Der Epidemiologe Klaus Stöhr hat der WHO …
… geholfen, den Vorgänger des aktuellen Coronavirus zu stoppen. An der Strategie der Bundesregierung übt er scharfe Kritik und trifft eine düstere Prognose.
Und warum steht Deutschland nicht besser da als die USA? …
Mehr… WELT: Herr Stöhr, ab Montag wird das öffentliche Leben in Deutschland für einen Monat heruntergefahren. Ist das sinnvoll?
Klaus Stöhr: Ich finde es gut, dass reagiert wird. Gut finde ich auch, dass man bis Montag mit der Umsetzung wartet. Ich denke aber, die Fälle werden jetzt stark zunehmen.
WELT: Auf wie viel? Auf 20.000 Neuinfektionen am Tag?
Stöhr: Viel mehr. Schauen wir nach Belgien. Das Land ist siebenmal kleiner als Deutschland, hat jedoch genauso viele Fälle. Die Belgier kommen erst jetzt in einigen Hospitälern über die Grenzen der Intensivmedizin. Für Deutschland müsste man bei circa 30.000 Neuerkrankungen am Tag und 20.000 Intensivbetten mit einer Auslastung von circa 65 Prozent rechnen. Wenn wir jetzt die Bremse anziehen, kann das Sinn machen. Ich hätte aber noch gewartet.
WELT: Warum?
Stöhr: Weil nach dem Ende dieses Teil-Lockdowns in etwa vier Wochen 80 Prozent der Deutschen für das Virus immer noch voll empfänglich sein werden. Wenn wir dann den Fuß von der Bremse nehmen, wird die Pandemie mit vollem Schwung wieder einsetzen.
WELT: Das heißt, die Beschränkungen bringen nichts?
Stöhr: Doch. Alles, was die Übertragung reduzieren kann, ist gut. Die Frage ist nur: mit welchem Ziel? Geschlossene Gaststätten werden wie die anderen Beschränkungen die Infektionszahlen vermindern. Die Bundesregierung versucht es mit allen Maßnahmen, die irgendwie wirken könnten. Für mich ist das die Ultima Ratio, wir haben sonst keine Schüsse mehr im Magazin.
Natürlich ist es richtig zu handeln. Aber was mir fehlt, ist die Langzeitstrategie. Und die richtige Kommunikation. Es gibt Leute, die sagen, jetzt noch die vier Wochen Lockdown, und dann wird Weihnachten alles gut. Das ist nicht der Fall. Es dauert noch einen weiteren Winter. Das steht außer Frage.
WELT: Noch einen weiteren Winter? Sie sprechen von Dezember 2021?
Stöhr: Ja. Ich glaube, dass immer noch viele Menschen denken, wir könnten das Virus aufhalten. Ihnen ist nicht klar, dass es sich hier um ein Naturereignis handelt, das wir nicht stoppen können. Die meisten haben nicht verstanden, dass sich alle Menschen auf der Welt anstecken werden. Dass die Pandemie erst vorbei ist, wenn alle infiziert oder geimpft sind. Dass die Herbstwelle nun mit voller Wucht kommt, sollte für niemanden eine Überraschung sein. Deshalb verstehe ich auch nicht, dass man erst jetzt Pläne entwickelt. Dafür hätte man den ganzen Sommer Zeit gehabt.
WELT: Was hätte Ihrer Meinung nach passieren müssen?
In Deutschland war man im Frühjahr und Sommer über offensichtlich auf Letzteres aus. Am 20. März lag die Reproduktionsrate des Virus unter eins, zu dieser Zeit begann der Lockdown. Gegensteuern war richtig, aber warum hat man den Lockdown so lange aufrechterhalten? Wenn die Reproduktionsrate unter eins fällt, dauert es sehr, sehr lange bis zum Ende der Pandemie.
Wenn das Ziel allerdings die Minimierung der vermeidbaren schweren Erkrankungen und Todesfälle ist, dann hätte man sagen müssen: Wir dürfen auf keinen Fall die Kitas und Schulen schließen, weil wir bei den Kindern und Jugendlichen die Ansteckungen langfristig nicht verhindern können, wenn im Herbst die unvermeidbare Welle kommt. Denn einen zweiten vollständigen Lockdown kann es jetzt nicht mehr geben, der ist nur einmal möglich. Deshalb haben übrigens die Schweden auch keinen gemacht.
WELT: … und einen hohen Preis dafür gezahlt: fast 6000 Tote bei nur zehn Millionen Einwohnern. Deutschland hat mehr als 80 Millionen Einwohner und knapp über 10.000 Tote.
Stöhr: Der schwedische Weg wird immer noch missverstanden. Eine ungehemmte Durchseuchung kann und darf nicht das Ziel sein. Aber das hatten die Schweden auch nicht vor. Dort hat man nur drei Dinge anders gemacht. Sie beschlossen nur Maßnahmen, die sie aufrechterhalten konnten, womit ein Lockdown ausgeschlossen war. Zweitens sollten alle Maßnahmen wissenschaftlich belegt sein. Händewaschen und Abstand halten zählten dazu, Grenzschließungen nicht. Drittens setzen die Schweden auf deutlich mehr Eigenverantwortung.
WELT: Dafür hat Deutschland eine deutlich niedrigere Sterberate.
Und das Ende der Pandemie tritt ein, wenn 100 Prozent der Leute geimpft oder immun sind. In Israel sind es 14 Prozent, die Dunkelziffer eingerechnet sind es zwei- bis dreimal mehr. Das heißt, die Israelis sind fast zur Hälfte durch, und sie haben hochgerechnet weniger Verstorbene als Deutschland.
WELT: Deutschland wurde bisher als vorbildlich gelobt, es hatte innerhalb Europas bei der Pandemie eine Sonderrolle – wie sehen Sie das heute?
Stöhr: Ich sehe Deutschland nicht unbedingt weit vorn, abgesehen von den Betten. Es gibt kein Land der Welt, das mehr Intensivbetten pro Kopf hat. Bei der Sterblichkeit ist Deutschland nicht einsame Spitze, da liegen wir auf einer Höhe mit beispielsweise den Niederlanden, Ungarn und den USA.
WELT: Den USA?
Stöhr: Wir liegen bei 2,3 Prozent, die USA liegen bei 2,5 Prozent der laborbestätigten Erkrankten. Es gibt dort zwar mehr als 200.000 Tote, aber hochgerechnet auf die Zahl der Einwohner und die Zahl der Erkrankten ergibt sich ein anderes Bild. Auch bei der Immunität sind andere schon weiter: Nach der Anzahl der Infektionen haben bereits circa 14 Prozent der Bevölkerung in Israel, zehn Prozent in Belgien und in den USA und neun Prozent in Spanien und Tschechien eine Immunität.
WELT: Und Deutschland?
Stöhr: Weit weniger. Wäre das konsequent untersucht worden, wüsste man das genauer. Zu einer guten Bekämpfungsstrategie in der Pandemie gehören Analysen. Man muss wissen, wo man steht. Wie viele Leute haben sich infiziert? Wie viele haben Antikörper? Wie lange bleiben die Antikörper bestehen? Wie immun ist eine Person, die die Infektion durchgemacht hat und keine Antikörper mehr hat? Diese serologischen Studien hat man in Deutschland vernachlässigt.
Fest steht: Auf dem langen Weg durch die Pandemie steht Deutschland noch ganz am Anfang. Das ist sicherlich auch der Grund, warum die Herbstwelle bei uns so einschlägt und so schnell zu einem exponentiellen Wachstum führt.
WELT: Wie sollte die langfristige Strategie aussehen?
Die Ämter haben nicht genug Kapazitäten, weil sie sich um eine lückenlose Kontaktverfolgung bemühen müssen. Die lückenlose Nachverfolgung war ja an sich ein Versagen mit Ansage. Warum müssen Leute vom Gesundheitsamt die positiv Getesteten anrufen und sich aufzählen lassen, wen sie wann getroffen haben? Warum kann man infizierten Menschen nicht die Verantwortung in die Hand geben, dass sie selber ihre Freunde, Arbeitskollegen und Familienmitglieder informieren und schützen? Eine 80-Jährige im Heim kann das nicht leisten, aber alle anderen, die doch sowieso meist von zu Hause arbeiten, dürften kein Problem damit haben.
Die Polizei sollte nur die Extremfälle disziplinieren. Man muss allen immer wieder klar und deutlich vor Augen halten, dass Infektionen, schwere Verläufe und Todesfälle bei einem Naturereignis Pandemie leider unvermeidlich sind. Stattdessen heißt es auch jetzt vor dem neuen Lockdown, er solle den Anstieg der Todesfälle verhindern. Aber das kann er nicht. Es werden mehr Menschen sterben. Man wird nur vermeidbare Komplikationen und Todesfälle verhindern, die zwangsläufig bei überfüllten Krankenhäusern zusätzlich auftreten würden.
Stöhr: Das liegt wohl auch daran, dass wir den Vorgänger von Sars-CoV-2 im Jahr 2003 stoppen konnten. Das Virus war anders, es übertrug sich schwerer. Außerdem habe ich das globale Influenza-Programm geleitet, ich war also näher am Grippevirus dran. Übrigens sind in dem Winter 2017/2018 in Deutschland etwa genauso viele Menschen an Influenza erkrankt und in Krankenhäuser eingeliefert worden wie bis jetzt an Corona. Dass man Sars-CoV-2 nicht stoppen kann, wurde mir klar, als die Behörden in Wuhan mit den drastischsten Maßnahmen reagierten, aber das Virus trotzdem weiter wütete. Damit war klar, dass sich alle Menschen auf der Welt infizieren werden. Es sei denn, es gibt eine kollektive Übereinkunft der Viren, die sagen: Wir brechen die Sache ab.
WELT: Oder der Impfstoff kommt …
Stöhr: Die Impfstoffe sind wichtig für die Risikopatienten, aber sie sind für das Pandemieende überbewertet. In Deutschland wird es wohl bis zum Sommer 2021 dauern, bis der erste Impfstoff schrittweise auch für die Nicht-Risikopatienten zur Verfügung steht. Bis dahin wird wahrscheinlich die Hälfte der Menschen in Europa Immunität erlangt haben.
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Slowakei: Mehr als 38.000 Menschen in Quarantäne
https://www.berliner-zeitung.de/news/nach-corona-massentests-in-der-slowakei-mehr-als-38-000-in-quarantaene-li.115966
Und im nächsten Schritt umzäunte Quarantäne-Lager mit Wachpersonal und Schußwaffengebrauch? Das Coronavirus ist ja sooo gefährlich …