Der Staatsrechtler Ferdinand Kirchhof …
… richtet einen Appell an den Bundestag. Er erinnert daran, dass es neben der Gesundheit noch andere Grundrechte gibt – und kritisiert politische „Trittbrettfahrer“ der Pandemie
MehrWELT: Wir erleben jetzt das zweite Osterfest im Zeichen der Corona-Pandemie, Herr Kirchhof. Wird der Verfassungsstaat, so, wie wir ihn kennen, wiederauferstehen? …
… Ferdinand Kirchhof: Ich bin guter Hoffnung, dass der Verfassungsstaat wieder in seinen Normalzustand zurückkehren wird. Klar ist dabei: Je länger die Beschränkungen dauern, desto dringlicher wird es verfassungsrechtlich, den Grundrechten abseits des Gesundheitsschutzes wieder Geltung zu verschaffen.
WELT: Seit über einem Jahr schränkt die Bundesregierung diese Grundrechte in beispielloser Form ein. Im ersten Halbjahr war die gesetzliche Grundlage dafür eine nicht für eine Pandemie gedachte Generalklausel, im zweiten Halbjahr ein hingeschluderter neuer Paragraf im Infektionsschutzgesetz. Genügt das Ihren Maßstäben als Staatsrechtler?
Kirchhof: Ich bin zunächst froh, dass die Generalklausel im Paragrafen 28 Infektionsschutzgesetz, die nach Art der polizeilichen Gefahrenabwehr ausgearbeitet ist, jetzt nicht mehr zur Anwendung kommt. Wir haben stattdessen seit dem Herbst letzten Jahres den Paragrafen 28a, der sich speziell mit dem Coronavirus befasst. Das ist ein Fortschritt, weil das Parlament dort erstmals die verschiedenen Eingriffe aufgezählt hat, die möglich sind – und vor allem auch Grenzen, Befristungen und Begründungspflichten festgeschrieben hat.
Ich bin aber, je länger die Corona-Lage andauert, auch mit dieser Vorschrift nicht ganz glücklich, weil sie die möglichen staatlichen Eingriffe nicht mit den entgegenstehenden Rechtsgütern und Belangen von Gesellschaft, Wirtschaft und Individuen abwägt.
WELT: Genügt das Infektionsschutzgesetz also den verfassungsrechtlichen Anforderungen?
Kirchhof: Mir fehlt die Beteiligung des Parlaments an der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und der ihnen entgegenstehenden Rechtsgüter. Es ist feststehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Bundestag selbst diese Austarierung bei einer Beschränkung von Grundrechten übernehmen muss.
In Paragraf 28 Absatz 6 aber steht lediglich, dass bei staatlichen Maßnahmen auch deren wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Auswirkungen berücksichtigt werden müssen. Das ist keine eigene Konfliktentscheidung durch das Parlament, sondern eher ein lakonischer Hinweis an die Exekutive: Denkt bitte auch daran! Das reicht nicht.
WELT: Der Bundestag beschränkt sich in dieser Pandemie generell eher auf die Rolle eines Beobachters. Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung des Souveräns?
Kirchhof: Tja, das ist ein schwieriges Kapitel. Das Parlament fokussiert sich im Wesentlichen darauf, nach Paragraf 5 die epidemische Lage von nationaler Tragweite zu erklären. Das ist die Grundvoraussetzung, damit die Exekutive auf den Maßnahmenkatalog des Infektionsschutzgesetzes zurückgreifen kann. Wenn dieser Schalter aber umgelegt ist, fallen alle Beschränkungen, und die Exekutive darf ohne Mitsprache des Bundestags umfassend handeln.
Mir zeigt das: Der Seuchenschutz ist offenbar kein Thema, von dem die Abgeordneten glauben, dass es Wählerstimmen bringt. Wir haben das in der Vergangenheit schon öfter erlebt. Vergleichbare Zurückhaltung des Bundestags registriere ich immer dann, wenn es um den Abbau von Privilegien geht. Subventionen oder soziale Leistungen zum Beispiel verteilt das Parlament gern, nimmt sie aber ungern zurück.
WELT: Wie ließe sich der Bundestag zum Jagen tragen?
Kirchhof: Es bleibt nur der Appell an die Abgeordneten. Das Parlament ist der Souverän. Es entscheidet, ob und wie es etwas tut. Und es kann eben auch entscheiden: Wir tun nichts oder wir tun wenig. Ein Appell liegt mir mit Blick auf künftige Pandemien allerdings am Herzen.
WELT: Welcher?
Kirchhof: Wir erleben jetzt eine exzeptionelle Situation. Und ich wünsche mir sehr, dass die ergriffenen Maßnahmen auch exzeptionell bleiben – und nicht als Muster für die nächste Hongkong-Grippe herhalten. Mit der Begründung „Auch da gibt es Tote und Kranke“ ließe sich das Infektionsschutzgesetz auch in diesem Fall durchdeklinieren.
Ich würde dem Parlament deshalb empfehlen, dass es sich dieses Themas später außerhalb der akuten Corona-Hektik annimmt und ganz genau sagt, wann wir erneut zum Infektionsschutzgesetz und dessen harten Maßnahmen greifen dürfen – und wann nicht. Sie dürfen nicht zur Regel werden bei jeder Epidemie.
WELT: Die Regierung rechtfertigt die Eingriffe ausdauernd mit der Sorge vor einer Überlastung des Gesundheitssystems. Überzeugt sie das?
Kirchhof: Der Schutz des Gesundheitssystems kann nur ein Hilfsziel für den Schutz von Leben und Gesundheit in extremer Not sein. Allein um staatliche Therapieeinrichtungen nicht zu überlasten, dürfen die Grundrechte des Bürgers nicht beschränkt werden. Da muss der Staat dann schlicht mehr Einrichtungen schaffen.
WELT: Müsste der Staat mehr auf Eigenverantwortung seiner Bürger setzen, zumal wenn jetzt ausreichend Tests zur Verfügung stehen?
Kirchhof: Der Staat hat eine Schutzpflicht, gegen ein Virus vorzugehen, das bedrohlich ist und das tödlich sein kann. Die Lage ist zweifellos ernst, wie die Bundeskanzlerin sagt. Aber man kann eine Gesellschaft, man kann eine Wirtschaft, man kann persönliche Beziehungen auch zu Tode schützen.
Mein Beispiel dafür ist immer der Straßenverkehr. Dort gibt es jedes Jahr Verletzte und Tote. Nun könnten wir entscheiden: Das dulden wir nicht, wir unterbinden den Straßenverkehr mit Autos, Fußgängern, Radfahrern. Damit haben wir Gesellschaft, Wirtschaft und Personen effektiv geschützt – aber eben zu Tode geschützt.
Das lässt sich auf die Pandemie übertragen. Wir sind noch nicht in diesem Bereich. Aber je länger die Maßnahmen andauern, desto verfassungsrechtlich drängender wird es, diese durch sie verursachten schweren Schäden mit in den Blick zu nehmen.
WELT: Die schärfsten Vorschläge in dieser Pandemie kommen regelmäßig aus dem Kanzleramt. Gibt es dort keine Verfassungsjuristen – oder werden sie nicht gehört?
Kirchhof: Doch, die gibt es wohl. Aber neben den Verfassungsjuristen gibt es eben auch die Virologen. Beide vertreten unterschiedliche Ansichten, und dann muss die Politik mit ihrem demokratischen Mandat entscheiden, was man letztlich tut. Sie hat dabei eine sogenannte Einschätzungsprärogative (Gestaltungsspielraum; d. Red.).
WELT: Angela Merkel hat am Sonntag bei „Anne Will“ angedeutet, dass der Bund tätig werden könnte, wenn die Länder die aus ihrer Sicht nötigen Maßnahmen nicht ausreichend ergreifen sollten. Könnte der Bund durchregieren, wenn er wollte?
Kirchhof: Durchregieren, das ist ein schwieriges Wort. Nach der Konzeption unseres Grundgesetzes macht der Bund die Gesetze, und die Länder setzen sie um. Der Bund könnte das Infektionsschutzgesetz ändern oder ein weiteres Gesetz beschließen. Dafür hätte er die Gesetzgebungskompetenz nach Artikel 74 I Nummer 19 Grundgesetz. Er könnte die Länder damit zu strikten Maßnahmen verpflichten.
Das würde dann allerdings auch im Bundesrat diskutiert werden müssen, sodass die Landesregierungen wieder partiell mitwirken würden. Aber der Bund kann nicht durchregieren in dem Sinne, dass er seine Gesetze dann selber durch eigene Behörden durchsetzt.
WELT: Darin würde ja auch eine gewisse Geringschätzung regional unterschiedlicher Lösungen liegen. Wie funktioniert der Föderalismus in dieser Pandemie?
Kirchhof: Ich meine, dass er ausgezeichnet funktioniert, obwohl man in der Öffentlichkeit oft das Gegenteil hört. Ich meine auch, dass die kommunale Selbstverwaltung nach Artikel 28 II Grundgesetz hervorragend funktioniert. Diese Kompetenzverteilung der Verfassung schont auch die Grundrechte. Denn am Ende wissen die 16 Länder und über 400 Landkreise sowie Städte doch am besten über die Lage vor Ort Bescheid. Kommt eine hohe Inzidenzzahl nur aus einer Pflegeeinrichtung oder aus einer Fabrik? Oder grassiert das Virus wirklich flächendeckend? Das kann man nicht über einen Kamm scheren und mit bundesweit identischen Maßnahmen bekämpfen.
WELT: Sie hatten über viele Jahre Ihren Lehrstuhl an der Universität Tübingen. Das ist ja eine Stadt, die sehr eigene Wege zu gehen versucht. Wie funktioniert das nach Ihrer Wahrnehmung?
Kirchhof: Ich bin kein Virologe oder Mediziner. Als politischer Mensch aber meine ich, dass das ein sehr erfreulicher Versuch ist, mit kreativen Ideen und geringsten Beschränkungen für die Bürger eine Bekämpfung des Virus zu erreichen. Kurz gesagt: Ich drücke Frau Federle, Herrn Palmer und dem Landrat Walter ganz fest beide Daumen.
WELT: Wie beurteilen Sie verfassungsrechtlich die überragende Bedeutung der Inzidenzwerte in dieser Krise?
Kirchhof: Diese Inzidenzwerte waren in der ersten Not des Corona-Schocks sicher eine taugliche Methode. Je länger die Pandemie andauert, desto mehr wird man sich fragen müssen, ob sie wirklich der einzige Faktor sind, der über die Maßnahmen bestimmen darf. Sie sind ein grober Maßstab, der aber längst nicht das ganze Grundrechtsgefüge erfasst, das wir beachten müssen.
Ich halte es mittlerweile für verfassungsrechtlich dringend angezeigt, dass wir noch andere Parameter berücksichtigen. Wenn ein Kreis eine Inzidenz von 250 hat, und die Infizierten spüren keine Symptome oder nur die einer leichten Grippe, dann ist mir die Inzidenz ziemlich egal. Wenn ein Kreis die Inzidenz von 30 hat, und das führt zu 25 Todesfällen, dann brennt es. Und das muss man auch gesetzlich abbilden.
WELT: Sie sprechen gern von den Trittbrettfahrern der Corona-Pandemie. Wen meinen Sie damit?
Kirchhof: Es ärgert mich, dass Politiker diese Krise nutzen, um andere Anliegen unter dem Deckmantel Corona durchzusetzen. Ich nenne sie Trittbrettfahrer. So wird die Kreditbremse in einem Maße gelockert, wie es nicht nötig wäre. Der Bundesrechnungshof hat zu Recht kritisiert, dass die Kreditaufnahme deutlich überhöht ist. Auch werden Hilfsfonds in Größenordnungen geschaffen, die man nicht benötigt. Das ist finanz- wie staatsrechtlich höchst problematisch.
WELT: Es gibt die politische Forderung, die Schuldenbremse gänzlich abzuschaffen. Wäre das klug?
Kirchhof: Nein. Dass man für Corona jetzt finanziell etwas tun muss: Ja, klar. Aber doch bitte nur als strenge Ausnahme, um danach sofort wieder zum Regime der Artikel 109 und 115 Grundgesetz zurückzukehren. Ich kann nur davor warnen, die Kreditbremse abzuschaffen. Wir haben sie vor gut zehn Jahren wegen der Erkenntnis eingeführt, dass ein Staat nicht auf Pump leben darf. Dann leistet er gegenüber seinen Bürgern mehr, als er von ihnen an Finanzen fordert – und kommende Generationen müssen das begleichen.
Außerdem gilt: Ein Staat, der sich verschuldet, regelt den Banken- und Finanzsektor nicht mehr als unparteiischer Akteur, sondern ist Interessent. Er will Negativzinsen, er will Nullzinsen. Er ist auch einer Inflation gegenüber offener, weil er daran bei der Rückzahlung des geliehenen Kapitals verdient. Deshalb beruht die Kreditbremse auch heute auf vernünftigen Gründen.
WELT: Das Bundesverfassungsgericht hat vorige Woche angeordnet, dass der Bundespräsident das deutsche Zustimmungsgesetz zum 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds der EU vorerst nicht ausfertigen darf. Wie interpretieren Sie diesen Hängebeschluss?
Kirchhof: Das ist ein gängiges Verfahren bei jedem Zustimmungsgesetz zu internationalen Verträgen. Das Bundesverfassungsgericht will die Sache überprüfen, ehe der Bund seine Stimme endgültig abgegeben hat und die EU das Geld fließen lassen kann. Neu ist allein, dass die Aufforderung durch Beschluss des Zweiten Senats ergangen ist. Üblich ist eine informelle Absprache per Telefon.
WELT: Wie erklären Sie sich, dass man es jetzt so offiziell macht?
Kirchhof: Da kann ich nur spekulieren. Mit einem Beschluss ist für jedermann – auch im Ausland – klar dokumentiert, dass der Aufschub auf einer Anordnung des Gerichts beruht.
WELT: Die Kläger in Karlsruhe fürchten, der Wiederaufbaufonds sei der erste Schritt in eine Schuldenunion – und nicht nur eine Ausnahme. Wie sehen Sie das?
Kirchhof: Diese Diskussion ist breit im Gange, auch in der Bundesregierung. Ja, es wird jetzt deklariert als Ausnahme. Aber man muss auch sehen: Die EU hat schon öfter die Taktik verfolgt, etwas Exzeptionelles zu kreieren und zu sagen: Das machen wir nur einmal. Und danach wurde es dann zur steten Praxis. Und da etliche Mitgliedstaaten offen für eine Haushalts-, Kredit- und Finanzunion plädieren, ist es nicht völlig fernliegend zu sagen: Das ist der erste Schritt in diese Richtung.
WELT: National übt sich das Bundesverfassungsgericht in der Corona-Krise dagegen in Zurückhaltung und verweist bei Verfassungsbeschwerden auf den Rechtsweg. Dabei hätte es die Möglichkeit, auf die grundsätzliche Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zu verzichten. Warum tut es das nicht?
Kirchhof: Das hat das Gericht zu entscheiden. Ich habe als ausgeschiedener Richter da keine Ratschläge zu erteilen. Grundsätzlich gilt: Es geht in dieser Pandemie bislang um Rechtsverordnungen der Länder. Und für die gibt es ein gerichtliches Schutzsystem in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da die Sachverhalte je nach Region unterschiedlich ausfallen, scheint es mir ganz weise zu sagen: Lasst die Verwaltungsgerichtsbarkeit entscheiden.
Ich bin sicher, Karlsruhe wird sich des Themas irgendwann annehmen und auch mit Blick auf künftige Pandemien einige grundsätzliche Leitsätze dazu formulieren – und zwar so, wie wir das vom Bundesverfassungsgericht gewohnt sind: erst solide ausdiskutiert, dann klar entschieden.
Ex-Verfassungsrichter di Fabio meint zu Corona & Wissenschaft
*Weil das Interview außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren.
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Der kleine Armin ist sicher ein nettes Kerlchen, aber leider völlig überfordert:
https://twitter.com/WDRaktuell/status/1379075256682483712
Merkel & Co. spielen mit dem „mächtigen“ CDU-Vorsitzenden und NRW-Ministerpräsidenten nach Belieben Katz und Maus …
Und was hat sich ein fachfremder Intensivmediziner einzumischen?
https://twitter.com/WDRaktuell/status/1379104847727890433
Kein Wunder, daß dann auch Recht und Gesetz auf der Strecke bleiben!