Russland & Ukraine & Frieden & Diplomatie aktuell: Interview mit Günter Verheugen …

Herr Verheugen, was vermuten Sie in Zusammenhang mit dem Flugzeugabsturz, bei dem Jewgeni Prigoschin ums Leben gekommen ist?

Günter Verheugen: Ich kann da nur spekulieren wie alle anderen auch. Die üblichen Theorien kursieren: Dahinter steckt Putin, der russische Generalstab, die Ukraine, die CIA … ich weiß nicht das Geringste. Alles ist möglich, und man kann frei nach Schillers Maria Stuart feststellen: „Dieser Prigoschin starb Euch sehr gelegen.“ …

Davon abgesehen scheint die Vorstellung, mit Russland friedlich und kooperativ ein geeintes Europa zu formen, derzeit so weit weg wie der Mond von der Erde.

Wenn wir die großen Aufgaben betrachten, die uns als Menschheit und Staatengemeinschaft gestellt sind, ist ein Krieg das letzte, was wir brauchen. Wir müssen unsere Kräfte konzentrieren, um die großen, lebensbedrohlichen Krisen zu bewältigen. Da kann man nicht einen Staat ausschließen, weil einem die Zustände dort nicht gefallen.

Sondern?

Ich bin sehr geprägt von der frühen Entspannungspolitik. Ich habe sie nicht nur miterlebt, sondern ich war daran beteiligt. Wenn Willy Brandts Position gewesen wäre, dass man mit Breschnew nicht reden kann, wäre der Kalte Krieg bis heute nicht beendet. Wenn ich möchte, dass sich die Verhältnisse in einem autoritären Staat ändern, erreiche ich das nicht mit militärischem Druck, sondern indem ich ein Vertrauensverhältnis schaffe.

Sie sagen, dass der Krieg in Deutschland auf einen Kampf zwischen Gut und Böse reduziert wird. Es gibt eine ungeheure Solidarisierung mit dem Guten, der Ukraine, gegen das Böse, Putin und Russland. Wie erklären Sie sich das?

Der Umsturz in der Ukraine wird bei uns dargestellt als eine demokratische Revolution von begeisterten Pro-Europäern. Das war eine fabelhafte PR-Nummer, denn es ist nur ein Ausschnitt der Wahrheit. Es war ein vorbereiteter Staatsstreich. Die ersten Maßnahmen der Übergangsregierung waren gegen die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine gerichtet. Dann begann der Krieg, 2014 mit der sogenannten Anti-Terror-Operation, und die russische Politik von Putin wurde dämonisiert. Die Annexion der Krim hat ihn ins Unrecht gesetzt, das machte es leicht. Der Krieg in der Ukraine wird entsprechend überhöht zu einem Kampf zwischen rivalisierenden Systemen.

Zwischen Demokraten und Autokraten …

… aber das ist dieser Krieg nicht. Es geht nicht um Ihre oder meine Sicherheit. Wegen meiner Freiheit und zur Verteidigung meiner demokratischen Rechte muss kein Mensch in der Ukraine sterben. Meine Freiheit ist nicht durch Russland bedroht. Schon allein das zu sagen, bringt einen heute in den Verdacht, ein nützlicher Idiot des Kremls zu sein. Deshalb, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland der Aggressor ist, Verträge und Grundsätze verletzt hat, die das friedliche Zusammenleben in Europa regeln sollen. Aber man muss die Vorgeschichte dieses Kriegs kennen, um sich ein sachliches Urteil zu bilden.

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INFO

Mit den Ursachen und Folgen des Kriegs in der Ukraine befasst sich auch der Band „Ukrainekrieg: Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht„, den der Bremer Politikwissenschaftler Stefan Luft mit herausgegeben hat. Zu den Autoren zählen unter anderem der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und der Soziologe Wolfgang Streeck sowie der französische Osteuropa-Experte David Teurtrie. 

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