Staatsrechtler Udo Di Fabio …
… sieht die Wissenschaft auf ihre Rolle in der Krise und das politische Machtspiel schlecht vorbereitet. Er kritisiert eine Gewöhnung an weitreichende Eingriffe der Exekutive in den Alltag. Die „No Covid“-Strategie hält er für grundrechtswidrig.
MehrWELT: Ob in der Covid-19-Pandemie oder in der Klimapolitik: In der gesellschaftlichen Debatte ist seit geraumer Zeit der Ruf „Folgt der Wissenschaft“ zu hören. Als in Forschung und Lehre aktiver Hochschulprofessor: Erfreut Sie dieser Trend, Herr Di Fabio?
Udo Di Fabio: Na ja, da habe ich zwei Seelen in meiner Brust. Zum einen nehme ich zur Kenntnis, dass in einer fragmentierten Öffentlichkeit wissenschaftlich belegte Tatsachen teilweise mit Fake News angezweifelt werden. Dagegen gerichtet, ist die Wertschätzung von Wissenschaft ein wichtiges Signal. Andererseits ist „Gefolgschaft“ nicht das Kennzeichen des kritischen Geistes.
Interessanterweise kam die Diskussion, dass man dem technokratischen Expertenwissen folgen müsse, in der Vergangenheit aus dem konservativen Lager. Es hieß: Die Demokratie könne im Parlament gar nicht groß entscheiden, es gebe eine Mechanik der Sachzwänge, der man als wissenschaftliche Zivilisation einfach folgen müsse. Diese Ansicht habe ich nie geteilt.
Natürlich gibt es einen feststehenden Forschungs- und Wissensstand, den kein vernünftiger Mensch in Abrede stellen wird. Aber in der Wissenschaft herrscht die Regel des für immer offenen Diskurses der Wahrheitssuche, in dem wir mit Irrtümern leben und sie sogar als produktiv begreifen. Deshalb ist es vernünftig, der Wissenschaft Gehör zu schenken – aber zugleich nicht die eine Wahrheit wie eine Offenbarung zu erwarten, sondern Erkenntnisse kritisch zu gewichten.
WELT: Stellt Wissenschaft unbezweifelbares Wissen bereit, aus dem sich eindeutig ergibt, was politisch zu tun ist?
Di Fabio: In aller Regel jedenfalls nicht so, wie sich das Politik, Wirtschaft oder das Recht wünschen. Das weiß jede Richterin, die sich im Rahmen einer Beweisfrage eine klare wissenschaftliche Aussage wünscht – aber häufig nicht bekommt. Weil seriöse Wissenschaft eben auch ihre Zweifel mitteilen und sagen muss, was sie nicht weiß.
WELT: Wissenschaft kann die Welt beschreiben, Prognosen über Entwicklungen treffen. Aber kann sie auch sagen, ob man die Welt verändern soll?
Di Fabio: Das ist eine alte philosophische Frage. Karl Marx hat gesagt, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert. Es gelte aber, sie zu verändern. Ich würde sagen, die Wissenschaft ist keine Veranstaltung von politischen Aktivisten. Wäre sie das, gäbe sie ihre Standards auf. Max Weber, der große deutsche Soziologe, hat sehr klug unterschieden, wie Wissenschaftler eigentlich agieren. Naturwissenschaft kann uns sagen, wie wir die Natur beherrschen können, aber nicht, ob wir sie beherrschen sollen.
Wenn Wissenschaft in die Sinnfragen einer Gesellschaft eingreift, schwindet ihre Autorität. Wer im öffentlichen Raum redet, wird zu einem Teil des öffentlichen Diskurses. Und dort ist niemand unangreifbar oder gar sakrosankt.
WELT: Das Handeln der Bundesregierung wird in der Corona-Krise maßgeblich vom Rat der Virologen bestimmt. Werden andere Disziplinen ausreichend gehört?
Di Fabio: Wer politische Entscheidungen trifft, sollte auf pluralen Rat setzen, um ein möglichst breites Meinungsbild zu bekommen. Also in den Fachdisziplinen verschiedene Stimmen hören, der Virologen zum Beispiel. Aber er ist auch gut beraten, verschiedene Disziplinen zu hören: die klinische Praxis, Psychologen, Juristen, Soziologen oder Ökonomen. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen: Je pluraler so ein Gremium ist, desto weniger kann die Politik sich noch einen klaren, schnellen Rat erhoffen. Weil wir dann einen vielstimmigen Chor haben – meist ohne Dirigenten.
WELT: Ist interdisziplinäres Denken in der Wissenschaft selbst verbreitet genug, oder arbeitet jede Disziplin in ihrem Elfenbeinturm?
Di Fabio: Seit Jahrzehnten ist zu hören: Wir brauchen mehr interdisziplinäres Denken, weil jede Wissenschaft, Geistes- oder Naturwissenschaft, immer spezieller arbeitet und immer spezieller arbeiten muss, um die nötige Analysetiefe zu gewinnen. Deshalb braucht man eine Wiederbelebung der Idee der Universitas, also der Zusammenführung der verschiedenen Disziplinen. Das braucht neue Plattformen, auf denen das geschieht.
WELT: Leistet die Leopoldina das?
Di Fabio: Die große Tradition der wissenschaftlichen Akademien, die mit der Aufklärung aus Frankreich nach Deutschland kam, ist heute nicht mehr ganz so wirkmächtig. Anders als im Zentralstaat Frankreich sind die Akademien in Deutschland regionalisiert, und die nationale Leopoldina ist nur eine unter mehreren. Aber Akademien sind nicht Lieferanten von politisch abrufbaren Konzepten in einer Wissenskrise. Politik will die schnelle Empfehlung, Wissenschaft arbeitet zeitaufwendiger und unterliegt Abstimmungsnotwendigkeiten. Das sind zwei Systemrationalitäten.
Hier liegt ein Problem von Botschaften wie „Folgt der Wissenschaft“: Sie hat einen vernünftigen Kern, aber suggeriert eine Einfachheit der wissenschaftlichen Aussagen, die in vielen Fällen nicht gegeben ist.
WELT: Nach Ihrer Erfahrung: Sucht Politik Erkenntnisgewinn – oder eher die Legitimierung bereits gefasster Entschlüsse?
Di Fabio: Politik ist ein Spiel um Macht. Anderes zu glauben wäre naiv. Dass ein Politiker oder eine Politikerin sich im Stil eines Philosophenkönigs von allen Seiten beraten lässt: Das entspricht nicht den Gesetzmäßigkeiten des politischen Prozesses. Die Verwertungsabsicht für eine politisch vorgefasste Meinung muss man als Wissenschaftler jedenfalls einkalkulieren. Aber es gibt auch Situationen wie die Corona-Pandemie, da ist die Politik buchstäblich ratlos, und den Ratgebern wächst plötzlich eine Rolle zu, auf die sie gar nicht vorbereitet waren.
WELT: Wenn Sie jetzt sich die Politik seit einem Jahr anschauen in dieser Pandemie: Wird die Rechtswissenschaft ausreichend berücksichtigt?
Di Fabio: Anders als andere Wissenschaften sind Juristen über Gerichte gewissermaßen im Staatsapparat „vertreten“, sie können sich Gehör verschaffen. Soeben hat der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass nächtliche Ausgangssperren unzulässig sind. Bestätigende oder eingreifende Gerichtsentscheidungen sind in diesem ganzen Corona-Jahr ergangen, der Rechtsstaat arbeitet.
Der Eindruck, der manchmal erweckt wird, alle Juristen seien auf Tauchstation gegangen, ist so nicht richtig. Wer die staatlichen Maßnahmen angesichts der epidemischen Lage im Land im Großen und Ganzen für gerechtfertigt hält – ich gehöre dazu –, für den gibt es keinen Anlass, eine öffentliche Plattform zu suchen, um anzuklagen.
WELT: Hat sich durch die Verlängerung des Lockdowns in dieser Woche an Ihrer Sichtweise etwas geändert?
Di Fabio: Die Situation ist auch verfassungsrechtlich nicht ganz einfach zu beurteilen, weil es um Entscheidungen unter Ungewissheit geht. Nun kann man einwenden: Das hören wir seit einem Jahr! Aber das Virus verändert sich leider. Wir wissen nicht genau, welche Mutationen morgen vorherrschend werden. Wir wissen nicht genau, wie Impfstoffe auf neue Mutationen reagieren. Und wir wissen auch noch nichts Verlässliches über Langzeitfolgen, wie auch? Politik fährt deshalb auf Sicht.
Verfassungsrechtlich ist es wichtig, dabei immer im Auge zu behalten, ob eine Maßnahme noch verhältnismäßig ist. Die generelle Leitlinie ist: Die Grundrechte beschränken den Staat. Er muss, wenn er in diese Rechte eingreift, eine tragfähige Begründung dafür haben. Und die muss in der Abwägung „Gesundheitsschutz versus Freiheitsrechte“ überzeugend sein – jederzeit. Wir sind in einem lernenden, einem iterativen Prozess. Es kann leider bei dieser Pandemie nicht anders sein.
WELT: Nun werben Virologen, die die Bundesregierung beraten, für eine „No Covid“-Strategie. Danach soll der Lockdown bis zu einem Absinken der Infektionszahlen auf null durchgehalten werden. Nur so seien ständige Wellenbewegungen des Virus zu vermeiden.
Di Fabio: Ob man ein derart aktives Infektionsgeschehen ohne ausreichendes Niveau an Immunität aus der Welt schaffen kann, weiß ich nicht. Aus Sicht des Verfassungsrechtlers kann ich dazu sagen: Das wäre jedenfalls ein pandemisches Experiment, das von den Grundrechten so nicht mehr getragen wird. Eine Strategie der fortgesetzten intensiven Grundrechtseingriffe bei einer Inzidenz von weit unter 50 ist nicht leicht zu rechtfertigen, allenfalls durch belegbar gefährlichere Mutationen. Das würden die Gerichte nicht ohne Weiteres mitmachen.
Natürlich hat die Rechtsprechung das Problem, dass sie mit dem Aussetzen von Maßnahmen dem Bild der Stotterbremse neue Farben gibt: Wenn die Zahlen wieder hochgehen sollten, kann eine erneute Verschärfung des Lockdowns angezeigt sein.
WELT: Würden Sie sich mehr Mitsprache der Parlamente wünschen?
Di Fabio: Krisenlagen wie die Corona-Pandemie sind immer die Stunde der Exekutive. Es muss schnell und koordiniert gehandelt werden. Problematisch ist es, wenn aus der Stunde ein Jahr wird, weil sich dann möglicherweise in einer subkutanen Weise die Proportionen verschieben.
Es tritt eine Gewöhnung ein, dass die Exekutive weitreichend in unseren Alltag eingreift. Man wartet auf das Wort aus dem Kanzleramt – das ist etwas, was dem liberalen Demokraten nicht gefällt. Aber verfassungsrechtlich mit harten Maßstäben gemessen, muss man sagen: Die Parlamente sind nicht außen vor. Sie haben jederzeit das Recht, in die Debatte einzugreifen. Parlamente sind für die Gesetzgebung gemacht, und die gesetzliche Grundlage in der Pandemie, das Infektionsschutzgesetz, wurde konkretisiert und gilt.
WELT: Bedarf nicht wenigstens die Reihenfolge, in der die Bürger Zugang zum Impfstoff erhalten, eines durch den Bundestag beschlossenen Gesetzes?
Di Fabio: Meiner Auffassung nach ja. Wer wann geimpft wird, diese Frage kann Auswirkungen auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben. Damit ist der Zugang zu einem knappen Impfstoff eine grundrechtswesentliche Verteilungsfrage. Und die ist nach unserer verfassungsrechtlichen Vorstellung dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Die Rechtsverordnung der Regierung braucht eine gesetzliche Grundlage.
Ich erwarte insofern eine baldige Ergänzung des Bundesinfektionsschutzgesetzes und hoffe zudem auf einen effektiveren Verwaltungsvollzug. Ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage sind die Impfmaßnahmen gerichtlich anfechtbar. Warum sollte man das riskieren?
WELT: Der Gesundheitsminister will nun in allgemeiner Form fünf Impfziele ins Infektionsschutzgesetz schreiben. Reicht das?
Di Fabio: Vermutlich ja, denn es geht ja nur um die Grundsätze, die aus dem Gesetz hervorgehen müssen.
WELT: Wenn dann jemand geimpft ist und wissenschaftlich feststeht, dass Geimpfte das Virus nicht übertragen können, sind dann Einschränkungen der Grundrechte noch gerechtfertigt?
Di Fabio: Noch ist die Frage hypothetisch, weil wir genau das nicht wissen. Wenn aber feststünde, dass das Virus bei bestimmten Immunitätsformen nicht auf andere übertragen werden kann, ist meiner Ansicht nach weder verfassungsrechtlich noch ethisch zu rechtfertigen, demjenigen, der kein Störer sein kann, noch einen Grundrechtseingriff zuzumuten**. Die Auffassung, man müsse solidarisch sein, weil ja nicht für alle der Impfstoff da ist, überzeugt mich nicht. …
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**Lesen Sie hierzu den Essay: Impfung – Infektiosität – Symptomlos
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… WELT: Die Pandemie hat viele Gewissheiten über individuelle Freiheiten, auch über globale Vernetzung ins Wanken gebracht. Wird das so weitergehen? Es gibt ja schon erste Politiker und Aktivisten, die Lehren für die Bekämpfung des Klimawandels ziehen wollen.
Di Fabio: Verfassungsrechtlich ist der Lockdown eine unmittelbare Reaktion auf ein akut bedrohliches Infektionsgeschehen mit möglicherweise katastrophalen Folgen. Es handelt sich also um eine sachliche Ausnahmelage, die man nicht übertragen kann auf langfristige Strategien zur Begrenzung der globalen Klimaerwärmung.
Der lange Lockdown und die starke Rolle des Staates, das mag für manche wie die Blaupause zur vollständigen politischen Steuerung der Gesellschaft scheinen. Doch würde die pandemische Ausnahme als neue Regel auf andere Themen übertragen werden, so wäre die Deformation der freien Gesellschaft die Folge.
Natürlich ist es verständlich, wenn gefordert wird, dass die Menschen sich nach Abklingen der Krise nicht sofort wieder ins Flugzeug setzen und vier Mal um den Globus fliegen. Aber ob der Staat im Lockdown-Stil entsprechende Verbote aussprechen und die Mobilität herunterregulieren dürfte, das bezweifle ich.
Wir sollten auch nicht anfangen, aus einer Pandemie die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die ganze Globalisierung ein Irrweg war, und von naturalistischen Idyllen träumen. So wird die Weltgesellschaft nicht funktionieren. Es gilt vielmehr, über innovatives Wachstum nachzudenken, das sehr akzentuiert Ziele des Klimaschutzes berücksichtigt.
WELT: Nicht nur in Deutschland ist der Staat massiv kompensatorisch und konjunkturstützend eingestiegen, um das wirtschaftliche System zu stabilisieren. Sie warnen vor einem „Neo-Etatismus“, der was meint?
Di Fabio: Ich glaube, dass die politische Kultur Moden ausgesetzt ist, wie überall im menschlichen Sozialleben. Wir kannten mal eine Zeit, wenn Sie an Bundeskanzler Schröder und seine Agenda-Politik denken oder an die Chicago Boys in den USA, die wurde später als neoliberal bezeichnet. Das war ein Pendelausschlag, wo beinah alles wirtschaftlich rationalisiert werden sollte nach dem Motto: „Die Vernunft des Marktes ist unser aller Lehrmeister.“
Ich habe den Eindruck, dass das Pendel jetzt in die andere Richtung schlägt, nämlich hin zum Staat. Ich wäre ein schlechter Staatsrechtler, würde ich dessen bedeutende Rolle nicht anerkennen. Aber es ist eine Rolle als ordnungspolitischer Garant für eine sozial ausgleichende Friedensordnung und als jemand, der eine chancengerechte Infrastruktur schuldet. Was der Staat nicht gut kann, ist als Unternehmer tätig zu werden und wirtschaftliche, privatautonome Entscheidungen zu ersetzen.
Wenn Investitionsentscheidungen, Energiepreise, technische Mobilitätskonzepte, Ernährungsgewohnheiten und Sozialverhalten vom Staat politisch verordnet werden, dann wären wir vom Neoliberalismus nach zwei Jahrzehnten in eine Phase des Neo-Etatismus gelangt. Wir brauchen keine Neuauflage des alten Merkantilismus, das waren die Konzepte von absolutistisch regierenden Fürsten. Was wir brauchen, ist eine lebendige soziale, ökologisch erneuerte Marktwirtschaft und das Vertrauen in die Überlegenheit offener Demokratien.
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*Weil das Interview außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren.
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Frau Merkel folgt immer der Wissenschaft, ja, Frau Merkel ist die Wissenschaft. Und wenn Frau Merkel sagt: 1+1=3. Dann ist das auch so, deutscher Michel!
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