Jeder neue Montag steht sächsischen Politikern dräuend bevor, von der Regierung in Dresden bis zu Bürgermeistern im ganzen Land. Zigtausende gehen dann in den Abendstunden spazieren, so nennen sie es, in Städten, Städtchen, Dörfern. Und zwar ordnungswidrig, denn erlaubt waren zuletzt nur Versammlungen von bis zu zehn Personen.
MehrZu Jahresbeginn zählte die Polizei fast 150 solcher Spaziergänge. In den vergangenen Tagen listete die rechte Kleinpartei Freie Sachsen im Messengerdienst Telegram 171 auf: unter anderem in Dresden neun, in der Sächsischen Schweiz/Osterzgebirge 20, im Erzgebirgskreis 29. Je erzgebirgiger, desto renitenter, so scheint es. Maskenlos, regellos, einfach los, zu Hunderten, manchmal zu Tausenden. Auch in Freiberg, zwischen Dresden und Chemnitz gelegen.
Die Stadt mit ihren knapp 40.000 Einwohnern ist so etwas wie Sachsen im Kleinen. Sie wählt wie Sachsen, und manche sagen, sie denke und fühle wie Sachsen. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst stimmten die Freiberger ab wie der Rest des Freistaats. Die AfD landete auf Platz eins, gefolgt von SPD und CDU. Die Stimmenanteile in Ort und Bundesland waren nahezu identisch. Und Freiberg ist keine abgehängte Gegend, sondern eine Universitätsstadt mit stolzer Geschichte und einem Bürgertum, das seinen Wohlstand selbstbewusst ausstellte. Die Bergakademie genießt bis heute einen exzellenten Ruf.
„Da denke ich an China, an Weißrussland”
Der Oberbürgermeister fahre eine Hetzkampagne, die Polizei trete ihnen soldatisch entgegen. In der Protest-Hochburg Freiberg in Sachsen wird deutlich, warum sich auch Bürgerliche in der Corona-Pandemie von Politik und vielen Medien abwenden. Ein Film von Martin Heller und Alexander Dinger.
Enge Straßen winden sich an hübschen Fachwerkhäusern vorbei. Mit knapp 14 Millionen Euro Schulden gilt Freiberg als wohlhabend verglichen mit anderen sächsischen Kommunen. Das Rückgrat der lokalen Wirtschaft sind mittelständische Unternehmen. Und doch gibt es viele Unzufriedene. Hunderte gehen Montag für Montag auf die Straße.
Wer mit den Menschen dort spricht und auch mit den Sicherheitsbehörden, und wer in den vergangenen Monaten genauer hingesehen hat, der stellt fest, dass in Freiberg wie in Sachsen die Dinge etwas anders liegen als im Rest Deutschlands. Die Wut und die Entfremdung erscheinen dort größer. Warum ist das so?
Zwei Männer und die Wut
Es dunkelt rasch an diesem Januarabend. Noch sind kaum Menschen unterwegs auf dem Obermarkt. Das wird sich bald ändern, es ist ja Montag. Spaziertag. In einer engen Gasse zwischen Petrikirche und Rathaus warten Christoph Hänig und Tobias Neubert darauf, dass es 18 Uhr wird und losgeht.
Die beiden Freiberger sind in der Bürgerinitiative „Dialog für unsere Zukunft“, zu der sich Angestellte, Unternehmer, Krankenschwestern zusammengefunden haben. Immer wieder montags laufen sie durch die Stadt, um gegen die Coronapolitik zu protestieren. Neubert und Hänig sind, was man die Mitte der Gesellschaft nennt. Neubert ist Steinmetz und Landesinnungsmeister. Hänig arbeitet als Angestellter bei einem kleinen Unternehmen.
Neubert hat sein ergrautes Haar zum Zopf gebunden. Eine Wette, sagt er. Er will erst wieder zum Friseur, wenn die Pandemie vorbei ist. Neubert kennt jede Straße in Freiberg. Seit 1980 arbeitet er als Steinmetz, seit 1991 ist er selbstständig. Sein Betrieb hat 16 Angestellte. Zum Protest hat er seinen Hund mitgebracht, Nico, einen zehn Jahre alten Holländer. „Wir nennen ihn aber Coffee, weil er aus dem Land der Coffee Shops kommt“, sagt Neubert in breitem Sächsisch.
Eigentlich dürfen sich nur zehn Menschen treffen. Da aber viele Demonstranten gemeinsam loslaufen, wird aus Grüppchen schnell ein langer Zug aus etwa 1000 Menschen. Und weil die Polizei das weiß, rollen kurz vor 18 Uhr mehrere Mannschaftswagen auf den Obermarkt und parken vor dem Rathaus.
„Jetzt geht‘s gleich los“, sagt Neubert. Wohin sie laufen werden, kann er nicht sagen. Eine Gruppe Männer und Frauen streift an ihm vorbei, mit Schildern. „Mein Körper. Meine Entscheidung“ steht darauf. Oder „Impfpflicht = Pflegenotstand“. Es ist eine angemeldete Demonstration von Pflegekräften in Freibergs Zentrum. Sie wird kurz darauf im großen Marsch aufgehen.
„Wahnsinn“, sagt Neubert. Ständig sieht er Leute, die er kennt und grüßt. In Baden-Württemberg, sagt er, seien die großen „Querdenken“-Demos losgegangen, „aber die Spaziergänge sind in Sachsen gestartet“. Neubert klingt stolz. Als jemand einen Böller zündet, zuckt er zusammen. „Genau das wollen wir nicht.“ Einen Augenblick später hält er einen Jugendlichen mit einer Schnapsflasche an und sagt, er solle die Flasche wegpacken, Alkohol habe hier nichts zu suchen. Der junge Mann zuckt mit den Schultern, setzt den Pfefferminzlikör an und trinkt ihn aus.
Corona habe Dinge verstärkt, sagt Neubert
Neubert ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in einem Stadthaus aus dem 16. Jahrhundert. Er sagt, er habe es in jahrelanger Arbeit selbst restauriert. Lange habe er die CDU gewählt. Aber Corona habe manche Dinge verstärkt, die vorher schon da waren. „Man redet nicht mehr offen miteinander“, sagt Neubert. Das sei aber wieder nötig, egal welcher Ansicht man sei. Ob man sich impfen lasse oder nicht. Darum gebe es die Bürgerinitiative.
Was er gerne bereden würde?
Christoph Hänig sagt, eines der grundlegenden Probleme sei, dass Meinungen ständig mit zweierlei Maß gemessen würden. Das sei in der Flüchtlingskrise so gewesen und jetzt in Coronazeiten wieder. Er sah die Flüchtlingspolitik kritisch, nun sieht er die Coronapolitik kritisch. Gefalle vielleicht nicht jedem, sei aber nun mal seine Meinung. Und die wolle er sagen dürfen, ohne dass Politiker oder Reporter, die nach Freiberg kommen, ihn und andere Freiberger sofort als Nazis diffamieren. Das gehe ihm umso doller auf die Nerven, weil es dagegen kein Problem zu sein scheint, wenn heute eine Frau sächsische Justizministerin ist, die früher in einer Band „Advent, Advent – ein Bulle brennt“ gesungen hat.
Neubert sagt, er sei 1989 auf der Straße gewesen, in der Wendezeit. Er sei erstaunt, dass es heute, mehr als 30 Jahre später, wieder viele seien. Es müsse wohl eine Unzufriedenheit da sein, eine tiefe, sonst blieben die Leute ja daheim. Er persönlich, sagt Neubert, fürchte, dass ein Staat, der die Freiheit seiner Bürger einmal so stark eingeschränkt habe wie derzeit, sie nicht von selbst wieder zurückgeben wird. „Wir fordern die umgehende und uneingeschränkte Wiederherstellung unserer Grundrechte.“ Auf die Politiker, die das bestimmen, wolle er sich da lieber nicht verlassen. Also demonstriere er.
Wieder kracht ein Böller. Die Polizisten werden unruhig. Sie wollen eine Straße sperren, Neubert kennt einen Umweg, über Seitenstraßen vorbei an der Polizei, vorbei am Hauptbahnhof. „Es wird immer so getan, als liefen hier nur Rechtsextreme“, sagt er. Wenn man entgegnet, dass etwa die Freien Sachsen beim Protest sehr präsent sind, antwortet Neubert: „Die spielen auf den Demos keine Rolle, die sind nur medial aktiv.“ Er gibt allerdings zu, dass die Proteste in Sachsen, auf die er so stolz ist, auch durch diese Gruppierung so bekannt geworden sind.
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