Kaum ist der neue Expertenrat …
… der Bundesregierung gebildet, schon empfiehlt er wegen Omikron Kontaktbeschränkungen – und malt einen Zusammenbruch der Infrastruktur an die Wand. Die Grundlage für dieses „Szenario“ bleibt unklar, Alternativen fehlen. Der Fehler steckt im System.
MehrManche Worte sind so schillernd, dass sie scheinbar für sich selbst sprechen. Dazu gehört der „Expertenrat“. Da treffen sich kluge Menschen, die mehr über ein Thema wissen, als wir selbst. Der Expertenstatus wird dabei an zwei Kriterien gemessen: an der Ausbildung und an der Funktion. Insofern ist der Experte zumeist ein Hochschullehrer mit der entsprechenden Reputation, gemessen etwa an den in Fachzeitschriften veröffentlichten Artikeln. Wenn sich somit Experten treffen, können sie den Laien fundierte Ratschläge geben, so die Erwartung der Öffentlichkeit.
Entsprechend groß waren die Hoffnungen auf den vom Bundeskanzleramt neu eingesetzten Expertenrat zur Bekämpfung der Pandemie. Die Bundesregierung und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach lobten dessen „ausgewogene und exzellente“ Zusammensetzung. Gleichzeitig wird betont, dass alle Maßnahmen nur von der Politik getroffen und verantwortet werden. Das ergibt allerdings nur Sinn, wenn sie die Umsetzung solcher Empfehlungen auch ablehnen kann, wenn es dafür gute Gründe gibt. Ansonsten würden Regierungen und Parlamente zu Vollstreckungsbeamten der Experten.
Wer trägt dann aber die so oft beschworene Verantwortung auch für Fehlentscheidungen? Bisher formulierten die Leopoldina-Experten ihre politischen Empfehlungen mit wissenschaftlicher Begründung, darauf berief sich die Politik in ihrer Beschlussfassung. Die Verantwortung ging anschließend in dem teilweise intransparenten Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Politik verloren.
Ein Expertenrat wurde glatt vergessen
Immerhin gibt dieser Expertenrat aber bezüglich seiner fachlichen Zusammensetzung interessante Auskünfte über das von der Politik definierte Anforderungsprofil. So finden sich dort mehrere Virologen, Physiker und Mediziner, aber kein Mitglied aus dem als defizitär erkannten Pflegebereich oder Public-Health-Spezialisten. Gleichzeitig fehlen Volkswirte oder Sozialwissenschaftler, die die ökonomischen und sozialen Folgen von Maßnahmen beurteilen könnten.
Allerdings sollen „die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse von Wissenschaftlern außerhalb dieses Expertengremiums“ einbezogen werden, so die Bundesregierung gegenüber WELT. Eine im Bundeskanzleramt eingerichtete Geschäftsstelle werde die Arbeit des Expertengremiums unterstützen. Das Expertengremium habe zudem in seiner Auftaktsitzung „die Einzelheiten zu den künftigen Treffen und zur Arbeitsweise erörtert“. Solche Klärungsprozesse sind normal, wenn Gremien mehr sein sollen als formlose Zusammenkünfte eines eingeladenen Personenkreises. Der erste Schritt vom Stammtisch zum Verein war schon immer die Formulierung einer Tagesordnung und die Anfertigung eines Protokolls.
Insofern muss man dem Expertenrat im Bundeskanzleramt die Zeit zur Konstituierung geben. Der Fortschritt nach fast zwei Jahren Pandemie besteht darin, dass es überhaupt eine solche Struktur geben soll. Bisher blieb die wissenschaftliche Beratung der Bundesregierung und des Bundeskanzleramts im Dunkeln. Niemand wusste genau, wer überhaupt die Ratgeber waren und wie deren Empfehlungen entstanden. Die Leopoldina diente als Ersatzgremium, deren Entscheidungsprozesse bis heute für niemanden nachvollziehbar sind.
Bisweilen wurden im Vorfeld von Ministerpräsidentenkonferenzen vom Bundeskanzleramt einzelne Experten eingeladen. Oder sie erschienen auf den regelmäßigen Pressekonferenzen des früheren Bundesgesundheitsministers Jens Spahn und Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts. Dagegen haben selbst international hoch angesehene Einrichtungen wie das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ (IQWiG) keine erkennbare Spuren in der deutschen Pandemiepolitik hinterlassen. Es hätte keine Anfragen oder Aufträge vom Bundesgesundheitsministerium oder deutschen Behörden erhalten. Lediglich habe man sich im Sommer 2020 auf Anfrage der EU-Kommission an einem „europäischen Projekt zur Bewertung von Antikörpertests beteiligt“, so deren Auskunft gegenüber WELT.
Auf die Frage, ob das Institut in die Diskussion und Entscheidungsfindung eingebunden wurde und es Kontakte etwa zum RKI gab, lautete die Antwort: „Nein.“ Diese Institution zur Qualitätssicherung wird also vergessen – oder bewusst ignoriert. Deren Mitglieder traten allerdings auch nicht in Talkshows auf oder machten Podcasts für den NDR. Auf eine gleichlautende Anfrage beim „Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen“ (IQTIG) teilte man mit, dass das IQTIG derzeit kein Qualitätssicherungsverfahren durchführe, welches „sich ganz konkret auf die Covid-Pandemie oder ihre Auswirkungen bezieht.“
Wissenschaft oder „gut gemachte Studien“?
In diesem undurchsichtigen Gestrüpp gab es bisher nur einen mit der Pandemie beschäftigten Expertenrat, der nach den üblichen Standards funktionierte. Es handelt sich um die beim RKI angesiedelte Ständige Impfkommission, genannt Stiko. Sie hat alles, was dem neuen Expertenrat noch fehlt: eine rechtliche Grundlage mit einer Aufgabenbeschreibung und einer ausformulierten Arbeitsweise, eine Geschäftsstelle und ein geregeltes Verfahren zur Entscheidungsfindung. Zudem ist das Berufungsverfahren geklärt. Die Mitglieder werden vom Bundesgesundheitsministerium und den zuständigen Landesgesundheitsbehörden ausgesucht. Es sind „Experten aus unterschiedlichen Disziplinen der Wissenschaft und Forschung, aus dem Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der niedergelassenen Ärzteschaft.“
In einer Hinsicht ist diese Kommission aber ein Sonderfall im deutschen Gesundheitssystem. Die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich und die Geschäftsstelle ist mit noch nicht einmal vier Vollzeitstellen bescheiden ausgestattet. Auf dieser Grundlage erarbeitete die Kommission ihre Empfehlungen zu allen die Impfung betreffenden Fragen. Dazu gehören bis heute vierzehn Aktualisierungen, die den sich verändernden Erkenntnisstand wiedergeben. Die Stiko ist bis heute das einzige Gremium im deutschen Gesundheitssystem, das den wissenschaftlichen Standards entspricht, die an einen solchen Expertenrat zu stellen sind. Das IQTIG wurde ja nicht gefragt.
Umso unverständlicher ist der Umgang mit der Stiko. Sie gerät unter politischen Beschuss, zuletzt vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). So hat die Stiko in einer Pressemitteilung vom 9. Dezember eine eingeschränkte Impfempfehlung für Kinder zwischen 5 und 11 Jahren ausgesprochen. Gleichzeitig hat sie dort auf das in langen Jahren eingespielte „Stellungnahmeverfahren“ hingewiesen: Der Beschlussentwurf sei „mit dazugehöriger wissenschaftlicher Begründung an die Bundesländer und die beteiligten Fachkreise gegangen.“
Hier treffen sich nicht einfach achtzehn Experten, um über das Impfen zu diskutieren. Sie stellen ihre Expertise zur Diskussion, damit dort kritische Einwände oder andere fachliche Anmerkungen geltend gemacht werden können. Es ist ein fundamental anderes Prinzip als der Hinweis auf vermeintlich „gut gemachte Studien“, die etwa Lauterbach bisher gerne auf Twitter oder in Talkshows erwähnte. Hier geht es nicht mehr um die zufälligen Lesefrüchte einzelner Experten, sondern um ein systematisches Vorgehen zur Beurteilung vom Nutzen und den Risiken von Impfstoffen.
In diesem vierzig Seiten langen, unveröffentlichten Beschlussentwurf zur Impfung von Kindern wird deutlich, wie diese in Medien und Öffentlichkeit so gerne zitierten Studien fachlich zu bewerten sind. Nur ein Beispiel zu der umstrittenen Frage von LongCovid bei Kindern. So habe für „für die Berücksichtigung der Studienteilnehmenden oftmals eine klare Falldefinition“ gefehlt, die SARS-CoV-2-Infektion sei „nicht immer labordiagnostisch gesichert worden, die Untersuchungszeitpunkte und die Untersuchungsmethoden waren nicht einheitlich. Eine weitere Limitation war die fehlende Kontrollgruppe in der Mehrzahl der Studien.“ Es sei „nach derzeitiger Datenlage nicht möglich, zwischen Auswirkungen durch die Kontaktbeschränkungen … im Lockdown während der Pandemie und den Folgen einer Covid-19-Erkrankung zu unterscheiden.“
Limitierend sei weiterhin die geringe Teilnahmebereitschaft in vielen Studien: „Personen mit weiterhin bestehender Symptomatik sind eher bereit für Befragungen und dadurch kommt es möglicherweise zu einem Selektionsbias und schließlich einer Überschätzung von Long-Covid-Auswirkungen.“ Kurzum: Es ist das einzige wissenschaftliche Verfahren, die Aussagefähigkeit solcher Studien zu erörtern. Der zumeist unverstandene Satz des Stiko-Vorsitzenden Thomas Mertens über die fehlenden Daten ist in Wirklichkeit ein zentraler Baustein wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse: Dort müssen gerade die blinden Flecken markiert werden, die noch nicht seriös ausgeleuchtet werden können. Das Problem ist somit nicht, welche Empfehlungen ein Expertenrat gibt, sondern wie er zu seinen Erkenntnissen kommt.
Grenzen der Expertise
Der neu geschaffene Expertenrat hat darum eine Perspektive, wenn er sich in Struktur und Methodik an den Grundsätzen wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse orientiert. Dabei zeigt die Zusammensetzung dieses neuen Expertenrats gleichzeitig deren Grenzen auf. Er betrachtet die Pandemie aus der ärztlichen und virologischen Perspektive. Die Politik hat aber in einer Pandemie weitere Aspekte zu berücksichtigen, wie die Auswirkungen ihrer Maßnahmen auf das wirtschaftliche und soziale Leben.
Ein solcher Expertenrat muss der Politik Handlungsalternativen anbieten, anstatt wieder in das bisherige Muster apodiktisch formulierter Empfehlungen zurückzufallen. Deren Unzulänglichkeit ließ sich bei den diversen Stellungnahmen der Leopoldina-Experten beobachten. Ansonsten würde die Politik tatsächlich zum Vollzugsbeamten von Expertenräten. Wer will das schon? Noch nicht einmal die Experten, wenigstens wenn sie die Grenzen ihrer Expertise kennen sollten.
Ob der Expertenrat diesen Ansprüchen schon genügt, kann nach dessen erster Empfehlung für „gut geplante und gut kommunizierte Kontaktbeschränkungen“ wegen Omikron jeder Leser selbst beurteilen: Es gibt aber Hinweise, die die Urteilsfindung erleichtern. So hätte er die mit der neuen Omikron-Variante verbundenen Unsicherheiten besser deutlich machen müssen. Das zeigt sich etwa an der Verwendung des Begriffs Szenario: Er bezeichnet eine Projektion unter der Voraussetzung definierter Annahmen. Aber der Expertenrat formuliert nur ein Szenario, zu dem der Leser sich die Annahmen mühselig suchen muss.
So bliebe nach einer Impfung der „Schutz vor schwerer Erkrankung wahrscheinlich teilweise erhalten“. Mehrere Studien zeigten zudem „einen deutlich verbesserten Immunschutz nach erfolgter Boosterimpfung mit den derzeit verfügbaren mRNA Impfstoffen“. Nur: Gleichzeitig erwarten die Experten eine „erhebliche Überlastung der Krankenhäuser – selbst für den wenig wahrscheinlichen Fall einer deutlich abgeschwächten Krankheitsschwere im Vergleich zur Delta-Variante“.
Bisher trugen vor allem kranke und alte Menschen ein hohes gesundheitliches Risiko. Das habe sich nicht geändert, so die Experten. Auf welche Annahmen und Daten stützt sich also dieses Szenario eines drohenden Zusammenbruchs sogar der „gesamten kritischen Infrastruktur unseres Landes“? Laut Expertenrat auf „mathematischen Modelle“, die allerdings von Daten und Annahmen abhängen, die in der Stellungnahme gar nicht erläutert werden. Warum gibt es keine weiteren Szenarien, obwohl der Expertenrat den Unterschied zwischen einem Szenario und einer Prognose sicherlich kennen wird?
Insofern ist dem Expertenrat eine kritische Debatte seiner Annahmen zu empfehlen. Vor allem, wenn man „eine umfassende Kommunikationsstrategie mit nachvollziehbaren Erklärungen der neuen Risikosituation und der daraus folgenden Maßnahmen“ als „essentiell“ definiert. Der Expertenrat hat somit noch Luft nach oben. Aber aller Anfang ist schwer, wie der Volksmund weiß. Das gilt sogar für Experten.
*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona“ ist, zitieren wir den Text. Verweise und Kommentare der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen. ]