Deshalb streitet auch die SPD mit wüsten persönlichen Attacken über einen Beitrag von Wolfgang Thierse zur Identitätspolitik. Er warnte davor, dass «die Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender heftiger und aggressiver» werden. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken nahm den Text in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum Anlass, sich – ohne ihn beim Namen zu nennen – von ihrem Parteifreund zu distanzieren und ihn für sein «rückwärtsgewandtes Bild» abzukanzeln.
Thierse verteidigt die Werte der Moderne
Thierse stellt die Machtfrage, indem er auf zweierlei beharrt. Für ihn ist erstens der Zusammenhalt einer Nation wichtiger als die Befindlichkeit einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Minoritäten. Zweitens sollen in einer Diskussion Qualität und Vernunft eines Arguments den Ausschlag geben, nicht Geschlecht, Hautfarbe oder Religion.
Der frühere stellvertretende SPD-Vorsitzende insistiert auf Werten, welche seit 200 Jahren die europäische Öffentlichkeit definieren: seit der Aufklärung, die sich gegen die feudale Ständegesellschaft durchsetzte, in der jedem Individuum aufgrund seiner Herkunft ein unverrückbarer Platz zugewiesen war.
Was für ein Akt der Emanzipation, als nicht mehr der «Stand» oder, wie es später hiess, die «Klasse» Menschen am Aufstieg hinderten! Die unsichtbare Schranke des Geschlechts blieb allerdings bestehen. Obwohl nicht perfekt, bedeutete das insgesamt doch die Befreiung des Individuums aus den Fesseln des Kollektivs. Wer Gruppenidentitäten förderte wie die Kirchen, bekämpfte die Entwicklung. Lange war es unvorstellbar, dass eine Katholikin einen Protestanten heiratet.
Verteidigt wird dann jemand, nicht weil er richtig gehandelt hat, sondern weil er einer «von uns» ist. Diesen Mechanismus kann man gut an der katholischen Kirche bei ihrem Umgang mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs beobachten. Gruppendenken stellt fast automatisch die Zugehörigkeit über die Vernunft.
Der traditionelle Linke Thierse verteidigt die Errungenschaften der Moderne, des Liberalismus und des Individualismus gegen eine Haltung, die sich für noch linker und progressiver hält. In Wirklichkeit aber ist sie antimodern und ziemlich reaktionär.
Die Protagonisten der neuen Identitätspolitik schliessen an uralte Traditionen kollektiver Politik an. So musste die mit Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld nach Protesten darauf verzichten, ein Gedicht der US-Poetin Amanda Gorman ins Niederländische zu übertragen. Ihr Vergehen nach Ansicht der Kritiker: Sie hat eine helle Hautfarbe und ist damit privilegiert. Gorman hat eine dunkle Hautfarbe. Sie ist folglich benachteiligt und damit das Opfer einer kulturellen Aneignung ähnlich dem Blackfacing, bei dem sich Weisse ihre Gesichter schwarz anmalen.
In diesem Schwarz-Weiss-Denken spielt es auch keine Rolle, dass die Niederländerin (29) und die Amerikanerin (22) fast gleichaltrig sind. Beide Frauen wären damit als Sprecherinnen der jungen Generation für eine Zusammenarbeit prädestiniert. Dagegen steht eine wieder sehr aktuelle ständische Logik: Katholiken heiraten keine Protestanten, Weisse übersetzen keine Werke von Schwarzen. Abkunft und Gene sind in dieser Vorstellungswelt unerbittliche Platzanweiser, die jedem seinen Ort zuteilen: lebenslang.
Es tobt ein neuer Klassenkampf
Der Riss geht durch Parteien des linken wie des rechten Mainstreams. Was für die einen die Schlachten um die korrekte Bezeichnung der Geschlechtszugehörigkeit sind – Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Questioning, Intersex, Asexual, Ally und Pansexual stellen da nur eine unvollkommene Auswahl dar –, sind für die anderen die Konflikte um die Migration. Überall schieben sich Identitäten, sexuelle wie ethnische, vor andere Fragen. Am Ende profitieren davon nur radikale Kräfte wie die AfD, die nichts anderes wollen, als einzelne Gruppen auszugrenzen.
Wie explosiv solche Debatten sein können, mussten vor den deutschen Sozialdemokraten bereits die amerikanischen Demokraten erleben. Die akademischen Eliten in der Partei setzten das Kauderwelsch der Political Correctness durch, denn Sprache ist ein Herrschaftsmittel. Die alte Anhängerschaft, die Arbeiter und die einfachen Angestellten, verstanden nur noch Bahnhof und begriffen die Codes zu Recht als kulturellen Angriff.
«Der neue Klassenkampf», so der linksliberale US-Autor Michael Lind, geht einher mit offener Verachtung eines Teils der Demokraten für alles, was ihrer Meinung nach rückständig und damit rechts und autoritär ist. Diese Grundhaltung brachte Hillary Clinton auf den Punkt, als sie sich über die «Abgehängten» mokierte, die «rassistisch, sexistisch, homophob und ausländerfeindlich» seien. Donald Trump gewann zwei Drittel aller weissen Wähler ohne College-Abschluss. Bei den Wahlen 2020 fiel das Bild genauso klar aus.
Die Demokraten haben, befeuert auch durch ihr neues Puritanertum, ihre traditionelle Basis verprellt. Obwohl Trump nach landläufigen Kriterien ein unwählbarer Kandidat war, gewann Joe Biden nur hauchdünn. Für die Zukunft der Partei verheisst das nichts Gutes.
Wer die Spaltung der Gesellschaft fördert, statt die Gemeinsamkeiten zu betonen, profitiert davon auf Dauer nicht. Das galt für Trumps Republikaner, das gilt für die Demokraten. Es trifft auch auf die linken Parteien in Europa zu. Ob in Frankreich, Italien, Grossbritannien oder eben bei Eskens Sozialdemokraten – sie schwächeln ausnahmslos. Identitätspolitik ist ein ätzendes Gift. Es zieht alle in Mitleidenschaft, die damit hantieren.
Dürfen westdeutsche Journalisten über Ostdeutsche schreiben?
Auch in Deutschland interessiert sich vermutlich die Mehrheit eher weniger dafür, ob Denkmalsockel gründlich von dubiosen Herrschern gesäubert sind oder ob statt des Gendersternchens ein Doppelpunkt das geschlechtliche Sein angemessener repräsentiere. Die akademischen Eliten sehen das anders, vor allem ihre jüngeren Vertreter, die durch besondere Rigorosität im Urteil auffallen. Der neue Klassenkampf ist eigentlich ein Kulturkampf und obendrein ein Generationenkonflikt.
Verschärft wird dieser Kulturkampf durch die ungleichen Chancen, wenn es darum geht, die Hegemonie über die öffentliche Meinung zu gewinnen. Die akademischen Eliten sind gut vernetzt. Sie verfügen über Rückhalt in den Redaktionen der etablierten Medien, und sie sind eloquent und internetaffin. Wolfgang Thierse vermutet, der Shitstorm gegen ihn sei vom Schwulen- und Lesbenverband organisiert.
Die «Abgehängten», wie Clinton ihre einstigen Wähler feinfühlig nannte, können oft nichts anderes aufbieten als ihr Ressentiment. Sie pöbeln dann in den sozialen Netzwerken, was ihnen als weiterer Beweis ihrer Primitivität ausgelegt wird. Oder sie verstummen und ziehen sich zurück. Sie wählen Populisten, oder sie gehen überhaupt nicht mehr wählen. Für die Demokratie ist das auf Dauer noch schlimmer. Wenn grosse Gruppen der Gesellschaft den Glauben an die Demokratie aufgeben, verliert diese ihre Legitimität.
Für Deutschland hält die Identitätspolitik eine gefährliche Pointe bereit. Die hinter Mauern und Stacheldraht Eingesperrten verstanden sich als Deutsche, so etwas wie eine DDR-Identität gab es während der Existenz des Arbeiter- und Bauernstaates nicht. Das änderte sich mit der Wiedervereinigung. Das Bedürfnis nach Vergleich und Abgrenzung wuchs in beiden Landesteilen, die neckischen Vokabeln «Ossi» und «Wessi» legen ein harmloses Zeugnis von dieser Entwicklung ab. Heute zweifelt kaum noch jemand an der ostdeutschen Identität. Selbst junge Menschen ohne jede Erinnerung an die DDR berufen sich auf sie.
Würde man denselben Massstab der kulturellen Aneignung anlegen, der Marieke Lucas Rijneveld verbietet, ein Gedicht von Amanda Gorman zu übersetzen, könnten westdeutsche Journalisten nicht mehr über Ostdeutsche schreiben. Westliche Politiker dürften Ostdeutschen nur zuhören. Überhaupt wäre der Begriff «Deutsche» diskriminierend, weil Ostdeutsche darin nur «mitgemeint» sind.
Westdeutsche sind unzweifelhaft privilegiert. Sie mussten nicht ihre Existenz umkrempeln wie die Ostdeutschen – wenn diese überhaupt noch eine hatten und nicht gleich in den Vorruhestand, in Arbeitsbeschaffungsmassnahmen oder die Sozialhilfe geschickt wurden. Aber soll man daraus die Erbschuld westdeutscher Überlegenheit konstruieren? Oder gibt es eine «strukturelle» Unterlegenheit der Ostdeutschen, der das Individuum nicht entrinnen kann?
Die Büchse der Pandora steht weit offen.
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