Es ist der -seit Jahrzehnten – hervorragenden Gerichtsjournalistin …
MehrGisela Friedrichsen
…. die Einsicht zu verdanken, die mich zu dem krassen Titel
Das Ende des Rechtsstaats
bewegt hat:
Sie galt als wichtige Zeugin. Die Aussage der Kriminalhauptmeisterin bestätigt zwar genau das, was der Kronzeuge der Anklage, ein Koch, im sogenannten Chemnitz-Prozess in den Vernehmungen bei der Polizei ausgesagt haben soll. Doch ob man dem Gesagten wirklich Glauben schenken kann, blieb danach weiter offen.
Dabei beruht der gesamte Prozess gegen den knapp 24 Jahre alten Syrer Alaa S., der sich seit dem 18. März vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Chemnitz unter anderem wegen gemeinschaftlichen Totschlags verantworten muss, einzig auf der Aussage des Kochs. Weitere Beweise, die S. als (Mit-)Täter überführen könnten, gibt es nicht.
Zur Tatzeit arbeitete der Koch im Döner-Lokal „Alanya“, 20 bis 50 Meter von dem Ort entfernt, wo er im Nachgang zum Chemnitzer Stadtfest in den frühen Morgenstunden des 26. August den Angeklagten beobachtet haben will, wie der auf den kurz danach verstorbenen 34 Jahre alten Daniel H. einstach. Oder nur einschlug? Das arabische Wort, das der Kronzeuge benutzte, kann beides bedeuten. Der Dolmetscher entschied sich offenbar fürs Stechen.
Seit Wochen bemüht sich das Gericht herauszufinden, ob Alaa S. tatsächlich der Täter ist, und kommt dabei kaum voran. Weit mehr verdächtig als Alaa S. ist ein Iraker namens Farhad Ramazan A., den mehrere Zeugen übereinstimmend als jenen „kleinen Mann“ beschreiben, der zunächst in eine Auseinandersetzung mit dem späteren Opfer verwickelt gewesen sei, die dann zu einer Schlägerei ausartete. A. gehörte auch jenes Messer, das zwischen Verkaufsständen des Stadtfestes gefunden wurde, und an dem sich Spuren – nicht vom Angeklagten Alaa S., sondern von A. – befanden.
Die Aussage des Kronzeugen ist wenig belastbar
Der Koch redet nämlich heute so und morgen anders. Erst behauptete er gegenüber der Kriminalbeamtin, gesehen zu haben, wie Alaa S. mit stichähnlichen Bewegungen auf das Opfer eingewirkt habe. Er habe das beobachtet, weil es draußen Geschrei gegeben und er daraufhin aus dem Verkaufsfenster des „Alanya“ geschaut habe. Er habe als „Haupttäter“ einen kleinen und einen großen Ausländer gesehen. Der Große habe die Stichbewegungen ausgeführt. Ein Messer allerdings habe er nicht gesehen.
Dann änderte er diese Aussage. Nicht von Stichbewegungen habe er gesprochen, korrigierte er, sondern von Schlägen. Von Faustschlägen. Es sei falsch protokolliert worden. Der Dolmetscher habe falsch übersetzt. Vor dem habe er Angst.
Das Gericht lädt den Dolmetscher vor. Der beteuert die Richtigkeit seiner Übersetzung. Der Koch wird erneut geladen. Er erscheint mit drei Personenschützern plus Anwalt und Dolmetscher und soll wiederholen, was er bei der Kriminalbeamtin sagte. Er schweigt. Warum? Weil er Angst habe. Vor wem? Er sei bedroht worden. Von wem? „Viele Leute haben mich bedroht“, sagt er. Namen? Die kenne er nicht.
„Es gab Leute, die habe ich zum ersten Mal gesehen. Leute, die den Angeklagten kennen.“
„Woher rührt die Angst?“, fragt Verteidigerin Ricarda Lang.
„Ich habe keine Anhaltspunkte“, übersetzt der Dolmetscher.
„Haben Sie außer mit der Polizei mit anderen Leuten gesprochen, was Sie gesehen haben?“, fragt die Verteidigerin weiter. Nein, er habe mit niemandem gesprochen. Allerdings hatte sein Chef, der Lokalbesitzer, die Polizei informiert, dass sein Koch Beobachtungen gemacht habe.
„Ich rede mit den Leuten doch nicht“, entrüstet sich der Koch vor Gericht. „Die reden Türkisch, Arabisch, Afghanisch. Ich verstehe die Leute nicht.“
Und mit dem Chef? „Ich kann nicht Deutsch. Ich verstehe ihn nicht und er mich nicht.“
„Haben Sie Ihrem Chef gesagt, welche Personen Sie gesehen haben?“, fragt die Verteidigerin weiter. – „Nein.“
„Stimmt also nicht, was Ihr Chef hier sagte?“ – „Nein.“
Die Polizei bot dem Koch seinerzeit Zeugenschutz an. Er wollte aber lieber in seinem Umfeld bleiben, er brauche keinen Zeugenschutz. Verteidigerin Lang, misstrauisch geworden, fragt, ob er Angst habe, sich wegen einer Falschaussage strafbar zu machen? Er schweigt. „Sind Sie bereit, vor Ort an einer Nachstellung mitzuwirken?“ – „Nein.“
Andere Zeugen haben plötzlich Erinnerungslücken
Beim Ermittlungsrichter hatte der Koch die „stichähnlichen“ Bewegungen noch vorgemacht, es gibt eine Videoaufnahme davon. Die Verteidigerin fordert ihn auf, diese Bewegungen vor Gericht zu wiederholen. Er weigert sich. Warum? „Einfach so“, antwortet er.
Andere Zeugen vom Tatort wollen oder können sich nicht erinnern: Weil sie zum Teil stark alkoholisiert waren, weil es in dem Durcheinander chaotisch zugegangen sei, weil alles so schnell ablief in dem „Knäuel“, weil es zu dunkel war, weil man nichts Falsches sagen wolle. „Fünf Zeugen verorten den Angeklagten mehr oder weniger am Tatort“, resümiert der Leiter der Mordkommission die Beweislage. Mehr oder weniger? In der Woche nach der Tat hätten sich die Ereignisse überschlagen, eine geordnete Arbeit sei nicht möglich gewesen. Und dann sagt er einen aufschlussreichen Satz: „Wir mussten schnell Ergebnisse liefern.“
Viele Zeugenaussagen passen nicht zueinander. Wo passierte die Tat? Wann und wie lief sie ab? Wo befand sich Alaa S.?
Dass er in jener Nacht in dem Döner-Imbiss etwas zu Essen bestellte, ist unstrittig. Ebenso, dass er mit anderen Ausländern nach draußen ging, als dort Unruhe entstand. Aber dann? Konnte der Koch überhaupt etwas sehen? War das Fenster, aus dem er hinausgeschaut haben will, nicht vollgestellt mit Geschirr und Fladenbrot? Noch nicht einmal jener Mann, der selbst einen Messerstich abbekommen hatte – von wem? –, kann genaue Angaben machen. „Der Daniel wurde von einer Person angegriffen“, lässt er den Dolmetscher sagen. Doch gesehen habe er den Angriff nicht. „Daniel war schon am Boden, als der mit dem Messer zustach“, erklärt er. Wer war „der“? Andere Zeugen vom Tatort wollen gesehen haben, wie das stehende Opfer am Nacken gepackt und von vorn und von hinten attackiert wurde. Von wem? Der Zeuge will Alaa S. auf einem Foto erkannt haben als einen, der bei der Schlägerei „dabei gewesen“ sei. Aber sicher sei er sich nicht, schränkt er ein.
Wurden zu Beginn des Chemnitz-Prozesses bereits Zweifel laut, ob dieses Strafverfahren jene Genugtuung bringen werde, auf die die Angehörigen des Getöteten hoffen, und ob es die aufgebrachten Bewohner von Chemnitz befriedet, die einen Schuldigen hinter Schloss und Riegel wissen wollen, so hat sich daran nichts geändert. Ein irakischer Kurde bringt es auf den Punkt, es klingt wie das Motto dieses Prozesses: „Ganz genau bin ich nicht sicher.“ Verteidigerin Lang tut zusammen mit ihrem Kollegen Frank Wilhelm Drücke ein Übriges und weist immer wieder auf die Mängel der Anklage, die Fehlerhaftigkeit der Ermittlungen und vor allem auf die Unzuverlässigkeit mancher Dolmetscher hin.
Die Polizistin und der Dolmetscher
Nicht nur im Chemnitz-Prozess wird selten simultan gedolmetscht. Die Qualifikation der zahlreichen Dolmetscher, die seit 2015 von der Polizei und den Gerichten benötigt werden – kaum je wird sie infrage gestellt. Der Bedarf ist riesig. Selbst Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft erscheinen häufig mit Dolmetscher vor Gericht.
Dabei sind die erheblichen Unterschiede in deren Leistungen gar nicht zu überhören. Was verhandeln die fremdsprachigen Zeugen mit den Übersetzern, wenn sie murmelnd die Köpfe zusammenstecken?
Oft entspinnt sich nach einer Frage des Gerichts zwischen beiden eine längere Diskussion, die niemand im Saal versteht, ehe ein knappes „Ja“ oder „Nein“ übermittelt wird. Hat der Dolmetscher nur die Frage erklärt oder den Zeugen auch beraten, was er am besten antworten soll? Die Richter fragen längst nicht mehr nach.
Anders Verteidigerin Lang: „Haben Sie gefragt, ob der Dolmetscher wörtlich übersetzt?“, will sie von der Kriminalbeamtin wissen, die den Kronzeugen vernommen hat. „Nein. Aber ich gehe davon aus.“
„Haben Sie den Dolmetscher gefragt, ob der Koch zwischen Selbst-Gesehenem, Vermutungen, Schlussfolgerungen und Gehörtem unterscheidet?“ – Nein, das sei kein Thema gewesen. So geht es in einem fort. Am Ende der Aussage der Kripobeamtin stehen nur noch Fragezeichen.
Nun will das Gericht den Tatort besichtigen und die Sichtverhältnisse überprüfen – am 13. Juni nachts um 0.30 Uhr im „Alanya“. Aber ob das diesen Prozess erhellen wird, bleibt fraglich.
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Deutschland schafft sich ab: Zug-um-Zug!
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