Nein, es ist echte Volksverarsche:
Ein Berliner Forschungsinstitut hat berechnet, …
… dass die täglich veröffentlichten Covid-Sterbezahlen im Durchschnitt über drei Wochen alt sind. Das wirft grundlegende Fragen zum aktuellen Pandemie-Management auf – und zu den geplanten Lockdown-Verschärfungen.
Der Mediziner und Soziologe Bertram Häussler ist Leiter des unabhängigen Gesundheitsforschungsinstituts IGES in Berlin. Sein Team erstellt seit August 2020 den sogenannten Pandemie-Monitor, der wissenschaftliche Analysen rund um das Infektionsgeschehen mit Covid-19 liefert.
MehrWELT: Herr Häussler, für wie aussagekräftig halten Sie die täglich vom Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlichte Zahl der Covid-Todesfälle?
Bertram Häussler: Für kaum aussagekräftig. Die Zahlen, die das RKI jeden Morgen veröffentlicht, sind im Durchschnitt über drei Wochen alt. Die reflektieren nicht den gestrigen Tag, wie es oft über die Medien kommuniziert wird, sondern die vergangenen Wochen.
Das RKI selbst erweckt zwar nicht diesen Eindruck – die Behörde müsste aber angesichts der massenweisen falschen Rezeption schon längst gesagt haben: Stopp, diese Zahlen können so nicht interpretiert werden.
WELT: Können Sie das anhand eines Beispiels konkret machen?
Häussler: Am 15. Januar hat das RKI gemeldet, dass 1113 neue Todesfälle übermittelt worden seien. Wir am Institut sind nicht nur in der Lage zurückzuverfolgen, wann diese Sterbefälle ans RKI übermittelt wurden, sondern auch, wann sie eingetreten sind, also den tatsächlichen Zeitpunkt des Todes. Dafür vergleichen wir zwei öffentlich einsehbare Datenbanken des RKI. Dort ist dann zu sehen, dass am 14. Januar gerade mal 20 Menschen von den am 15. Januar gemeldeten 1113 Personen verstorben sind.
Jeder zweite Todesfall hat sich vor dem 27. Dezember ereignet, im Durchschnitt 3,2 Wochen früher. In diversen Zeitungen ist aber zu lesen, diese Menschen seien in den letzten 24 Stunden verstorben.
Für Politiker wie etwa Markus Söder (CSU) ist der Verweis auf hohe Todeszahlen die stärkste Begründung für harte Maßnahmen. Das macht den Menschen Angst.
WELT: Wie kommt es denn zu diesem offenbar enormen Meldeverzug? Bei den Infektionszahlen kommt die Meldung mal drei Tage zu spät – und nicht drei Wochen.
Häussler: Richtig, bei den Neuinfektionen erfolgt die Meldung seitens der Ärzte und Labore direkt ans Gesundheitsamt. Daraus ergeben sich keine nennenswerten Zeitverzüge. Bei den Sterbezahlen ist es allerdings anders. Das liegt auch an den Ärzten im Krankenhaus, die nach einem Todesfall keinen Meldebogen des RKI gemäß Infektionsschutzgesetz ausfüllen, obwohl sie dazu eigentlich gesetzlich verpflichtet sind.
Viele Kliniken sind am Limit, da geht das offenbar unter. Füllen Ärzte dann nur die Todesbescheinigung aus, die dann wiederum an das Standesamt weitergeleitet wird und von dort ans Gesundheitsamt, dauert das ein paar Tage. Danach kommt dann auf die Mitarbeiter im Gesundheitsamt aber erst das größte Problem zu.
„Wir sind nicht über den Berg, aber die Richtung stimmt“
Ärzte und Pfleger kämpfen auf deutschen Intensivstationen um das Leben von Corona-Patienten. Eine seit Monaten enorme physische und psychische Belastung. Intensivmediziner blicken aber langsam mit vorsichtigem Optimismus auf die Entwicklung der Patientenzahlen.
WELT: Nämlich?
Häussler: Sie müssen den Todesfall einem Verdachtsfall zuordnen, den ein Arzt gemeldet hat, sowie einem positiven Befund, den ein Labor gemeldet hat. Erst wenn beides vorliegt, kann die verstorbene Person nach dem Infektionsschutzgesetz als Covid-Toter an das RKI übermittelt werden. Diese Zuordnung ist aufwendig und erfordert Zeit, die das Gesundheitsamt nicht hat.
Die Mitarbeiter müssen vor allem Kontakte von Infizierten nachverfolgen, die schließlich ein Risiko für ihre Umgebung darstellen. Da sind bereits Verstorbene wohl nicht die erste Priorität.
WELT: Gibt es Regionen in Deutschland, in denen die Diskrepanz zwischen Todeszeitpunkt und Meldedatum besonders groß ist?
Häussler: Ja. Am schlechtesten schneidet Hamburg ab, zumindest in unserer Analyse vom Dezember. Von den Todesfällen, die sich dort am 15. Dezember ereigneten, sind dem RKI bis zum 31. Dezember lediglich 29 Prozent übermittelt worden. Danach folgt Sachsen-Anhalt mit 50 Prozent und Berlin mit 53 Prozent.
Am besten hingegen funktioniert das Meldesystem in Bremen: Dort wurden alle Todesfälle vom 15. Dezember noch am gleichen Tag gemeldet. Auch relativ tolerabel schneidet Hessen mit 81 Prozent ab. Worauf diese Unterschiede bei den Bundesländern zurückzuführen sind, wissen wir nicht genau. Das Problem bleibt aber: Die vom RKI veröffentlichten Sterbezahlen sagen nichts über die Gegenwart aus.
Wir müssen nun also dringend die Kliniken auffordern, jeden Covid-Todesfall im Meldeformular über das Infektionsschutzgesetz zu melden und die Gesundheitsämter damit zu entlasten. Außerdem muss das RKI auf seinen Internetseiten mit Großbuchstaben darauf hinweisen, dass sich die veröffentlichten Sterbezahlen weit in der Vergangenheit abgespielt haben. Eine Mehrheit der Entscheidungsträger geht immer noch davon aus, dass die Sterbezahlen die vergangenen 24 Stunden darstellen.
WELT: Die Sterbezahlen gelten in der öffentlichen Wahrnehmung auch mit als Grund dafür, dass der Lockdown weiter verschärft werden soll.
Häussler: Ja, die Zahl der Verstorbenen ist in der politischen Diskussion entscheidend. Sie wird vielfach als Beleg dafür gewertet, dass die bisherigen Lockdowns zu wenig gebracht haben. Dabei sagt die aktuelle Zahl der Verstorbenen lediglich etwas über die Situation aus, die wir zu Beginn der Feiertage im Dezember hatten. Diese Zahlen als Entscheidungsgrundlage zu nehmen ist unhaltbar.
WELT: Ist ein verschärfter Lockdown Ihrer Ansicht nach also nicht nötig?
Häussler: Nein. Uns droht ein Mega-Lockdown auf Basis unbrauchbarer Zahlen. Außerdem ist bereits erkennbar, dass der bestehende Lockdown wirkt. Die Zahl der Intensivpatienten sinkt laufend seit dem 4. Januar. Dies ist auf den Rückgang der Neuinfektionen seit dem 26. Dezember zurückzuführen, der wiederum eine Folge des dritten Lockdowns ist, der seit dem 15. Dezember gilt.
Denn dazwischen waren genau zehn Tage – also die Zeit, die ein Lockdown meist braucht, um Wirkung zu zeigen. Es passt also alles exakt zusammen. Dieser Rückgang der Intensivpatienten ist ein sicheres Zeichen, dass wir seit dem 4. Januar auch weniger Todesfälle haben, obwohl das im Moment nicht in den veröffentlichten Zahlen zu sehen ist.
WELT: Spielt die Virus-Mutation nicht auch eine Rolle?
Häussler: Die Mutation ist eine berechtigte Bedrohung. Wir sollten dringend bei lokalen Ausbrüchen hohe Sequenzierungen vornehmen, um herauszufinden, ob die dortigen hohen Infektionszahlen auf die Mutation zurückzuführen sind – oder auf das „klassische Virus“, das wir im Moment weitgehend im Griff haben.
Also, mein Vorschlag: Viel mehr sequenzieren und die Sterbezahlen pünktlich melden, anstatt auf Basis schwacher Daten den Mega-Lockdown auszurufen.
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