14 Monate nach der ersten Impfung…
… sind Biontech und Moderna noch immer ohne ordentliche Zulassung – weil essenzielle Studien fehlen. Der Vorgang ist ungewöhnlich. Mediziner und Pharmazie-Experten haben Fragen.
Etwa 62 Millionen Deutsche sind mittlerweile geimpft, die Präparate dazu lieferten überwiegend Moderna und Biontech. Dennoch ist bis heute keiner der beiden mRNA-Impfstoffe ausreichend erforscht, um die Standards für eine ordentliche Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Behörde EMA zu erfüllen. Legal in Umlauf sind sie trotzdem, jedoch nur vorläufig und auf Zeit, per befristeter „bedingter Genehmigung“.
Mehr14 Monate nach Eröffnung der ersten deutschen Impfzentren liegen vor allem wichtige Studien zu Sicherheit und Wirksamkeit noch nicht vor. Die Liste ist lang, die Spanne reicht von produktionstechnischen Nachweisen bis hin zu Standardverträglichkeitsstudien. Über den aktuellen Stand zum Genehmigungsverfahren, wann das Provisorium als überwunden gelten kann, vor allem aber zu den zwangsläufigen Studien über Risiken und Nebenwirkungen schweigen sich die Hersteller genauso aus wie die Behörden.
Riskante Wissenslücken
Bis Juli 2021, so hatte die EMA frühzeitig klar gemacht, seien die Studien nachzureichen. Aber die Frist verstrich still und ereignislos. Stattdessen verlängerte die EMA im Oktober 2021 die „bedingte Zulassung“ in aller Diskretion um ein Jahr. Zunächst für Spikevax von Moderna und Anfang November für Comirnaty von Biontech. Das brachte in der wissenschaftlichen Fachwelt erste Irritationen auf, es gab Fragezeichen, auch den Verdacht der Geheimniskrämerei, inzwischen erweitert um offenes Befremden.
So fragt sich Susanne Wagner, langjährige Expertin in der Pharmaentwicklung, „ob die Hersteller ihre Produkte jemals in Europa regulär zulassen wollen“. Die promovierte Medizinerin ist spezialisiert auf die Erstellung von Prüfplänen für neue Medikamente. Wagner ist eine der erfahrensten Spezialisten der Branche, seit 30 Jahren in der Hightech-Forschung, unter anderem bei Schering und der Charité. Als selbstständige Expertin berät sie vor allem jene Start-ups, die einen Großteil neuartiger Arzneimittel entwickeln – letztlich oft in Partnerschaft mit Pharmariesen wie Biontech mit Pfizer. Wagner ist spezialisiert auf Nano-Carrier und Lipid-Nano-Partikel. Die Stoffe bringen in den Corona-Impfstoffen die empfindliche mRNA an ihr Ziel im menschlichen Körper. Sie umhüllen den Wirkstoff, sie helfen, die Zellmembran schadlos zu überwinden.
Bei den mRNA-Impfstoffen erkennt Wagner riskante Wissenslücken, vor allem bei der Pharmakokinetik – also der Frage, welchen Weg der Wirkstoff im Körper nimmt, an welchen Organen er sich ablagert, wo genau er wirkt und wie lange er im Körper bleibt. Auch ihr ist die Notlage bewusst, der Zeitdruck, unter dem Industrie, Politik und die Genehmigungs-Institutionen standen: „Dass die Hersteller nicht gleich zu Beginn der Pandemie sämtliche Nachweise erbringen konnten, ist verständlich und entschuldbar“. Nach eineinhalb Jahren allerdings sei es höchste Zeit zumindest „für einen Teil der Studien“. Zumal Hersteller und Behörden Spekulationen auf sich zögen wie etwa „Liegt es einfach nur am Aufwand? Oder stimmt möglicherweise das Ergebnis nicht?“
Auch der Virologe Alexander Kekulé stößt sich an mangelnder Transparenz: „Bei den mRNA-Impfstoffen handelt es sich um neue Wirkstoffe. Vor allem bei den darin enthaltenen Lipiden sind einige Standardauflagen, etwa bezüglich der Herstellung, schwierig zu erfüllen“, sagt er. „Ich weiß nicht, welche Gründe Pfizer hat, die Auflagen der EMA innerhalb der Fristen nicht zu erbringen, aber ich hätte mir gewünscht, dass die Gründe transparenter gemacht werden“. Warum wurden die Nachweise nicht erbracht? Gab es hierzu eine Erklärung? „Man sollte hier den Querdenkern keine Munition liefern“, empfiehlt Kekulé.
Seit Anfang Dezember kursieren in den sozialen Netzwerken Gerüchte, der Impfstoff von BioNTech/Pfizer enthalte Bestandteile, die nicht für die Anwendung am Menschen geeignet seien. Gemeint sind die Lipid-Nanopartikel ALC-0315 und ALC-0159. Deren toxikologische und pharmazeutische Eigenschaften seien nicht vollständig bekannt, so heißt es. Die Rede ist von „schweren allergischen Reaktionen“.
„An jeder Verschwörungstheorie ist ja immer ein kleiner plausibler Kern“, sagt Kekulé. Tatsächlich nehme man an, dass bestimmte Lipide Allergien auslösen können. „Doch seltene allergische Reaktionen auf Impfstoffe gab es schon immer“, sagt der Virologe.
Die Herstellung der Lipide sei allerdings so kompliziert, dass es vor allem zu Beginn der Impfkampagne dem Hersteller nicht immer geglückt sei, ein völlig einwandfreies Produkt abzuliefern. „Wir haben hohe Ansprüche in Europa“, sagt Kekulé, „die hat der Hersteller am Anfang nicht ausreichend erfüllt. Deshalb hat die EMA eine Frist gesetzt bis Juli, Nachweise bezüglich Reinheit und Qualitätskontrolle nachzuliefern.“
Zulassung? Drei Wochen später
Die Frist wurde nicht eingehalten, und die Nachweise betreffen nicht nur die Nano-Lipide, sondern auch die mRNA selbst. Bereits im März 2021 berichtete das British Medical Journal (BMJ) mit Berufung auf die EMA, dass die Experten der Zulassungsbehörden kurz vor der Zulassung 2020 größere Einwände vorgebracht hätten. Das betraf die Qualität der mRNA-Vakzine. In den geleakten Dokumenten war die Rede von „starken Bedenken“. Denn in einigen Chargen befanden sich unerwartet niedrige Mengen an intakter mRNA. Wissenschaftler der EMA schrieben besorgt an die Impfstoffhersteller, dass im Endprodukt zerstückelte und veränderte mRNA gefunden worden sei. Was das für die Wirksamkeit und die Sicherheit des Impfstoffs bedeute, „müsse noch ermittelt werden“, heißt es in einer E-Mail eines Mitglieds der EMA im November 2020. Drei Wochen später war der Wirkstoff von Pfizer/Biontech zugelassen.
Doch sind diese Probleme inzwischen beseitigt? Auf Nachfrage von WELT antwortet die EMA: „Das Unternehmen ging auf die aufgeworfenen Fragen zufriedenstellend ein und lieferte anschließend die erforderlichen Informationen und Daten Anfang Dezember 2020 nach, was es der EMA ermöglichte, zu einer positiven Stellungnahme für diesen Impfstoff zu kommen“. Wie genau das Problem gelöst wurde, teilt die Behörde nicht mit. Pfizer verwies seinerzeit gegenüber dem BMJ darauf, dass alle Impfstoff-Chargen doppelt geprüft würden, da ja auch das Paul-Ehrlich-Institut solche Analysen vornehme. Doch auch hier blieb die Frage offen, wie es zu dem hohen Anteil beschädigter mRNA in den Impfstoff-Chargen kam – und ob es wieder passieren könnte.
Offene Fragen gibt es auch bei den pharmazeutischen Eigenschaften. Es sind essenzielle Fragen wie: Lagert sich der Wirkstoff im Gehirn ab? Gibt es Anreicherungen in der Niere? In den Lymphknoten? Im Herzen? Wird es bei trächtigen Tieren auf den Embryo übertragen?
Fragen, „die die Hersteller bisher nicht beantwortet haben“, sagt Expertin Susanne Wagner, „was daran liegen könnte, dass die mRNA-Vakzine als klassische Impfstoffe zugelassen wurden.“ Bei diesen spielt die Pharmakokinetik im Zulassungsverfahren keine Rolle. Tatsächlich sind Comirnaty und Spikevax jedoch gentherapeutische Produkte, sie fallen damit in eine andere Kategorie. Für Wagner ein klarer Fall: „Der Verbleib der mRNA im Körper ist zu untersuchen.“
So sieht das auch der emeritierte Frankfurter Pharmazie-Professor Theo Dingermann, vormalig Präsident der Pharmazeutischen Gesellschaft. Allerdings: „Weder die EMA noch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA fordern diese Studien. Warum, das kann ich nicht sagen.“ Abseits der legalen Abläufe hat er aber Verständnis: „Die Vakzine sind milliardenfach verimpft. Die Nebenwirkungen sind im Verhältnis dazu niedrig, auch deshalb treten die Zulassungsbehörden vermutlich nicht bestimmter auf“.
Biontech selbst bleibt gegenüber WELT vage: „Die von der EU geforderten Sicherheitsdaten (…) erheben wir und werden sie einreichen, sobald sie uns vorliegen.“ Pharmazie-Expertin Wagner ist das nicht genug: „Eigentlich gibt es Interimsdaten“, sagt sie. Und die Studien zur Pharmakokinetik? Da bestätigt Biontech gegenüber WELT: „Die Standard-Pharmakokinetikstudien für Impfstoffe sind formal nicht erforderlich.“ Handlungsbedarf erkennt der Hersteller aber trotzdem: „Biontech betrachtet die Frage nach der Verteilung der mRNA-LNPs (…) in der Tat als wichtig für das Verständnis der Impfstoffwirksamkeit und möglicher Nebenwirkungen. Biontech und Pfizer haben daher bereits in einem frühen Stadium (…) umfangreiche Tier-PKS und Biodistributionsstudien (…) durchgeführt und die (…) Befunde umfangreicher toxikologischer Studien mit Behörden auf der ganzen Welt geteilt“.
Reichen Studien an Ratten?
Dabei handelt es sich vor allem um Studien an Ratten – doch reicht das? Wagner fordert Studien an Tieren, die mehr dem Menschen ähneln, etwa an Schweinen. Und überhaupt, so fragt die Pharmazie-Expertin: „Wo ist das Problem, die Anreicherung des Wirkstoffs in verschiedenen Organen zu untersuchen?“
Auch Kekulé hofft auf eine entschlossenere EMA: „Dass man nach über einem Jahr immer noch sagt, das ist ein Impfstoff, deshalb müsst ihr keine vollständige Pharmakokinetik vorlegen, ist zumindest diskussionswürdig.“
Immerhin, etwas Licht in die Sache brachten die Behörden in Japan, sie hatten auf die Daten zur Verteilung der mRNA im Körper bestanden. „Diese Studien lassen zwar Fragen offen“, sagt Wagner, „aber sie zeigen, dass sich die Lipide bedenklich in wichtigen Organen anreichern. Das könnte einige der schweren Nebenwirkungen erklären wie Sinusvenenthrombose, Herzmuskelentzündungen, Thrombosen oder Lungenembolien.“
Diese Nebenwirkungen kämen zwar selten vor. Für die reguläre Zulassung in Europa seien aber detaillierte Studien unabdingbar.
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*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona“ ist, zitieren wir den Text, auch als PDF. Verweise und Kommentare der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.