In Südafrika wird eine neue Virusvariante entdeckt.
Man weiß noch fast nichts. Doch sofort überbieten sich alle mit Mutmaßungen über deren Gefährlichkeit. Diese Medienpandemie ist schlimmer als B.1.1.529. Sie zerstört etwas, das gerade jetzt besonders wertvoll wäre. …
… Wir erleben in diesen Stunden ein interessantes Beispiel für das Aufmerksamkeitsmanagement in dieser Pandemie. Im südlichen Afrika ist eine Virusvariante namens B.1.1.529, sie trägt jetzt den Namen Omikron, nachgewiesen worden, die die Gesundheitsbehörden weltweit beschäftigt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die neue Virusvariante bereits als „besorgniserregend“ eingestuft, und die zuständigen Behörden in verschiedenen Nationalstaaten verhängen vorsorglich Einreisebeschränkungen für Menschen aus dieser Region.
MehrHier zeigen sich die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit: Eine neue Variante wird schon im Frühstadium entdeckt, bisher wurden in Südafrika auch erst wenige Fälle nachgewiesen. Dieser Erkenntnisgewinn hat gleichzeitig seine Grenzen. In einem solchen Frühstadium wissen wir wenig über die Folgen. Wie wird sich die Ansteckungsfähigkeit entwickeln?
Wie verhält sich das Virus bei Menschen, die schon einmal mit einer älteren Virusvariante infiziert worden waren? Wie wirken die Impfstoffe auf diese Variante? Schließlich können wir nicht auf einen bloßen Verdacht hin, die weltweite Impfstoffproduktion umstellen. Die erfolgt nicht auf Knopfdruck nach dem Kommentar eines Journalisten oder Politikers, sondern verlangt umfangreiche regulatorische und organisatorische Voraussetzungen.
Ein solcher modifizierter Impfstoff braucht neue Zulassungsverfahren, sogenannte „bridging studies“. Diese kosten nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit. Das hätte gleichzeitig Rückwirkungen auf das Handeln der Menschen. Wer wird sich noch nach einer solchen Ankündigung mit den alten Impfstoffen impfen lassen? Hier wirken die gleichen Mechanismen wie bei der Ankündigung staatlicher Zuschüsse für neue Heizungsanlagen: Die Nachfrage bricht sofort zusammen bis der Staat seine Ankündigung umgesetzt hat. Bei den Heizungsanlagen hat das überschaubare Folgen. Die meisten müssen nicht frieren, sondern schieben lediglich die Modernisierung der alten Anlage auf. Sollte es trotzdem einen irreparablen Totalschaden geben, muss man eben in den sauren Apfel eines Verzichts auf Subventionierung beißen.
Mediale Turbo-Booster
In der Pandemie ist das anders. Allein die Ankündigung eines modifizierten Impfstoffes bedeutete den Zusammenbruch der aktuellen Impfkampagne. Diese wirkte wie ein Turbo-Booster zur weiteren Verunsicherung der Bevölkerung. Diese konnte die sich widersprechenden Informationen aus allen möglichen Quellen schon vorher nicht mehr einordnen, die individuelle Meinungsbildung findet auf Grundlage konkurrierender Glaubenssysteme statt. Jeder hat seinen Wissenschaftler, dem er vertraut. Vertrauen heißt Wissen, weil das fehlende Wissen nicht mehr als Grundvoraussetzung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gilt.
Dafür ist der mediale Umgang mit dieser neuen Variante ein typisches Beispiel. In wenigen Stunden verbreiteten sich die Informationen über diese Variante weltweit, auch beim RKI in Deutschland. Besonders viel Beachtung fanden die Informationen bei denen, die schon immer schlechte Nachrichten über das Gefährdungspotenzial von Sars-CoV-2 für gute Nachrichten hielten, allerdings lediglich zur Bestätigung der eigenen Meinung.
Das ist vergleichbar mit der selektiven Wahrnehmung bei vielen Impfskeptikern. Diese reagieren in gleicher Weise auf jede Nachricht über schwere Nebenwirkungen oder sogar Todesfälle nach einer Impfung. Die Wahrnehmung wird somit nicht von Fakten geprägt, sondern von der Beobachtungsperspektive.
Dem unterliegt auch der Autor dieser Zeilen, der sich in den vergangenen achtzehn Monaten als Kritiker der bisherigen Pandemiepolitik profilierte. Jeder unterliegt der selektiven Wahrnehmung zur Bestätigung der eigenen Meinung, selbst wenn er sich bemüht, dieser Versuchung zu widerstehen. Abhilfe schafft daher nur der wissenschaftliche Diskurs, etwa über eine solche Virusvariante.
Dabei gibt es zwei gesicherte Tatbestände, die der Bonner Virologe Hendrik Streeck so formuliert: Wir hätten „zum gegenwärtigen Zeitpunkt nachgewiesene Fälle von Personen, die mit dieser Variante infiziert sind und es gibt derzeit einen Anstieg der Fallzahlen in Südafrika.“ Um es genau zu sagen: Der Zeitpunkt war eine Mail vom 26. November um 11:59 Uhr. Ob dieser mit der neuen Variante zu erklären ist, lässt sich noch nicht sagen. Vor einem Jahr stellte man nämlich in Südafrika einen vergleichbaren Anstieg der Infektionszahlen fest, so Streeck. Solche Varianten mit dieser Genauigkeit sequenzieren zu können, zeigt den technologischen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte: Vor fünfzig Jahren hätten wir von einer Variante namens B.1.1.529 nichts wissen können.
Virologe Hendrik Streeck warnt vor vorschnellen Schlüssen im Zusammenhang mit der Virusvariante aus Südafrika. Man könne noch nicht sagen, ob die Variante besorgniserregend sei. Die Entscheidung der Bundesregierung, Flüge einzuschränken, sei dennoch richtig.
Das Problem der Datengrundlage
Ob diese technologischen Möglichkeiten einen wissenschaftlichen Fortschritt bedeuten, ist allerdings zu bezweifeln. Es gibt nämlich keine unvermeidliche Kausalität zwischen der Entdeckung dieser neuen Variante im Labor und den epidemiologischen Folgen für die Gesellschaft. Letztere sind immer noch auf die statistische Aufarbeitung des Infektionsgeschehens angewiesen, deren Unzulänglichkeiten in den vergangenen achtzehn Monaten vielfach beschrieben worden sind.
Der Grund liegt in den methodischen Grenzen der Epidemiologie, die nicht über das technologische Instrumentarium der Virologie verfügt. Trotzdem verzichtete das bei uns federführende RKI auf repräsentative Kohortenstudien zur Erfassung des Infektionsgeschehens mit einer kuriosen Begründung. Sie seien „sehr kosten- und personalintensiv“ und „auch nicht über Nacht“ aufzubauen, so RKI-Präsident Lothar Wieler in einem Interview mit der „Zeit“.
Ein bemerkenswertes Argument: Diese Pandemie dauert bald zwei Jahre, kostete hunderte Milliarden Euro, griff massiv in die Lebensumstände von über 80 Millionen Menschen ein – und dem RKI war die Schaffung der einzigen relevanten Datengrundlage zu teuer und zu aufwendig.
Wir wissen nicht das, was wir wissen könnten. Stattdessen reden wir über das, was wir nicht wissen können: Wie die Konsequenzen einer solchen Variante auf das zukünftige Infektions- und Krankheitsgeschehen in Deutschland zu beurteilen ist. In unseren weltweit vernetzten Mediensystemen verbreitet sich die Meldung darüber mit einer Geschwindigkeit, die selbst das infektiöseste Virus weit hinter sich lässt. In der Beziehung konkurriert gerade ein Bobbycar namens B.1.1.529, inzwischen Omikron mit einem Formel-1-Rennwagen.
Die Virologen haben mit dem wissenschaftlichen Diskurs noch gar nicht richtig begonnen, sind noch dabei, die mit dieser Variante verbundenen Probleme zu definieren. Laut Streeck in der Mail von Freitag, 26. November 11:59 Uhr sind das folgende: Es gäbe „ungewöhnlich viele Mutationen im Spike Protein (32 Mutationen) zusätzlich um die 10 Mutationen in anderen Proteinen. Es gibt die Möglichkeit, dass die „Mutationen im RBD und NTD eine Resistenz gegen therapeutische monoklonale Antikörper zeigen und natürliche neutralisierende Antikörper, die durch den Impfstoff induziert werden, in ihrer Wirksamkeit heruntergesetzt“ sind. Jetzt gibt es zwei Probleme mit dieser Analyse. Diese Vermutungen sind allesamt unbewiesen, so Streeck. Wir wissen es schlicht nicht zu diesem Zeitpunkt, in diesem Fall am 26. November um 13:39 Uhr. Es ist somit die Aufgabe des wissenschaftlichen Diskurses diese Fragen zu klären. Das kostet Zeit, die wir auch haben. Eine Vorsichtsmaßnahme, wie das Kappen der Flugverbindungen in das südliche Afrika macht deshalb Sinn.
Das zweite Problem ist allerdings nicht so einfach zu lösen. Noch niemand kann eine sinnvolle Auskunft über die neue Virusvariante geben. Das betrifft Politiker, Physiker und Mathematiker, Ärzte wie Intensivmediziner und Pneumologen, Gesundheitsökonomen und andere Volkswirte, darüber hinaus alle anderen Berufsgruppen vom Lehrer über den Bäcker bis zum Heizungsbauer. Noch nicht einmal der Papst weiß mehr als die anderen.
Schließlich ist da noch die Berufsgruppe mit der seit Jahrzehnten geringsten Reputation in der Öffentlichkeit: Das sind wir Journalisten. Aber alle diese Menschen entwickeln alle möglichen Fantasien über die Folgen von B.1.1.529. Und sie haben fest gefügte Urteile über die Arbeit von Virologen wie Streeck oder Drosten. Selbstredend gibt es kein Aufmerksamkeitsmanagement. Es gibt einen vielstimmigen Chor von Laien, die eine Meinung haben. Die nach Informationen auf Grundlage der Vereinbarkeit mit den bisherigen Wahrnehmungsmustern suchen.
Diese Medienpandemie ist schlimmer als B.1.1.529 alias Omikron. Sie zerstört das letzte Vertrauen in die Handlungsfähigkeit dieser Gesellschaft. Deshalb sollte man einfach Virologen wie Hendrik Streeck ihren Job machen lassen. Seine Fantasien kann man bekanntlich auch anders ausleben. Es ist Freitag, der 26. November um 14:37 Uhr. Der Ticker meldet den ersten Fall von B.1.1.529 in Belgien.
*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona & Medien“ ist, zitieren wir den Text. Verweise, Kommentare und das Meinungsbild der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.
Frank Lübberding und Michael Hanfeld waren mit die letzten „Normalen“ bei der jetzt auf links gedrehten FAZ. Was war das mal für eine gute Zeitung! Jetzt ist es nur noch ein Käseblatt, von bornierten Trotteln für bornierte Trottel gemacht. Motto: Dahinter steht ein hohler Kopf.