Seit zwei Jahren bestimmt Covid-19 unser Leben.
Nach einem ruhigen Sommer ist mit Omikron die Angst zurückgekehrt – doch gleichzeitig könnte die Virusvariante den Weg zurück zur Normalität ebnen.
Da ist sie wieder, die Corona-Angst, ausgerechnet an Weihnachten. Vor einer „explosionsartigen“ Ausbreitung der Omikron-Variante warnt der neue Expertenrat der Bundesregierung. Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), erklärte: „Das Weihnachtsfest soll nicht der Funke sein, der das Omikron-Feuer entfacht.“
MehrWas man tun kann als Bürger, um die Lage zu verbessern? Impfen, impfen, impfen, sagt die Regierung. 30 Millionen Deutsche sollen bis Jahresende ihren sogenannten Booster erhalten, und es sieht so aus, als könnte dieses ehrgeizige Ziel erreicht werden, spätestens im Januar.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte der „Bild“-Zeitung: „Niemand in Europa erreicht ein Booster-Tempo wie Deutschland. Darin sehe ich die große Hoffnung, die schweren Verläufe abzufangen.“
Und danach? Ist es dann vorbei? Es ist diese Frage, die Millionen Menschen umtreibt: Wie lange geht das noch mit dieser Pandemie? Und: Wie drastisch sollen staatliche Eingriffe sein im Kampf gegen das Virus?
Die Antwort auf die letzte Frage scheint einfach: sehr drastisch. Die britische Oxford-Universität hat einen globalen „Stringency Index“ entwickelt, der angibt, wie rigoros und konsistent Regierungen bei Corona-Maßnahmen sind. Deutschland steht hinter den Fidschi-Inseln auf dem zweiten Platz.
Ungeimpfte sind vom öffentlichen Leben derzeit weitgehend ausgeschlossen. Es gilt eine strenge Maskenpflicht. Mittlerweile treffen viele Maßnahmen auch Geimpfte. Und die Bundesrepublik wäre – nach Österreich, Tadschikistan, Turkmenistan, Mikronesien, Indonesien und Ecuador – das siebte Land, das eine allgemeine Impfpflicht einführt.
Nun macht sich Protest breit. Seit Beginn der Pandemie hatte es immer wieder Demonstrationen gegeben, punktuell, aber nie über das ganze Land verteilt. Das hat sich in den vergangenen Wochen geändert: Es waren allein in der vergangenen Woche Zehntausende, die ihrem Unmut Luft machten, im ganzen Land. Dazu kommt: Viele Bürger akzeptieren es nicht mehr, wenn der Staat Nein sagt. Die Demo in München am vergangenen Mittwoch war abgesagt worden, trotzdem liefen 5000 durch die Stadt, durchbrachen sogar Polizeiketten.
Die Geschichte der Corona-Pandemie ist auch die der ständigen Vertagung ihres Endes. Am 12. Februar 2020 sprach Jens Spahn, der damalige Gesundheitsminister, angesichts der ersten Corona-Fälle in Deutschland noch über die „nächsten Tage und Wochen“, in denen „es auch noch schlechter werden könnte, bevor es besser wird“.
„flatten the curve“
Man entschied sich für „flatten the curve“. Damit würde die Pandemie zwar länger dauern, aber die Krankenhäuser würden nicht überstrapaziert werden. Als diese erste Welle im Mai abflachte, glaubten Politiker und Bevölkerung zum ersten Mal, dass die Sache vorbei sein könnte.
Am 23. September erregte dann ein Satz von Virologe Christian Drosten Aufmerksamkeit: „Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen.“ Aber statt sich auf diesen „richtigen Beginn“ der Pandemie auf allen Ebenen vorzubereiten und damit präventiv viele Todesopfer vor allem in den Alten- und Pflegeheimen zu verhindern, waren Krisenstäbe aufgelöst worden, und in den Gesundheitsämtern war Untätigkeit eingezogen.
Im Winter gab man dann Glühweintrinkern und Rodlern die Schuld an der zweiten Welle. Später waren es die, die mit dem Schlitten die verschneiten Skipisten hinauf stapften und herunterrodelten, die Mallorca-Urlauber.
Dazu kam die Hoffnung auf das Ende der Pandemie. Sie war nie größer als im Dezember 2020 und in den Wochen und Monaten danach: Da waren sie, die neuartigen Impfstoffe – die Rettung. Mehrere Politiker stellten ein Ende aller Corona-Maßnahmen in Aussicht, sobald jeder Bürger ein Impfangebot hat.
Bloß: Die Akzeptanz der Impfstoffe ist niedriger als gedacht. Und so sind nun die Impfverweigerer schuld an der schwierigen Lage. Und die Rückkehr zur Normalität? In weiter Ferne. In einer Mail an WELT AM SONNTAG verweist die Physikerin Viola Priesemann, die Mitglied im deutschen Expertenrat ist, auf eine aktuelle Stellungnahme, die online zu finden ist.
Darin heißt es: „Wann eine vollständige Beendigung von nicht-freiwilligen Maßnahmen denkbar ist, ist derzeit nicht abzusehen.“
Und das allein wegen der Ungeimpften? Offenbar ist das zu einfach, denn die Entwicklung der vergangenen Wochen hat gezeigt: Eine hohe Impfquote ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Pandemie. Auch Länder mit hoher Impfquote – wie Spanien und Portugal – haben wieder Maßnahmen eingeführt. Die Wirksamkeit der Impfstoffe nimmt schneller ab als gedacht, und gegen die neue Omikron-Variante wirken zumindest zwei Dosen ohnehin deutlich schlechter als gegen Delta und Alpha.
Mit dem Booster, so die Bundesregierung, soll die Sache deutlich besser aussehen. Israel habe schließlich die vierte Welle im November dank der dritten Dosis gebrochen. Bloß: Schon jetzt beginnt Israel mit der Verimpfung der vierten Dosis, weil der Booster die fünfte Welle nicht aufhalten konnte. Premierminister Naftali Bennett sprach von einer „wunderbaren Nachricht“ und sagte: „Wir leisten auch mit der vierten Dosis Pionierarbeit.“
Deutschland will nachziehen. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) forderte am Donnerstag die Ständige Impfkommission auf, eine Empfehlung abzugeben, wann die vierte Dosis verabreicht werden soll. Im März, so viel ist klar, will Biontech einen Impfstoff, der aktuell eigens für Omikron entwickelt wird, auf den Markt bringen.
Mehr Impfen hilft mehr – an dieser Strategie äußerte ein Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung Zweifel. WELT AM SONNTAG sagte Hendrik Streeck: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir in Zukunft alle sechs Monate oder noch regelmäßiger einen Corona-Impfstoff verabreichen werden.“ Ständige Boosterungen seien nicht vertretbar: „Dann müsste man noch mal in die Forschung gehen, in der Hoffnung einen effektiveren Impfstoff zu finden.“ Der Bonner Virologe spricht sich klar für eine Grundimmunisierung durch die Impfung aus. Was er kritisch sieht, ist die häufige Auffrischung.
Was bliebe stattdessen? Vielleicht wird es am Ende keine politische Entscheidung sein, die den Weg zurück zum Leben vor Corona ebnet – sondern die Natur. Diese Theorie nimmt seit ein paar Tagen Gestalt an. Omikron ist offenbar nicht so gefährlich wie seine Vorgänger – es breitet sich zwar schneller aus, verursacht aber deutlich weniger schwere Erkrankungen.
Es sind Erkenntnisse, die vor allem in Deutschland mit großer Vorsicht genossen werden – niemand will einen Fehler machen. Außerdem könnte auch eine geringere Gefahr, die von Omikron ausgeht, angesichts der einfacheren Übertragung eine große Belastung für das Gesundheitssystem bedeuten.
Hoffnung macht, dass in Südafrika, wo sich Omikron als Erstes wie ein Lauffeuer verbreitete, die Infektionszahlen steil fielen und die Regierung ihre Eingriffe zurückfährt. Nun soll sogar die Quarantäne-Anordnung für Kontaktpersonen von Infizierten fallen, weil bis zu 80 Prozent der Bevölkerung durch eine vorherige Infektion oder eine Impfung eine Immunität vorweisen. Es ist ein riesiger Schritt in Richtung Normalität. In Großbritannien wehrt sich die Regierung gegen Lockdown-Forderungen – obwohl es mehr Infektionen gibt denn je.
Mit Corona leben – wird das bald möglich sein, ohne dass der Staat versucht, die Kontrolle über das Virus zu behalten? Martin Kulldorff ist Epidemiologie-Professor an der Harvard Medical School und Mitautor der umstrittenen „Great Barrington Declaration“, die im Oktober 2020 großen Protest von Wissenschaftler-Kollegen ausgelöst hatte.
Kulldorff plädierte damals dafür, sich bei Maßnahmen auf den Schutz der Vulnerablen zu konzentrieren, statt Lockdowns für alle zu verordnen. „Die Verbreitung des Virus wird dadurch nur verzögert. Sobald der Lockdown zurückgefahren wird, breitet sich das Virus wieder aus“, sagt Kulldorff im Gespräch mit WELT AM SONNTAG.
Er verweist auf Schweden, das in der Pandemie weder auf Lockdowns noch auf generelle Maskenpflicht setzte. Seit Monaten verzeichnet das Land im europäischen Vergleich wenige Corona-Tote, bislang fällt die Winter-Welle aus. Ist die Pandemie dort schon vorbei? Kulldorff hält das für möglich, sagt, man müsse die Daten noch einige Wochen beobachten, um sicher zu sein.
„Diese Pandemie“, sagt er, „wird überall vorbeigehen – so wie jede Pandemie in der Geschichte. Die Frage ist nur, wann.“
*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona“ ist, zitieren wir den Text. Verweise und Kommentare der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.