Grüne: Befriedung der Sinjar-Region hat Priorität
In der Debatte hatte zuvor Max Lucks (Bündnis 90/Die Grünen) an das Schicksal der Opfer erinnert: Mehr als 5.000 Menschen seien bei den Massakern des IS seien getötet worden, etwa 7.000 verschleppt, Hunderttausende vertrieben. „Der Islamische Staat hat alles versucht, um die Macht über eure Geschichten, euer Identitäten und eure Körper zu bekommen“, sagte Lucks an die auf der Besuchertribüne anwesende Delegation der jesidischen Gemeinschaft gewandt. Aber auch Deutschland stehe in der Schuld der Jesiden, betonte Lucks. „Wir müssen ehrlich einräumen, dass wir nicht gehandelt haben, als es darauf am meisten ankam.“
Die internationale Gemeinschaft sei lange untätig geblieben. Umso wichtiger sei die die Anerkennung des Völkermordes jetzt. Diese dürfe nicht nur als „Akt für die Geschichtsbücher“ verstanden werden, sondern vielmehr als ein Akt des Handelns. Deutschland nehme sich dem Schutz des jesidischen Lebens an. Mit dem Antrag erhebe der Bundestag die „Befriedung der Sinjar-Region zu einer Priorität deutscher Irak-Politik“, so der Grünen-Politiker.
CDU/CSU: Anerkennung des Genozids markiert „neues Kapitel“
Michael Brand (CDU/CSU) nannte die Anerkennung des Genozids eine „bedeutsame Entscheidung“, mit der Deutschland ein „neues Kapitel der Auseinandersetzung und Verarbeitung“ aufschlage. Der Bundestag verurteile nicht nur ein „barbarisches und gegen jede Zivilisation gerichtetes Wüten“, er gehe auch die Verpflichtung ein, den Opfern des Genozids hilfreich zur Seite zu stehen – und das „auf Dauer“.
Deutschland mit der größten Diaspora komme hier eine besondere Bedeutung zu, unterstrich Brand. Die Hilfen für die Jesiden sollten verstärkt, der Wiederaufbau ihrer Dörfer und Städte in der Sinjar-Region im Nordirak und die Rückkehr unterstützt werden, wiederholte er einige der Forderungen des überfraktionellen Antrags. Die Bundesregierung solle sich dafür bei der irakischen Regierung stark machen. Die etwa 300.000 Jesiden, die auch über acht Jahre nach ihrer Vertreibung in Camps lebten, bräuchten eine Rückkehrperspektive.
SPD: Opfern „Würde, Identität und Sicherheit“ zurückgeben
Dieses Ziel hob auch Derya Türk-Nachbauer (SPD) hervor. Sie zeigte sich zuversichtlich, dass die neue irakische Regierung beim Wiederaufbau und der Befriedung der Region weiter engagieren werde und sicherte die Unterstützung Deutschlands zu. Die unbeschreiblichen Gräueltaten des IS, der jesidisches Leben habe „systematisch“ auslöschen wollen, dürften nicht ungestraft bleiben, mahnte Türk-Nachbauer. „Nicht im Irak und nicht in Deutschland“.
Ein Völkermord verjähre nicht, Deutschland stehe an der Seite der Jesiden in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und werde helfen, das „kollektive Trauma zu verarbeiten, versprach sie. Mit der Anerkennung wolle der Bundestag “zumindest ein Stück weit historische Gerechtigkeit herstellen„. Vollständige Gerechtigkeit werde es nie geben, mit der Anerkennung aber versuche Deutschland, den Opfern “Würde, Identität und Sicherheit„ zurückzugeben. Insofern sei die Anerkennung des Völkermordes ein Meilenstein.
AfD: Schönen Worten müssen konkrete Taten folgen
Es sei höchste Zeit gewesen, dass der Bundestag den Völkermord an den Jesiden anerkenne, befand auch Martin Sichert (AfD). Seine Fraktion habe bereits vor Monaten einen Antrag dazu eingebracht, dieser sei aber im Plenum abgelehnt worden. Es sei gut, dass es nun den interfraktionellen Antrag gebe, sagte Sichert. Allerdings müssten den “schönen Worten auch konkrete Taten„ folgen: Täter sollten konsequent verfolgt werden – hier aber hätten alle Bundesregierungen seit 2014 versagt.
Hinweisen, dass unter “Asylbewerbern Kriegsverbrecher„ gewesen seien, habe man zu oft ignoriert. Sichert warf den übrigen Parteien vor, auf dem “Auge des radikalen Islam„ blind zu sein. “Wir müssen darüber reden, dass die Vorstellungen der Scharia nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, wenn wir Minderheiten wie die Jesiden schützen wollen„, meinte er.
FDP sieht besondere Verantwortung
Peter Heidt (FDP) betonte, dass Deutschland, um seiner “historische Verantwortung„ für die NS-Vergangenheit gerecht zu werden, eine Vorreiterrolle einnehmen müsse bei der “Kenntlichmachung und Aufarbeitung von Menschheitsverbrechen„. Unrecht und Grausamkeit dürften nicht stillschweigend hingenommen werden – doch diesen Anspruch habe Deutschland “sehr lange nicht erfüllt„.
Das systematische Morden, Foltern und Versklaven habe man nicht als das bezeichnet, was es sei – Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch mit der von einer “breiten Mehrheit getragene Resolution„ zur Anerkennung des Genozid, breche der Bundestag das Schweigen, sagte Heidt. Als zentrale Forderung an die Bundesregierung nannte der Liberale die strafrechtliche Aufarbeitung durch den Aufbau “ internationaler und nationaler Strukturen„ zu unterstützen.
Linke sieht deutsche Mitverantwortung am Erstarken des IS
Auch Sevim Dagdelen (Die Linke) nannte die Einstufung der IS-Verbrechen als Völkermord “historisch„. Darauf habe die jesidische Gemeinschaft, aber auch ihre Fraktion lange hingearbeitet. Die Entscheidung sei “überfällig„. Kritik wollte sie den Antragstellern dennoch nicht ersparen: Der Antragstext weise deutliche Leerstellen auf. So schweige er etwa zur deutschen Mitverantwortung für das Erstarken des IS. Die “engsten Verbündeten„ Deutschlands hätten die Terrormiliz mit Waffen und Geld unterstützt, Deutschland habe an diese Verbündeten Waffen geliefert, sagte Dagdelen.
Auch diejenigen, die den Jesiden geholfen hätten, die kurdische Miliz YPG, werde an keiner Stelle des Antrags erwähnt – wohl aus Rücksicht auf den Nato-Partner Türkei, der aktuell Einheiten in der jesidischen Heimat Sinjar bombardiere, mutmaßte die Abgeordnete. Doch dazu dürfe die Bundesregierung nicht schweigen. “Wer Jesiden schützen will, muss alles tun, um die Bombardierungen zu stoppen„, forderte sie.
Ministerin: Deutschland erkennt den Völkermord an
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) unterstrich schließlich, die Anerkennung des Völkermordes an den Jesiden sei nicht nur eine parlamentarische. Der Beschluss stehe stellvertretend für das ganze Land, Deutschland als Gesellschaft erkenne den Genozid an. “Ich bin dankbar, dass wir heute fraktionsübergreifend die Aufgabe annehmen, die Verbrechen beim Namen zu nennen„, so Baerbock.
Mit dem Gedenken der Opfer sei auch der Auftrag verbunden, nicht nachzulassen – in dem Bemühen, die noch immer mehr als 3.000 Vermissten zu finden und Gerechtigkeit für die Opfer zu schaffen. Der Völkermord sei zwar nicht rückgängig zu machen, aber Deutschland könne für Gerechtigkeit sorgen. So werde sie sich dafür einsetzen, dass die IS-Verbrechen auch vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt werden könnten, sicherte die Außenministerin zu.
Gemeinsamer Antrag von Ampel und Union
Das Parlament erkenne an, dass es sich bei den Verbrechen durch die Terrormiliz “Islamischer Staat„ (IS) gegen die “Gemeinschaft der Eziden auf irakischem Territorium im Jahr 2014 um einen Völkermord im Sinne des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen handelt„, schreiben die Abgeordneten. Gleichzeitig fordern sie die Bundesregierung auf, bestehende internationale und nationale Strukturen zur politischen und juristischen Aufarbeitung des Völkermordes weiterhin zu fördern und dabei vor allem das Mandat von Unitad, dem Sonderermittlungsteam der Vereinten Nationen (VN) zu stärken.
Auch die juristische Aufarbeitung und die Verfolgung von IS-Täterinnen und -Tätern in Deutschland müssten weiterhin “konsequent„ durchgeführt und ausgebaut werden, fordern Ampel und Union. Hierzu solle die Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Ermittlungstruppe unter dem Schirm von Eurojust gestärkt und eine gesondertes Rechtshilfeeinheit gebildet und finanziert werden, um IS-Angehörige vor Gericht zu bringen.
Reformen des irakischen Strafrechts
Gegenüber der irakischen Regierung solle die Bundesregierung sich außerdem für die Unterzeichnung und Ratifizierung des Gründungsstatuts des Internationalen Strafgerichtshofes sowie für Reformen des irakischen Strafrechts aussprechen. Die Straftatbestände Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord sollten in das irakische Strafgesetzbuch aufgenommen werden, damit Täter nicht mehr “ausschließlich auf der Grundlage der Terrorunterstützung„ verfolgt werden.
Weitere Forderungen der Abgeordneten beziehen sich unter anderem auf eine stärkere finanzielle Förderung der Beweiserhebung in der Region Kurdistan-Irak sowie im gesamten Irak, Unterstützung bei der Suche von “verschleppten Frauen, Kindern sowie von nach wie vor vermissten Angehörigen„ und Hilfe beim Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer, um den 300.000 geflüchteten Jesiden die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. (sas/19.01.2023)
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*Martin Sichert bei MEDIAGNOSE
**Genaueres im Plenarprotokoll ab S. 4932 ff.