Das Bundesverfassungsgericht sorgt …
… mit seinem Urteil dafür, dass über Klimapolitik immer einseitiger diskutiert wird. Alles dreht sich nur noch um den Schaden, den wir durch unseren Lebensstil anrichten. Technische Lösungen – wie in China – ignorieren die Richter. Eine Einordnung.
MehrDer Soziologe Nico Stehr hat im Jahr 2011 im Suhrkamp Verlag einen interessanten Vergleich unternommen. Er verglich in seiner Studie ,,Die Macht der Erkenntnis“, gemeinsam mit Reiner Grundmann, die zeitgenössischen Diskurse über die NS-Rassenpolitik und der heutigen Klimapolitik miteinander. Er fragte weniger nach der guten Absicht, sondern suchte als Wissenssoziologe strukturelle Parallelen bezüglich des Rollenverständnisses von Politik und Wissenschaft.
Politik dürfe sich nicht zum Durchführungsorgan wissenschaftlicher Expertenforderungen machen, resümierte Stehr. Sonst sei großer demokratischer Verlust zu beklagen. Es gebe eine „auffallende Ähnlichkeit zwischen den Diskursen über Rasse und Klima“, schrieb er. „Beide veranschaulichen einen technokratischen Zugang der Politikgestaltung, beide stellen uns nicht vor eine politische Entscheidung, sondern sagen uns, ,was die Wissenschaft fordert’.“ Die Gemeinsamkeiten, so Stehr: Kollaps-Prophetie, Selbstmord-Rhetorik, das Angebot „rein naturwissenschaftlicher“ Rettungspfade.
Die Greta-Bewegung verlangt genau dies, eine radikale Wissenschaftsorientierung der Politik. Mit Abstrichen war die Corona-Politik ein Vorgeschmack darauf, dass dieses Verständnis sicher geglaubte, verfassungsgeschützte Freiheiten rasch infrage stellen kann. In dieser Hinsicht war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik epochal. Das gilt auch auf der Sachebene, mehr aber noch aufgrund seiner semantischen und logischen Akzentsetzungen.
Wer jetzt von Freiheit spricht wie zuvor, könnte nach dem Urteil geradezu als verfassungsfern erscheinen. Die neue Klimabewegung sagt, in mehr oder minder scharfer Form, dass viele Lebensbereiche, die heute noch mehrheitlich als privat begriffen werden, im „Lichte der Wissenschaft“ politisch gedeckelt gehörten: Reisen, Heizen, Essen. Kohlenstoffintensive Lebensstile, mit anderen Worten. Und die ganze Industrie drum herum. Die Freiheit nicht nur der Mobilität, sondern auch des Eigentums, der Berufswahl, der kreativen Forschung steht zur Debatte. Pardon: steht vor einer umweltethischen Neudefinition.
Indem Karlsruhe das Staatsziel des Umweltschutzes eins zu eins an die Regierungsziele einer Kohlenstoffneutralität bis 2050 bindet, ist zunächst der parlamentarische Spielraum genommen, im Sinne des Paris-Abkommens mögliche Verschiebungen der Frist auf 2060 (wie China) oder später zu beschließen. Diese Frage ist damit, ganz im Sinne von Fridays for Future und Extinction Rebellion, nicht mehr an Mehrheiten gebunden, nicht daran etwa, dass es zunehmend auch mehrheitsfähige konkrete Angebote für alternative Lebens- und Produktionsweisen gäbe. Sondern (genau) diese Frist ist nun deshalb als nötig festgemacht, weil die Erwärmungsprognosen der Klimawissenschaft die CO2-Notbremse sachzwangartig verlangten.
Am Handlungsdruck besteht kein Zweifel. Aber Wege in eine kohlenstoffneutrale Zukunft gibt es viele. Das etwas in die Jahre gekommene Schlusswort von Nico Stehr wirkt im Lichte der aktuellen Panikrhetorik geradezu antiquiert: Er spricht über Klimaanpassung, Küstenschutz und warnt vor radikaler, also nicht auf wirtschaftliche Folgen Rücksicht nehmender CO2-Bremsung. Und die technischen Quantensprünge, die CO2 vom Gift zum Nährstoff machen, geschahen ja erst nach dem Erscheinen von Stehrs Studie.
Ziele sind längst beschlossen
Die Arroganz der Proteste sagt heute trotzdem nicht so selten: Ach, ihr alten Männer mit euren Autos. Jetzt fügt sie hinzu: Seid ihr jetzt also auch gegen die Verfassung?
Gesamtwirtschaftliche „Netto-CO2-Ausstiegsziele“ sind sinnvoll und längst politisch beschlossen. Der Weg dahin muss nun, nach dem Karlsruher Urteil der vergangenen Woche, erheblich konkretisiert werden. Dieser Auftrag an die Bundesregierung auf der „Sachebene“ ist gewiss vielseitig und kreativ zu gestalten. Aber die Folgen des Urteils für den Diskurs sind viel interessanter.
Seine Sprache und Hintergrundlogik sind epochal merkwürdig. Denn das Gericht hebt zwei Verkürzungen der Klimadebatte auf eine höhere, nämlich die Verfassungsebene: Das ist, erstens, die angesichts technischer Innovation womöglich zu rigide Vorstellung vom CO2 als Umweltgift und, zweitens, die moralische Verdammung CO2 emittierender Verhaltensweisen (nicht also etwa von Steuerpolitiken, die das CO2 viel zu billig sein lassen).
Die Berufung auf Lebensstile hat Konsequenzen. Mit dem Urteil ist – wenn es sich auch auf Regierungshandeln bezieht – gewissermaßen auch der persönliche Kohlenstoffausstieg zum Gebot verfassungstreuer Lebensführung erklärt. „Du fliegst? Damit trägst du zur Unterdrückung anderer bei“ – das ist jetzt die letztgültige Verfassungsauslegung: Individuelle Freiheiten, die gelegentlich Emissionen kosten, können nun wohl als Verletzung des Bürgerrechts auf die Freiheit (anderer) gelten.
Das Problem dieser Deutungsweise ist nicht ihre grundsätzliche Richtung, sondern die schreckliche Eindeutigkeit. Anders gesagt: die Engführung auf das „materiell-ökologische Ausbeutungsgeschehen“ bei gleichzeitiger Ignoranz der, im Bild gesprochen, Freuden, Eindrücke und positiven Nachklänge der Begegnungen, die so eine Flugreise zum Beispiel bringt. Und der Arbeitsplätze und materiell sicheren Existenzen.
Künftig müsse, so heißt es in der juristenkühlen Karlsruher Erklärung, „CO2-relevanter Freiheitsgebrauch immer stärkeren, auch verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein“. Das kann vieles heißen, auch höhere CO2-Steuern. Auch die Radikalität der Extinction Rebellion hat sich das Bundesverfassungsgericht zwar, auf den ersten Blick, nicht zu eigen gemacht. Man kann das Urteil – wie viele Kommentatorinnen – auch als Ausrufezeichen sehen hinter die (triviale) Feststellung, dass es Zielkonflikte gebe zwischen zwei Verfassungszielen: Umweltschutz und individuelle Freiheit.
Die Verknotung der Ebenen
Aber ist es nicht andererseits ein billiger Trick, beide Ebenen einfach zu verbinden, sie zu einem Zielbereich zu vereinen? Das Verfassungsgericht sagt einfach, es gebe langfristig keine Freiheit ohne Umwelt-, also Klimaschutz. In der logischen Verknotung beider Ebenen liegt überhaupt der fatale Fehlgriff.
Denn ist nicht schon das Staatsziel des Umweltschutzes allein übervoll von Zielkonflikten? Zwischen dem Klima-, Arten-, Wild-, Weidetier- und Landschaftsschutz? Windparks zerstören Landschaftsbilder. Wolfsschutz zerstört Schafherden. Im Kern der artenreichen Biosphärenreservate haben auch Biobauern keinen Raum mehr.
Wiederum kollidiert jedes dieser Schutzziele mit individuellen Freiheiten von Menschen. „Letztlich bleibt eine unaufgelöste Spannung zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie einerseits und dem Anspruch auf wahre Erkenntnis und verbindliche objektive Sachnotwendigkeit andererseits“, schreibt der Historiker Andreas Rödder über die Klimadebatten der vergangenen Jahrzehnte. So sprechen Historiker. Das Gericht hat sich für die Sprache der Naturwissenschaft entschieden. Sie ist historisch blind – und ethisch ebenfalls.
Der Anspruch des Bundesgerichtes, die Widersprüche von Klima- und Freiheitsschutz mit einem simplen definitorischen Trick zu lösen, indem es Klimaschutz und Freiheit zu einem gemeinsamen Problemfeld definiert, wirkt aus historischer Perspektive naiv, vielleicht sogar anmaßend. Aber gerade diese Raffinesse lobten Kommentatoren, in der „Zeit“ wie in der „F.A.S.“.
Die eindeutige Argumentation liefert dann auch gleich die eindeutige Lösung mit: weg von den Emissionen. Das Gericht schreibt en passant auch das Zieldatum der deutschen Netto-Null (2050) als unumkehrbar notwendig fest – es gehe eindeutig aus dem Staatsziel Umweltschutz hervor, Artikel 20a Grundgesetz. Damit entkoppelt es dieses Datum auch von Korrekturen.
Was an der Argumentation darüber hinaus epochal aufregend ist, das ist ihre ganz eigenartige Apokalyptik: eine höchstrichterliche Apokalyptik der drohenden Endzeit der Freiheit. So verdoppelt sich der apokalyptisch stimulierte Handlungsdruck gewissermaßen, statt dass er auf zwei Säulen verlagert würde.
Gefeiertes Mega-Ausrufezeichen
Das mag im Sinne der Sache sein oder nicht. Gemäß den meisten öffentlichen Reaktionen von Politikern und Journalistinnen ist es das: Die einen feiern das Urteil als klimapolitisches Mega-Ausrufezeichen (Aktivistinnen, FFF, „taz“, „Stern“), die anderen sagen: ach, halb so wild, und applaudieren fast reflexartig. Andere unterstreichen, das sei gut, es gehe hier schließlich auch irgendwie um Freiheit („F.A.S.“, CDU).
Und nicht zuletzt: Jetzt steht der klimabegründete Freiheits-Lockdown offiziell und unabänderlich im Raum der Möglichkeiten. „Künftig“, so sagt der erörternde Text aus Karlsruhe, „können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein“. Die Extinction Rebellion fordert genau dies, allerdings für sofort und weniger im Sinne der Freiheit, sondern der Umwelt.
Der Panikmodus der Politik hat nicht nur eine Leitplanke verloren, stattdessen gibt es nun Rückenwind. Zur Abwehr der dystopischen Zukunft hilft demnach die wohltemperierte, aber unerbittliche Abgewöhnung umweltschädlicher Verhaltensweisen. Die nennt Karlsruhe nicht beim Namen, sondern spricht allgemein von „mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise[n]“.
Da schwingt also wieder das Klischee vom SUV-Fahrer oder der gut verdienenden Ärztefamilie mit, die im Winter in die Karibik fliegt, aber ebenfalls von Currywurst zum Kantinenpreis.
Die Moralisierung liegt im Bezug auf die „Lebensweise“. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man sagt: Flüge und Currywurst müssen viel teurer werden. Seit vergangener Woche sind solche „unökologischen“ Lebensweisen mit der Verfassung(sauslegung) verknotet. Das entspricht grüner Kampagnenlogik und steht quer zu „konservativen“ beziehungsweise moderierenden Abwägungen und Abgleichungen mit wirtschaftshistorischen Entwicklungspfaden eines Industrielands. Und auch (ein böses Wort?) mit der Wahrung nationaler materieller Interessen, wie auch mit jedem nicht ganz naiven Blick auf die nationale Interessenverfolgung der Weltmacht China.
Ja, die Weltrettung hängt auch an guten Lebensweisen. Das moralische Sprechen gehört in einer pluralen Demokratie aber in Verlage, Parteien und Parlamente. Es ist nun überparlamentarisch verankert. Aber die nötige ethische Abwägung wäre mehrdimensionaler als symbolische Moralen, die CO2-bezogene „Lebensweisen“ grundsätzlich verdammen.
Klimaschonende Lebensweise als Verfassungsaufgabe
Die klimaschonenden Lebensweisen, beziehungsweise die Herbeiführung ebensolcher, erscheinen damit als Verfassungsaufgabe (Artikel 20a). So heißt es in der ausführlichen Erläuterung des Urteils etwa, die Zeit sei knapp, in der „die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhaltensweisen freiheitsschonend vollzogen werden könnte“.
Die Politik erhält den Auftrag, Lebensweisen und Verhaltensweisen in einem langfristigen Plan zu verändern. Vielleicht wird der neue ökologische Mensch ja ohnehin zur Mehrheit, weil die Veggie-Küche besser bekommt und der Spessart auch ganz wunderbar erholsam ist.
Wie Faust in der Walpurgisnacht fliegen die Verfassungsrichtenden durch die Lüfte von Endzeitangst und Zeitenwende, aber deuten immer wieder an, dass der eigentliche Sinn des Rittes die Rettung der Freiheit sei. Was aber wird aus dem Karlsruher Text im Diskurs? Wie lang ist der Weg, bis die fernreisende Familie sich auch in der Nachbarschaft als verfassungsfern rechtfertigen muss?
Die von Karlsruhe übernommene Hypermoral der Emissionsfreiheit lässt – das ist das Greta-Momentum – in der Tat wenig Raum für Hoffnung. Auch nicht für die Weltrettung durch Techniksprünge (und sowieso nicht für Hoffnungen jenseits der Weltrettung).
Der Preis ist also zweitens: Das Urteil begünstigt eine radikale Vereindeutigung wissenschaftlich wie politisch bislang streitbarer Konzepte wie desjenigen von festen nationalen CO2-Budgets. Als gäbe es einen Kuchen, der unabänderlich schrumpfe und nach eindeutigen Gerechtigkeitsüberlegungen zu verteilen sei. Das klingt im Juristinnendeutsch so: „Durch die in Paragraf 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 geregelten Emissionsmengen würde das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen auf der Grundlage der Schätzungen des IPCC ermittelte Restbudget bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht.“
Aber ist nicht die Zukunft offen, die technischen Möglichkeiten gerade in Zeiten biotechnischer Revolutionen an der Grenze zur Science-Fiction kratzend? Sicher lässt das Urteil, auf der „Sachebene“, auch technische Entwicklung als Möglichkeit zu einem guten Ausgang des CO2-Themas zu. Denn es geht im Klimaschutzgesetz ja um Nettoemissionen. Und wie bis dahin der technische Wandel der Mobilität, der Bioökonomie, der Ernährungs- oder Bauindustrie und veränderte CO2-Bilanzen dieser Kernsektoren beitragen, dass auch ein relativ materiell intensiver Lebensstil noch im Rahmen des Umweltverträglichen ist, steht heute in den Sternen.
Die Zukunft des Heizpilzes
Aber muss man dann apokalyptisch sprechen? Was können wir in 2021 wirklich wissen über die Zukunft des Reisens und der Heizpilze, der Metzgereien und Gokart-Bahnen, der Betonhäuser, der Gasheizungen und so weiter?
Leider verschließt die logische Verknüpfung von CO2 und Schädlichkeit zumindest semantisch den Blick in eine überraschend andere Zukunft. Der Lösungsbeitrag staatlicher Budgetierung ist überbetont. Wer weiß, in welchen Sektoren Digitalisierung die Globalisierung des Warenhandels wie stark verändern wird? Und wie es gelingen wird, aus CO2 einen Rohstoff zu machen?
In Israel sind genveränderte Bakterien erschaffen worden, die CO2 zu Biosprit oder Nahrung umwandeln können sollen. Wer weiß, ob dieser Ansatz im großen Stil ein „game changer“ wird. Oder andere. Aber wenn ja, könnte er die Klimabilanzen des Verkehrs- oder Ernährungssektors stark verändern. China, das bis 2060 auch CO2-neutral werden will, baut seine Kohlekraftanlagen mit angeschlossener industrieller CO2-Verwertung.
Die mit der Politik engmaschig verknotete NGO-Landschaft hat zu solchen technischen Lösungen in Europa bereits Nein gesagt. Und wenn Kraftstoffe aus dem CO2 der Luft oder der Industrieanlagen oder aus Plastikmüll gewonnen würden, wäre auch der Verbrennungsmotor wieder klimaneutral.
Das Plastik der Zukunft wird ebenfalls aus dem CO2 der Luft gemacht. In Leverkusen steht schon eine Pilotanlage. Solche Techniksprünge, in der Breite der Industrie angekommen, hätten gravierende Auswirkungen auf Sektorbilanzen. Vor allem aber bezogen auf die Moral des Reisens oder der Plastiktütennutzung, die das Bundesverfassungsgericht anscheinend für ewig gültig hält. Es gibt gute Gründe, an technischen Lösungen zu zweifeln. Bleiben sie ganz unerwähnt und gar nicht mitgedacht, werden aber auch sie immer mehr aus dem staatsbürgerlichen Diskurs verschwinden.
Es gibt – jenseits des populistischen, antirationalen Zynismus – zwei Wege, sich zur drohenden Megakrise zu verhalten.
Einer ist ein furchtsames, aber spielerisches Vorantasten, das neben marktorientierter CO2-Verteuerung auf Forschung und Innovation setzt und auf lokale Lösungen der vielen Spezialistinnen in Wirtschaft und Wissenschaft.
Der andere ist ein einerseits moralisierender und letztlich auch planwirtschaftlicher, der CO2 recht fantasielos zum Jahrhundertgift erklärt, der vom Staat Klarheit über genaue Entgiftungspfade verlangt und a priori technische Lösungsbeiträge wie CO2-Verwertungstechniken oder genomverändernde Pflanzenzucht (etwa Stickstoffbindung durch Crispr/Cas-Editierung) ausschließt.
Dass der erste Weg zum Erfolg führt, ist historisch wahrscheinlicher, der zweite Weg ist der für Büro- und Technokratinnen reizvollere.
Die Einseitigkeit von Karlsruhe
Karlsruhe legt den Fokus einseitig auf Risikovermeidung durch Eliminierung der Emission statt auch auf Anpassung. Allein der Faktor der Unsicherheit genüge: „Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge“, heißt es in der Karlsruher Erklärung, so „erlegt Art. 20a GG dem Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht auf.
Danach müssen bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen berücksichtigt werden.“ Daran mangelt es nicht. Aber müsste das Verhältnis von Innovation und Risikovermeidung in dieser wichtigen, über Wohlstand und Freiheit entscheidenden Frage nicht fortlaufend im Parlament verhandelt werden?
Das Parlament ist nicht nur der eigentliche Ort für Ausstiegsbeschlüsse, sondern vor allem für den vorgelagerten Streit über ökonomische und ökologische Abwägungen – wie zuvor auch die Parteien, die Medien und NGOs, die Wissenschaften. Staatsziele, warnten Staatsrechtler gelegentlich, würden die Macht von den regierenden Parteien und Parlamenten hin zu den Gerichten verschieben. Jetzt sehen wir, was das bedeutet.
Die Machtverlagerung von der Legislative zur Jurisdiktion ist eine Konsequenz daraus, dass Umweltschutz 1994 zum Staatsziel erklärt wurde (neben der europäischen Einigung, der Gleichberechtigung und dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht). Der Umweltminister hieß in diesem Jahr Klaus Töpfer, die Rio-Konferenz von 1992 war ein Anlass, Tschernobyl und das Verschwinden der Regenwälder waren das zeitgeschichtliche Hintergrundgeschehen. Nun sagt Artikel 20a des Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen … durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“
Die Verlagerung von ethischer Abwägung zum „Kopf-durch-die-Wand“ ist nun wie auf einer schleimigen Rutsche beschleunigt. Zum Vergleich ein anderes Urteil, das sich auf Artikel 20a bezieht, und zwar das Staatsziel des Tierschutzes. Über Jahre hatten zuvor mehrere Verwaltungsgerichte über das (entsetzliche) systematische Töten von Küken in der Eier-Industrie entschieden, dieses geschehe mit „vernünftigem Grund“. So urteilten die Vorinstanzen, da es wirtschaftlich geboten sei. Dann hieß es 2019 höchstrichterlich, es sei zwar nicht vernünftig, aber noch zu dulden, da sich diese Industrie historisch lange auf die Gesetzeskonformität dieses Vorgehens verlassen habe.
Das Bundesverwaltungsgericht argumentierte hier nicht prinzipiell moralisch, sondern historisch. Und es sagt, erst mit der Etablierung technischer Methoden der Geschlechtserkennung werde das Kükentöten zu unterlassen sein. In Sinn und Sprache scheint dieses Urteil geradezu eine juristische Gegenwelt zu demjenigen des Bundesverfassungsgerichts zu bilden. Hier hat die Ethik das letzte Wort. Das Gericht entschied nicht für das (mehrheitsfähige): Kükentöten geht gar nicht, Ausstieg jetzt!
Die CO2-Wende hat noch fast dreißig Jahre Zeit. Das Anliegen ist heikel, die Kohlenstoffneutralität ist gesellschaftlich breiter und fundamental tiefer mit Fragen individueller Lebensführung verbunden als die Ausweisung von Naturschutzgebieten, Tierschutzfragen oder Verbote oder Regulierungen toxischer Chemikalien. Kohlenstoffneutralität ohne technische Quantensprünge hieße Kulturrevolution.
Die rigide Fixierung auf einzelne Schadstoffe hat ihrerseits ihre Geschichte in der Umweltbewegung. Die Grünen haben ihre Karriere in den 1980er-Jahren als „Entgiftungspartei“ begonnen. Erst ging es ihnen um Chemiefabriken und Gewässer, dann um Atomkraft. Dadurch, dass CO2 zum Supergift wurde, verlagerte oder weitete sich der Anspruch von bürgerfreundlicher Gestaltung der Industrie zum Kampf um globale und soziale Gerechtigkeit.
Der politische Kampf gegen die Emissionen ist hinsichtlich der katastrophalen Wirkungsweise der Klimagase auf die natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit naturwissenschaftlich unzweifelhaft sinnvoll, aber die konkrete Umsetzung unterliegt eben facettenreichen ethischen Abwägungen. Das moralische Gesetz in uns, die Klimawissenschaft über uns.
In vielen Formulierungen des Pressetextes verbergen sich zentrale metaphorische Konzepte der „grünen“ politischen Kräfte: das von der Kohlenstoffschuld, den planetaren Grenzen, der globalen CO2-Gerechtigkeit, nationalen CO2-Budgets. Jeder, der diese Konzepte in Parlamentsdebatten und Wissenschaft, in Social Media oder Interviews nicht umstandslos akzeptiert, wird sich künftig womöglich die Frage nach der Verfassungstreue stellen lassen müssen.
Die Geschichte der Umweltbewegung lässt sich allerdings von zwei Seiten verstehen. Das sind weniger Kopf und Herz, sondern mehr Ausdruck und Macht. Oder: das ökologische Fühlen und die moralisierende Skandalisierung. Das ökologische Fühlen nimmt seine Leidenschaft aus dem Schmerz, der im menschlichen Blick auf die Kollateralschäden der technokratischen Industriegesellschaft gründet.
Dazu zählen die Krebstoten von Tschernobyl, die toten Fische im Rhein nach den Chemieunfällen der 1980er-Jahre, die Ausbeutung der Tiere in industriellen Schlachtanlagen bis in die Gegenwart, aber auch die Verarmungen von Landschaften durch Windindustrieparks. All diese Schmerzen finden ihren Ausdruck im literarischen und philosophischen Schreiben. Die Erfolge der massenbewegenden Buchbestseller gründeten im poetischen Ausdruck ihrer Autorinnen: Rachel Carson, Wendell Berry, Safran Foer.
Klimapolitik aber ist untrennbar vor allem Machtpolitik. Sie ist wohl das Teilgebiet der Umweltpolitik mit dem geringsten poetischen Gehalt. Der rigide CO2-Minderungs-Klimapfad ist durch das Urteil zur umwelt- und wirtschaftspolitischen Totalperspektive von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion geworden. Das ist eine Revolution der Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland.
Die Gretchenfrage lautet nun auch für alle, die der Verfassung treu sein möchten: Wie hältst du‘s mit dem „CO2-relevanten Freiheitsgebrauch“? Klimawissenschaft, Politik und Privates sind engmaschig verknüpft. Das schien für Nico Stehr noch vor zehn Jahren extrem unwahrscheinlich.
*Weil der Artikel und die Meinung außerordentlich wichtig für die Debatte „Klimaschutz“ sind, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.
Gut gebrüllt, Löwen! Jedoch ist der eigentliche ‚casus knacktus‘ meiner Ansicht woanders. Nämlich in der Entwicklung der deutschen politischen Kultur in den letzten Jahrzehnten.
Erst wurde die Ratio zugunsten des gefühlsüberschwänglichen Protests gegen alle möglichen tatsächlichen und eingebildeten Übel über Bord geworfen, jetzt die Demokratie (was folgerichtig ist). Ein paar Alleswisser in Karlsruhe fungieren nun mehr oder weniger als Ober-Bosse, ganz im Sinne von Platons Philosophenherrschaft. Die Bürger haben zu kuschen.
Nun hat allerdings Platon später in seinem Leben das Konzept der Philosophenherrschaft klugerweise verworfen. Er wandelte seine Vorstellung vom idealen Staat von der Politeia (Philosophenherrschaft) zu den Nomoi (Die Gesetze), ein Werk , das wesentlich realitätsnäher ist.
Offensichtlich haben die Karlsruher auf Realitätsnähe keinen Wert gelegt. Sondern nur auf den Vorrang ihrer Herrschaft.
In Deutschland sind autoritäre Tendenzen offensichtlich unausrottbar. Es geht bis zur Politisierung der Justiz. Das besonders Perfide daran ist aber, dass wir auch noch den Polen vorwerfen, was wir selbst machen.
Jetzt wird deutlich, dass es durchaus Vorteile hat, wenn ein politisches System auf ein Verfassungsgericht verzichtet, wie die Schweiz es tut.
Die Karlsruher Richter werden wahrscheinlich auch Merkels Corona-Notbremse absegnen, mit der im Klima-Urteil manifestierten Mentalität.
Die nächsten Urteile werden dann wohl bestimmen, wie viel Fleisch wir essen dürfen, und wie oft wir fliegen dürfen. Natürlich mit Ausnahmen für die politischen Eliten, für die angesichts ihrer schweren Herrschaftsaufgaben Sonderregeln gelten müssen.
Gute Nacht, Deutschland!