut Français untergebracht. Er besass eine stattliche Gemäldesammlung der klassischen Moderne, und von Auslandsreisen brachte er antike Kunstgegenstände mit.
Von 1930 an dürfte Marie de Molènes ein regelmässiger Gast gewesen sein. Während der Pariser Konferenz zum Young-Plan hatte der Junggeselle die 28 Jahre jüngere, in zweiter Ehe verwitwete Schwester eines Anwalts und sozialistischen Politikers kennengelernt. Einer Adelsfamilie aus der Dordogne entstammend, klassisch gebildet und polyglott, schrieb sie an einem Entwicklungsroman, «Fortunade à Berlin», von dem sie wünschte, er möge die deutsch-französische Verständigung voranbringen, «von der unsere Zukunft und der europäische Frieden abhängen».
Melchiors Lebenswerk, die Erleichterung der ökonomischen Bedingungen des Friedensvertrages, hatte gegen die Wucht der destruktiven Kräfte nicht ausgereicht.
Das Jahr von Carl Melchiors grösstem Erfolg, 1932, markierte zugleich das Ende seiner Karriere und den Vorabend des dunkelsten Kapitels in der Geschichte Deutschlands. Sein Lebenswerk, die Erleichterung der ökonomischen Bedingungen des Friedensvertrages, hatte gegen die Wucht der in Deutschland wirksamen destruktiven Kräfte nicht ausgereicht. Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, im Februar brannte der Reichstag, im März wurde die NSDAP stärkste Partei, im April wurden die ersten Judengesetze erlassen.
Melchior kam der Abberufung von seinem Direktoriumsposten bei der BIZ per Rücktritt zuvor. Auch für Warburg und die Bank wurde die Luft immer dünner. Viele Geschäftskontakte froren ein. Notgedrungen widmeten sich die Teilhaber fortan vor allem jüdischen Belangen. Melchior baute den Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau unter der Leitung des Berliner Oberrabbiners Leo Baeck mit auf. Der Ausschuss widmete sich der Wohlfahrtspflege und half Menschen, denen die Judengesetze den Lebensunterhalt raubten.
Die Sommermonate musste Melchior im Sanatorium verbringen. Im September heiratete er in Paris seine Gefährtin; die beiden erwarteten ein Kind. Charles Melchior de Molènes, «le petit Carl», wie ihn die Mutter zärtlich nannte, kam am 9. März 1934 auf die Welt. Der Vater war da schon neun Wochen tot. Carl Melchior, krank, erschöpft und bei allem privaten Glück auch in grosser Sorge um die Zukunft, war am 30. Dezember in Hamburg gestorben. Das ganze Ausmass des Zivilisationsbruchs zu erleben, der nun folgte, blieb ihm erspart.
Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Universität Erfurt. Sie lebt in Zürich.
________________________
100 Jahre Unterzeichnung Versailler Vertrag #1
In der Aula der Berliner Universität …
Mehr… hatte ihr erster Rektor, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, seine berühmt-berüchtigten «Reden an die deutsche Nation» gehalten. Im Dezember 1807, also noch während der französischen Besatzungszeit. Es war also historisch begründet, dass die sonst in Weimar tagende Nationalversammlung zur Aussprache über Annahme oder Ablehnung des verhassten Versailler Friedensvertrages am 12. Mai 1919 an diesem Ort zusammentrat.
Nun appellierte der sozialdemokratische Regierungschef Philipp
Scheidemann an die Nation, mit ihm und seiner Regierung den Alleinschuldvorwurf der Alliierten als «unannehmbar» abzulehnen. Er zählte längst zu den populärsten Politikern seiner Zeit, hatte wenige Monate zuvor von einem Reichstagsbalkon die erste deutsche Republik ausgerufen und besass ein Gespür für den dramatischen Augenblick – und für wirkungsmächtige, potenziell geflügelte Worte: «Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?», rief er seinen Abgeordnetenkollegen28 zu, und die Versammlung dankte ihm dafür, parteiübergreifend – stehend, mit minutenlangem Beifall. Eine national-parlamentarische Einigung im Erregungszustand, gut und schön. Aber was sollte danach kommen? Die Frage war von existenzieller Bedeutung. Denn Deutschland drohten im Fall einer Nichtunterzeichnung schlimmere Sanktionen als Schuldparagraphen und Reparationen – Besetzung, Abspaltung, der Zerfall des föderativen Staatsgebildes.
Einmal mehr musste der Reichspräsident eingreifen. Friedrich Ebert war zum Äussersten entschlossen und drohte mit seinem Rücktritt. Es gelang ihm, aus engen Vertrauten ein «Unterzeichnungskabinett» zu bilden. Als aber bekanntwurde, dass im Falle einer Annahme der Schuld- und Auslieferungsparagraphen die Reichswehr putschen würde, machte sich Panik breit. Besetzung und Teilung des Landes durch die Siegermächte von aussen und Bürgerkrieg im Innern, Finis Germania?
Friedenstelegramm und Protestnote
Wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums der Entente bat Friedrich Ebert die Parteiführer um eine gemeinsame Erklärung an die Truppe, «in schwerster Zeit ein Beispiel der Selbstverleugnung und der Aufopferung zu geben und Hand in Hand mit den anderen Volksgenossen an der Wiederaufrichtung unseres Vaterlandes» zu arbeiten. Zur gleichen Zeit erschien ein Aufruf der Regierung: «An das deutsche Volk! Die Reichsregierung hat mit der Zustimmung der Nationalversammlung erklärt, den Friedensvertrag zu unterschreiben. Schwersten Herzens, unter dem Druck der rücksichtslosesten Gewalt, nur in dem einen Gedanken: unserem wehrlosen Volke neue Kriegsopfer und Hungerqualen zu ersparen.»
Davon ganz unbeeindruckt, setzte bei Mannheim schon am frühen Abend des 23. Juni ein Bataillon über den Rhein. Die Franzosen hatten es eilig, der Forderung der Sieger Geltung zu verschaffen. Nur mit Mühe konnten sie zurückgehalten werden. Friedenstelegramm und Protestnote waren Hermann Müllers erste Amtshandlungen. Am Vortag hatte ihm der Reichspräsident die Leitung des Auswärtigen Amtes übertragen. Müller war in der elitären Diplomatenbehörde der erste Sozialdemokrat, einer der ersten Nichtaristokraten und mit gerade 43 Jahren auch einer der Jüngsten. Ohne Erfahrungen war er nicht. Während des Krieges hatte er an zahlreichen Konferenzen der gespaltenen II. Internationale teilgenommen. Noch am Vorabend des Krieges entsandte ihn der Parteivorstand zu einer Erkundungsmission nach Paris. Mancher glaubte wohl, er könne den Kriegsausbruch aufhalten, die französischen Genossen womöglich für eine gemeinsame Ablehnung der Kriegskredite gewinnen. Vergeblich.
Was Müller am 1. August 1914 nicht mehr verhindern konnte, musste er jetzt von Amts wegen liquidieren. Am Abend des 26. Juni 1919 stieg er mit seinem Kabinettskollegen Johannes Bell (Z) und einer kleinen Delegation in den Nachtzug nach Köln. Dort erhielt die Reisegruppe Gesellschaft durch Offiziere der Entente. Zwischenfälle sollten vermieden werden. Vor allem aber sollten die beiden Minister die Zerstörungen in Belgien und in Nordostfrankreich mit eigenen Augen sehen. Der Zug fuhr langsam. Nach über dreissigstündiger Reisezeit erreichte er den kleinen Bahnhof Saint-Cyr-l’Ecole bei Versailles. Eilig wurden die Deutschen in gepanzerten Limousinen zum Hôtel des Réservoirs gefahren. Das Protokoll des welthistorischen Ereignisses lief im Minutentakt ab. Dann ging es zum Schloss. Sofort führte man sie hinauf zum Spiegelsaal, hastig vorbei an den herausgeputzten Damen der Pariser Gesellschaft, die sich, auf Stühlen stehend, mit ihren Lorgnetten ein genaues Bild von den Repräsentanten aus dem so verachteten wie gefürchteten Nachbarland machen wollten. Da rief auch schon die raue Kommandostimme Clemenceaus: «Faites entrer les Allemands», und sogleich führte der Chef des Protokolls Bell und Müller herein – wie Angeklagte vor Gericht. Abermals krächzte die Stimme des Ministerpräsidenten: «Messieurs, la séance est ouverte», und forderte die deutschen Bevollmächtigten auf, ihre Unterschriften unter den Vertrag zu setzen.
Der französische Premier sass unter jenem Deckenfries, das Ludwig XIV. zeigt und mit dem Schriftzug «Le roi gouverne par lui-même» versehen ist. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte an diesem Ort die mit viel Symbolik überhöhte Reichsgründung stattgefunden, war der preussische König zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen worden. Für diese Demütigung rächten die Franzosen sich jetzt. Die bereitliegenden Federhalter waren u. a. von Elsass-Lothringen gestiftet. Aber der deutsche Aussenminister wusste davon und unterschrieb mit dem eigenen. Anderntags argwöhnte die Presse Täuschung und befürchtete, dass der Vertrag ungültig sei, weil mit unsichtbarer Tinte unterzeichnet.
So schnell, wie man die Deutschen in den Spiegelsaal hineingeführt hatte, wurden sie auch wieder hinausgeführt – als wären sie verurteilte Kriegsverbrecher und hätten im Kreis der internationalen Staatengemeinschaft keinen Platz mehr. Die Weltöffentlichkeit wollte sie so sehen. Man bat Müller, die Nacht zu bleiben, um Komplikationen zu vermeiden; ganz Frankreich war auf den Beinen und feierte ausgelassen den Triumph. Aber er drängte zur sofortigen Rückreise. Müller musste zwar nicht, wie 1914, befürchten, interniert zu werden. Mit Komplikationen war allerdings durchaus zu rechnen.
Als Steine gegen den deutschen Sonderzug flogen und Fensterscheiben splitterten, wollten die Begleitoffiziere den Zug anhalten lassen. Doch der frankophone Aussenminister winkte freundlich ab. Er wolle aus solchem Übermut und Unfug keinen diplomatischen Zwischenfall machen. Im Rückblick resümierte er diesen ereignisreichen Tag: Der so umstrittene Versailler Vertrag war unterschrieben, um Schlimmeres zu vermeiden, «aber der Kampf um den wahren Frieden» werde erst beginnen.
Zwei deutsche Vorkämpfer
So war es nur konsequent, dass Hermann Müller in dem knappen Jahr seiner Amtsführung und natürlich später auch als Partei- und Fraktionsvorsitzender auf allen Feldern tätig wurde, mit denen es die deutsche Aussenpolitik damals zu tun hatte: den Schülerschen Reformen zur Überwindung der antiquierten Strukturen des Auswärtigen Amtes, der Demilitarisierung des Baltikums, der hochkontroversen Debatte um die Kriegsschuld- und Kriegsverbrecherfrage, dem Verhältnis zu Frankreich, England und den USA, der europäischen Nachkriegsordnung, Spa, Locarno, Rapallo, dem London-Abkommen, dem Dawes-Plan bis hin zur abschliessenden Reparationsregulierung mit der Verabschiedung der Young-Plan-Gesetze und der vorzeitigen Rheinlandräumung in seiner zweiten Kanzlerschaft von 1928 bis 1930.
Hermann Müller war nicht zuletzt als sozialdemokratischer Aussenminister auch der erste Sprecher, der vor der Nationalversammlung am 23. Juli 1919 die programmatischen Grundlagen der neuen, republikanischen Aussenpolitik Deutschlands vorstellte und begründete. Er nahm dabei Bezug auf die Friedensresolution der demokratischen Mehrheit des kaiserlichen Reichstages von 1917, distanzierte sich entschieden vom Militarismus und Chauvinismus des untergegangenen monarchischen Nationalstaates und plädierte umso entschiedener dafür, dass Deutschland auf «freiheitlichen Bahnen» vorangehen müsse, wenn es denn in die Staatengemeinschaft zurückkehren, auf dem Auslandsmarkt wieder deutsche Exportware absetzen und eines Tages auch wieder «moralische Eroberungen in der Welt» machen wolle. Zwar sei es durch den «härtesten Frieden der Weltgeschichte» gefesselt, aber es habe sich zur «loyalen Erfüllung des Friedensvertrages» verpflichtet; «selbst wenn wir bis zur Grenze unserer Fähigkeiten gehen müssen», fügte er beschwörend hinzu.
Müller sprach auch über die besonders leidgeprüften Belgier und Franzosen. Ausdrücklich bekannte er, dass sich Deutschland durch Verletzung der belgischen Neutralität vor der ganzen Welt ins Unrecht gesetzt habe. Und versprach Wiedergutmachung durch tätige Hilfe beim Wiederaufbau. Als frankophiler Sprecher der neuen deutschen Aussenpolitik verbeugte sich Müller auch vor den Franzosen. Kein Volk habe so viele Opfer zu beklagen und kein Land solche Verwüstungen. Auch hier sagte er vor allem für den Wiederaufbau im Nordosten Frankreichs Hilfe zu und appellierte an seine Landsleute, Verständnis aufzubringen für die deutschfeindliche Einstellung unter den Franzosen.
Schon in der nur neunmonatigen Übergangszeit seiner Amtsführung gelang es ihm, Anerkennung und Ansehen zu erwerben. Müller nahm die Politik Stresemanns um Jahre vorweg. Er hat sie zudem in den zwanziger Jahren immer wieder gegen den agitatorischen Widerspruch der rechtsnationalen Parteien parlamentarisch durchgesetzt, auch wenn sich die SPD nach dem Krisen- und Putschjahr von 1923 bis 1928 in die Opposition zurückzog.
Stresemanns Name steht völlig zu Recht für die aussenpolitischen Erfolge Weimars und die kurzzeitige Rückkehr Deutschlands in die europäische Staatengemeinschaft. Aber als Hermann Müller bereits eine europäische Friedens- und Versöhnungspolitik konzipierte, die auf Verständigung, Vertragserfüllung und Revision der Versailler Sanktionen beruhen sollte, dachte der später gefeierte Friedensnobelpreisträger noch in den alten Mustern des «Machtfriedens». Der Weg vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner und Locarnopolitiker war lang, Stresemann hat ihn in bemerkenswert kurzer Zeit zurückgelegt. Er konnte dabei allerdings auf die Unterstützung des aussenpolitisch stets koalitionsbereiten Sozialdemokraten Hermann Müller zählen.
In den deutschen Aussenministern Gustav Stresemann und Hermann Müller, die beide auch Reichskanzler waren, hatte die befriedete und freiheitliche Europäische Union zwei bemerkenswerte deutsche Vorkämpfer, das sollte hundert Jahre nach Versailles nicht vergessen werden.
Peter Reichel ist emeritierter Professor für historische Grundlagen der Politik an der Universität Hamburg. Jüngst erschien von ihm in der DTV-Verlagsanstalt das Buch «Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik».
_____________________________
Abzug des Westens aus Syrien und Afghanistan!?
Die Taliban seien die entscheidende politische Kraft …
Mehr… in Afghanistan, daher sei es folgerichtig, dass die USA vor ihrem
geplanten Truppenabzug mit ihnen verhandelten, sagte der Nahost-Experte Michael Lüders im Dlf. Ihre Verbündeten, darunter auch Deutschland, stelle dies allerdings vor große Probleme.
[…]
Die Amerikaner werden sich perspektivisch zurückziehen aus Afghanistan und Syrien.
Aber es werden dann Machtvakuen entstehen, die natürlich von anderen Akteuren gefüllt werden. Das bestehende Chaos wird sozusagen gefüllt durch andere Akteure, die dann auf anderer Ebene wiederum Unfrieden stiften. Das große Problem ist, dass die großen Kontrahenten in der Region nicht miteinander ernsthaft kommunizieren. Das betrifft insbesondere die USA und Russland, die natürlich die beiden entscheidenden externen Mächte sind, die auf diese Region Einfluss haben, und auch China.
_______________________
Das Interview im Dlf vom 11.2.2019:
_______________________
Guten Morgen, liebe Leser!
Am Samstag, dem 9. Februar um 11:00 Uhr …
Mehr… auf den Champs Elysées konnte man ein paar tausend Leute in gelben Westen im Chor rufen hören: „Macron, Demission“. Das heißt übersetzt: „Macron, Rücktritt“ und ist eher die höfliche Variante von „Macron muss weg!“. Man konnte auch Sprechchöre hören und auf Transparenten lesen: „Macron, dégager“, das ist die weniger höfliche Variante und meint: „Macron, hau ab.“ Es kommen Erinnerungen an die Wahlkampfbesuche von Kanzlerin Merkel im Osten Deutschlands auf.
Der Riss in der französischen Gesellschaft verläuft nicht vertikal zwischen „lechts und rinks“, sondern horizontal zwischen „denen da oben und denen da unten“. Zwischen denen da oben, die keinerlei finanzielle Sorgen hegen und zum Teil auf Kosten derer da unten leben, die nicht mehr wissen, wie sie mit Ihrem Einkommen auskommen sollen.
______________________
- Der Sonntagsfahrer: Hier klicken
- Die Achse-Morgenlage: Hier klicken
______________________
- Heute, 11:00 Uhr: Seenotrettung
- Heute, 14:00 Uhr: Ungelöste Rätsel
- Heute, 17:00 Uhr: Strom in Deutschland & Greenpeace-Modell
______________________
______________________
Schönen Sonntag
______________________