__________________________________
2 wegweisende Interviews mit Prof. Schrappe ganz unten
________________________________________
Thesenpapier 6.1
Die wichtigsten Botschaften auf einen Blick
Mehr1. Dunkelziffer deutlich größer als bekannte Melderate: Einfache zeigen, dass die „Dunkelziffer“ der Infektion in der nicht-getesteten Population um ein vielfaches über der Zahl der bekannten, neu gemeldeten Infektionen (Melderate) liegt. Legt man die Prävalenz von 1% aus der Gesamterfassung der Bevölkerung der Slowakei zugrunde, erhält man für Deutschland gegenüber 130.000 bekannten Meldungen in einer Woche weitere 815.000 Infektionen in der nicht-getesteten Bevölkerung. Den Richt- und Grenzwerten, die lediglich auf den Meldungen der Infektionen nach Testungen beruhen, kann in der Konsequenz damit keine tragende Bedeutung zugemessen werden, da sie nicht zuverlässig zu bestimmen sind.
2. Seroprävalenzstudien (Antikörper) zeigen Dunkelziffer zwischen Faktor 2 und 6: Die vorliegenden Seroprävalenzstudien sind sehr früh in der Epidemie, meist im unmittelbaren Zusammenhang mit der sog. 1. Welle, durchgeführt worden. Die kumulative Perspektive der Antikörperbestimmungen weist auf eine Dunkelziffer zwischen Faktor 2 und Faktor 6 im Vergleich zu den kumulativen Befunden aus der PCR-Diagnostik. Aus Madrid sind erste Daten veröffentlicht, die über 50% liegen und eine teilweise Bevölkerung bedeuten könnten.
3. Die derzeit verwendeten Grenzwerte ergeben ein falsches Bild und können nicht zu Zwecken der Steuerung und für politische Entscheidungen dienen: Kennzahlen und Grenzwerte, die zur Steuerung verwendet werden, müssen nach den Erkenntnissen moderner Organisationstheorie und Systemsteuerung reliabel (zuverlässig), valide, transparent entwickelt und verständlich sowie für die Betroffenen umsetzbar (erreichbar) sein. Bei den derzeitig verwendeten Grenzwerten, die auch in der Novelle des Infektionsschutzgesetzes aufgenommen wurden (z.B. „35 Fälle/100.000 Einwohner“), fehlt in erster Linie die Zuverlässigkeit der Messung, da sie nicht von der Dunkelziffer abgrenzbar sind (s.o.). Nicht reliable Grenzwerte können jedoch auch nicht valide sein, d.h. sie können nicht sinnvoll angewendet werden, weil sie nicht das messen, was sie messen sollen. Weiterhin sind die Zielvorgaben („wir müssen wieder unter 50/100.000kommen“) unrealistisch und verletzen daher das zentrale Gebot der Erreichbarkeit.
4. Zwei neue Steuerungsinstrumente werden vorgeschlagen, die angesichts
fehlender Kohorten-Studien auf die Melderate zwar nicht verzichten können, diesen fehleranfälligen Wert jedoch durch andere Parameter aussagekräftiger machen. Der neu entwickelte notification index NI beschreibt die Dynamik der Entwicklung auf nationaler oder regionaler Ebene. Er setzt die Melderate (M „x Fälle/100.000 Einwohner“) und die Rate positiver Testbefunde (T+) zur Testhäufigkeit (Tn) und zu einem einfachen Heterogenitätsmarker (H) in Bezug und erlaubt es, den Bias z.B. durch die Testverfügbarkeit oder durch das Auftreten eines einzelnen großen Clusters auszugleichen. Der zweite Index (Hospitalisierungs-Index HI) beschreibt die Belastung des Gesundheitssystems in einer Region und berechnet sich als Produkt von NI und der Hospitalisierungsrate.
5. Die wichtigsten Outcome-Parameter zeigen eine positive Entwicklung: Die Hospitalisierungsrate sinkt bzw. stabilisiert sich trotz steigenden Alters der Infizierten, die Beatmungsrate sinkt seit Beginn der Epidemie, und insbesondere nimmt die Mortalität ab, sowohl bei den Intensivpatienten als auch in den Kollektiven der Mitarbeiter in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Betreuungseinrichtungen. Es ist sicherlich sinnvoll, im Rahmen einer Neuorientierung der Gesamtstrategie hin zu einem zugehenden
Schutzkonzept auch positive Entwicklungen hervorzuheben.
6. Problematischer Befund zur Intensivkapazität: Es ist zu einem deutlichen Anstieg der Intensivpatienten mit CoViD-19 gekommen und somit auch zu einer Abnahme der freien Intensivkapazität. Allerdings ist parallel ein absoluter Abfall der Gesamtintensivkapazität in Deutschland zu beobachten, der einen großen Anteil an der Abnahme der freien Intensivbetten hat. Mit den zur Verfügung stehenden Daten ist dieser Effekt nicht erklärbar, eine Analyse auf politischer Ebene erscheint notwendig.
7. Kohorten-Studien sind weiterhin dringend geboten: Um die in allen bislang veröffentlichten Thesenpapieren beschriebenen Probleme durch die Stichprobenauswahl zu beheben, sind prospektive Kohorten-Studien notwendig und auch heute noch zu initiieren. Sie müssen zufällig ausgewählte Bevölkerungsstichproben umfassen, die regelmäßig (z.B. alle 14 Tage) auf das Neu-Auftreten einer Infektion mit SARS-CoV2/CoViD-19 untersucht werden (longitudinales Design, PCR u/o Antigenteste). Es ist wichtig festzuhalten, dass Querschnittsstudien zur Seroprävalenz (Antikörper) nicht als Kohorten-Studien gelten, da sie retrospektiv ausgerichtet sind (Nachweis überstandener Infektionen). Kohorten-Studien erlauben zentrale Aussagen zur Häufigkeitsentwicklung, zu den Infektionswegen, zur Symptomatik und zu den Risikogruppen. Weiterhin sind Kohorten-Studien unerlässlich, um Impfkampagnen zu planen und zu bewerten.
Zusammenfassung des Thesenpapiers
Ein Strategiewechsel ist unvermeidlich. Die gegenwärtig vorhandenen epidemiologischen Daten zur SARS-CoV-2/CoViD-19-Epidemie aus dem In- und Ausland sprechengegenwärtig nicht mehr für eine Welle, die „gebrochen“ werden kann, sondern eher für ein kontinuierliches Ansteigen der Zahlen. Eine leichte Abflachung bzw. ein vorübergehender Abfall der Zahlen mag beobachtet werde n, nur die Annahme, dass man während des Winters ein „Zurück“ auf Zahlen wie im August erreichen kann, entbehrt jeder Grundlage.
In dieser Situation bedeutet die alleinige Betonung von Kontaktverboten bei fortwährender Missachtung des Schutzauftrages für die verletzlichen Bevölkerungsgruppen nichts anderes als die Gefahr, die Bevölkerung sehenden Auges in eine „kalte Herdenimmunität“ zu führen. Es ist nicht auszuschließen, dass eine weitgehende Durchseuchung der Bevölkerung so rasch eintritt, dass selbst eine Impfung nicht mehr zu einem Trendwechsel beitragen kann.
Aus diesem Grund wiederholt und verstärkt die Autorengruppe ihren Appell, den Grundsatz jeder Prävention, nämlich die Ergänzung allgemeiner Maßnahmen durch Zielgruppen-spezifische Maßnahmen, stärker zu berücksichtigen. Es bedarf hierzu eines zivilgesellschaftlichen Aufbruchs, der den Schutzgedanken in den Mittelpunkt stellt, die gesellschaftliche Innovationskraft fördert und die Bürgerinnen und Bürger nicht zum Adressaten von Aufforderungen zur passiven Kontaktminimierung degradiert. Dieser Aufbruch muss von der politischen Führung des Landes ausgehen. Jede Führung, jede Maßnahme zur Kontrolle einer Epidemie und jede Präventionsmaßnahme bedarf jedoch verlässlicher Zahlen und Grenzwerte, die zur Information und Steuerung eingesetzt werden. Diese Thematik steht daher im Mittelpunkt des vorliegenden Thesenpapiers 6.1 und wird inhaltlich vertieft sowie um innovative Elemente ergänzt (z.B. notification index und Hospitalisierungs-Index). Gegenwärtig sind wir wegen des fortwährenden Fehlens von Kohorten-Studien leider nicht einmal in der Lage, verlässlich Angaben zur Häufigkeit des Neu-Auftretens der SARS-CoV-2/CoViD-19-Infektion (sog. Inzidenz) zu machen (auch wenn das Robert-Koch-Institut diese Bezeichnung verwendet, siehe Begriff der „7-Tage-Inzidenz“). Es werden stattdessen unsystematisch gewonnene, Anlass-bezogene Testprävalenzen (Melderaten) verwendet, die über eine Woche akkumuliert werden, aus unterschiedlichen Stichproben stammen und weder zur Gesamtpopulation noch zur Dunkelziffer eine verwertbare Aussage machen.
Zahlenwerte zur Steuerung sind unverzichtbar, dies soll nicht in Abrede gestellt werden. Allerdings wird zur Zeit so vorgegangen, dass die Testprävalenzen einfach auf die Gesamtbevölkerung oder Region umgerechnet werden, ohne über die Dunkelziffer in der nicht-getesteten Bevölkerung Rechenschaft abzulegen. Diese Vorgehensweise kann in keinem Fall zu verlässlichen quantitativen Maßen führen.
Das Thesenpapier 6.1 bedient sich nun mehrerer Methoden, um dieses Problem zu bewältigen. Zunächst erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass bei einer Testpositivitätsrate von nunmehr 9% (in der getesteten Prävalenzstichprobe von 1,5 Mio. Personen pro Woche) in der großen Gruppe der nicht-getesteten Bevölkerung keine weiteren Fälle auftreten, wie es die derzeitig praktizierte, einfache Umrechnung der bekannten Fälle auf die Gesamtbevölkerung nahelegt. In einer gestuften Modellrechnung wird rasch klar, dass bereits bei niedrigen Annahmen über die Höhe der Dunkelziffer in der nicht-getesteten Bevölkerung (z.B. 0,5%) die Gesamtzahl der Infektionen weit über dem Wert der Testprävalenzen liegt. Erste Prävalenzuntersuchungen kompletter Bevölkerungen (z.B. Slowakei) zeigen aktive Infektionen in rund 1% der Bevölkerung; nach diesem Szenario stünden in Deutschland den derzeit in einer Woche gemeldeten 130.000 Fällen deutlich über 800.000 zusätzliche
Infektionen aus der Gesamtbevölkerung gegenüber. Auch die mittlerweile vorliegenden Seroprävalenzuntersuchungen (Antikörper) weisen auf eine Dunkelziffer bis zu einem Faktor von 6, d.h. auf 1 Mio. Infizierte kommen bis zu 6 Mio. unerkannt Infizierte.
Dieser Befund hat für die Bewertung der derzeitig gängigen Grenzwerte wie „35 Fälle/100.000 Einwohner“ erhebliche Konsequenzen: man muss davon ausgehen, dass diese Grenzwerte, die jetzt ja auch Eingang in das Infektionsschutzgesetz gefunden haben, keinerlei messtechnische Zuverlässigkeit aufweisen, da sie die Dunkelziffer weitgehend ignorieren. Diese Aussage zieht wiederum weitere Konsequenzen nach sich, denn ein „Grundgesetz“ der Epidemiologie besagt, dass Messwerte mit einer mangelhaften Reliabilität auch nicht valide sein können, also nicht das messen, was sie messen sollen. Außerdem wissen wir aus der Risikoforschung, dass eine solche Unsicherheit eine denkbar schlechte Voraussetzung für Lernprozesse und Verhaltensänderung in einer modernen Gesellschaft darstellt. Mündige Bürgerinnen und Bürger sind sicher bereit, in einer Krise mitzuwirken, nur müssen die Daten zum Verlauf und zur Kontrolle des Erfolgs ihrer Anstrengungen auch wirklich verlässlich sein. Verstärkt wird der Eindruck einer fehlenden Strategie, wenn die Grenzwerte nicht transparent entwickelt werden und wenn – noch weitaus wichtiger – Grenzwerte gesetzt werden, die jenseits jeglicher Erreichbarkeit liegen (derzeit: „unter 50/100.000 kommen“). Aus epidemiologischer Sicht sind daher die gegenwärtig verwendeten Daten (einschließlich der neuerlichen Bestimmungen und Setzungen der Neufassung des IfSG vom 18.11.2020) fachlich fragwürdig („7-Tages-Inzidenz“) und können daher weder zur Begründung von weitgehenden Einschränkungen noch zur Bildung von Grenzwerten dienen, von denen eine Steuerungswirkung ausgehen soll.
Die Autorengruppe möchte nicht in Abrede stellen, dass die Information über Zahlen und Grenzwerte für die Initiierung von Lernprozessen und Verhaltensänderungen essentiell sind. In diesem Sinne wurde diese Kritik zu einem konstruktiven Vorschlag weiterentwickelt, der einige dieser Aspekte besser berücksichtigt und somit eine bessere Grundlage für politische Entscheidungen sowie Steuerungsprozesse darstellt. Es handelt
sich um zwei Indices, die zum einen die Dynamik der Epidemie und zum Anderen die Belastung des Gesundheitssystems beschreiben:
- Der hier entwickelte notification index NI beschreibt die Dynamik der Entwicklung auf nationaler oder regionaler Ebene. Der NI umfasst die Melderate (M „x Fälle/100.000 Einwohner“), die Rate positiver Testbefunde (T+ ), die auf die Bevölkerung bezogene Testhäufigkeit (Tn ) und einen einfachen Heterogenitätsmarker (H) als Maß für das Risiko einer Region vorgestellt: Dieser Index erlaubt es, den Bias z.B. durch die estverfügbarkeit oder durch das Auftreten eines einzelnen großen Clusters auszugleichen.
- Der zweite, ebenfalls neu vorgestellte Hospitalisierungs-Index HI beschreibt die Belastung des Gesundheitssystems in einer Region und berechnet sich als Produkt von NI und der Hospitalisierungsrate:
Beide Indices verwenden weiter die Melderate, was angesichts des Fehlens von Daten aus Kohorten-Studien kaum zu umgehen ist, sichern diesen Wert jedoch durch andere Parameter ab.
Im vorliegenden Thesenpapier 6.1 steht die juristische Würdigung der IfSG-Novelle vom 18.11.2020 nicht im Vordergrund. Zu dieser Thematik wird ein kommendes Thesenpapier Stellung nehmen, im Übrigen sei auf die zahlreichen (Einzel-)Stellungnahmen der Anhörung vom 12.11.2020 verwiesen. Evtl. wird die weitere Diskussion zeigen, dass man hier den Heterogenitätsfaktor H nicht berücksichtigen muss, s. Kap. 2.6.
In Kapitel 3 dieses Thesenpapiers werden die Daten zum Outcome der SARS-CoV2/CoViD-19-Infektion aktualisiert und erweitert. Die Hospitalisierungsrate sinkt bzw. stabilisiert sich trotz steigenden Alters der Infizierten, die Beatmungsrate sinkt seit Beginn der Epidemie, und insbesondere nimmt die Mortalität ab, sowohl bei den Intensivpatienten als auch in den Kollektiven der Mitarbeiter in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Betreuungseinrichtungen. Diese Beobachtungen verdienen Aufmerksamkeit: Risikokommunikation heißt auch, in glaubwürdiger Art und Weise (nicht als Lippenbekenntnis) positive Nachrichten hervorzuheben. Problematisch stellt sich allerdings die Situation auf den Intensivstationen dar: es ist zu einem deutlichen Anstieg der Intensivpatienten mit CoViD-19 gekommen und somit auch zu einer Abnahme der freien Intensivkapazität, allerdings ist parallel ein absoluter Abfall der Gesamtintensivkapazität in Deutschland aufgetreten, der einen großen Anteil an der Abnahme der freien Betten hat. Mit den zur Verfügung stehenden Daten ist dieses Effekt nicht erklärbar, hier sollte eine politische Analyse einsetzen.
Im Ausblick wird auf die kommenden Thesenpapiere 6.2 und 6.3 zu den Themen Prävention und Gesellschaftspolitik verwiesen und außerdem auf die Notwendigkeit eingegangen, sich aktiv mit der Teststrategie zu beschäftigen. Vor allem aber stehen weiterhin Kohorten-Studien ganz oben auf der Agenda: Um die in allen bislang veröffentlichten Thesenpapieren beschriebenen Probleme durch die Stichprobenauswahl zu beheben, sind prospektive Kohorten-Studien dringend geboten. Es ist ein großes
Versäumnis, dass sie bisher nicht durchgeführt wurden, aber sie können (und sollten) auch heute noch initiiert werden. Sie müssen zufällig ausgewählte Bevölkerungsstichproben umfassen, die regelmäßig (z.B. alle 14 Tage) auf das NeuAuftreten einer Infektion mit SARS-CoV-2/CoViD-19 untersucht werden (longitudinales Design, PCR und Antigen-Testung). Es ist wichtig festzuhalten, dass Querschnittsstudien zur Seroprävalenz (Antikörper) nicht als Kohorten-Studien zu gelten haben, da sie retrospektiv ausgerichtet sind (Antikörper stellen das „immunologische Gedächtnis“ dar). Kohorten-Studien erlauben zentrale Aussagen zur Häufigkeitsentwicklung, zu den Infektionswegen, zur Symptomatik, zur Prognose und zu den Risikogruppen. Weiterhin sind Kohorten-Studien unerlässlich, um Impfkampagnen zu planen und zu bewerten.
[…]
Quelle der kursiven Texte & das komplette Thesenpapier: Hier klicken
________________________
- Das Interview auf WELTonline mit Prof. Schrappe: Hier klicken
- Der Interview-Auszug ZDF-livestream 23.11.2020: Hier klicken
________________________