Das neue Regierungs-Trio tritt mit starken Tönen vors Publikum. Hört man auf die Worte des Bundeskanzlers und schmökert man freudig erregt im 177 Seiten starken Koalitionsvertrag, so steht uns fast eine Revolution bevor. Die Überschrift des Koalitionsvertrags lautet: „Mehr Fortschritt wagen“. Da hört man das Echo des großen Sozialdemokraten Willy Brandt, der seinerzeit „mehr Demokratie“ wagen wollte. Olaf Scholz hat sogar „ein Jahrzehnt des Aufbruchs“ angekündigt. Das klingt so, als wolle er mindestens noch zweimal wiedergewählt werden. In dieser Hinsicht scheint Angela Merkel sein Vorbild zu sein.
Vielleicht wollen die drei ja wirklich etwas Aufregendes. Aber jeder Koalitionsvertrag stößt früher oder später an die politische Realität. Und da zitiere ich Wilhelm Busch: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Die Geschichte hält sich nicht an Pläne, auch nicht an Koalitionsverträge. Das hat uns zuletzt die Covid-Pandemie drastisch gelehrt.
Nehmen wir die ehrgeizig klingende Klimapolitik. Kämpferischen Umweltschützern reicht sie natürlich nicht. Aber 80 Prozent Nachhaltigkeit beim Strom und dazu immer mehr E-Autos, und das alles in nicht mal zehn Jahren? Junge, Junge. Robert Habeck macht jetzt schon den Eindruck, als glaubte er selber nicht daran.
Und siehe: Der erste Realitätsschock von nuklearem Ausmaß ist schon da. Die EU-Kommission, angetrieben von Emmanuel Macron, will neue Kernkraftwerke für grün erklären und fördern. Für deutsche Grüne, die ihr Leben als Anti-Atom-Partei begonnen haben, ist das ein Stich ins Herz. Und die Chancen, den atomfreien deutschen Heilsweg gegen den Widerstand Frankreichs in Europa durchsetzen zu können, sind gleich null. Der grüne Atomstrom wird kommen.
Zur Kunst des reinen Gewissens gehört die Kunst der Heuchelei
Das dürfte bedeuten, dass Frankreich und andere Befürworter der Atomenergie uns Deutsche im Klimaschutz locker überholen werden. Oder auch nicht. Denn zur Kunst des reinen Gewissens gehört die Kunst der Heuchelei. Deutschland wird noch mehr Atomstrom als bisher aus der Nachbarschaft importieren, um klimapolitisch halbwegs mithalten zu können. Wir werden unsere atomar besudelten Hände in Unschuld waschen, und die Nachttischlampe kann weiter leuchten.
Diese Revolution ist also schon einmal halb entgleist. Haben wir sonst noch eine in petto? Ja, wenn wir Angelsachsen wären, könnte das passieren. Bei denen kommt es dank ihres Direktwahlsystems immer wieder zu abrupten, manchmal dramatischen Politikwechseln. In Amerika von Obama zu Trump zu Biden. In England von Labour zu Thatcher und von Blair zu einer konservativen Serie, die ihren Höhepunkt mit Johnson und dem Brexit erklomm.
Das deutsche Gegenstück ist die Koalitionsregierung. Absolute Mehrheiten haben im Bund Seltenheitswert. Die letzte holte Konrad Adenauer. Bayern ist natürlich anders. Da waren absolute Mehrheiten lange Zeit gottgegeben. Aber auch sie führten zu keinen abrupten Politikwechseln, weil der liebe Gott immer der gleichen Partei die absolute Mehrheit schenkte. Na ja, das ist Vergangenheit. Markus Söder muss sich mit Hubert Aiwanger vertragen, der auch kein Revolutionär ist. Er hat sich nach langem niederbayerischen Widerstand sogar impfen lassen.
Die Auswahl an Koalitionspartnern, die uns unser proportionales Wahlsystem beschert, war traditionell ebenfalls sehr begrenzt. Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Rot-Gelb. Das war’s. Und das hieß: Es war bei den Neuen immer einer dabei, der schon bei den Alten dabei war. Das schafft keine Revolutionen, sondern Kontinuität.