In einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie darf sich der Staat nicht anmaßen, dem einzelnen Menschen eine bestimmte ärztliche Behandlung aufzuzwingen, das gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass es sich um neu entwickelte Impfmethoden handelt, deren Langzeitfolgen nach einem relativ kurzen Zeitabschnitt der Anwendung keineswegs abschließend verlässlich beurteilt werden können. Eine allgemeine Impfpflicht ist schlicht verfassungswidrig.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin kein Impfgegner, bin bereits dreimal geimpft und empfehle insbesondere den Menschen, die zu den sogenannten vulnerablen Gruppen gehören, sich impfen zu lassen.
Aber ich kenne auch eine nicht geringe Zahl von Menschen, die durch gesunde Lebensführung und Achtsamkeit allenfalls asymptomatisch an Covid-19 erkrankt sind, obwohl sie nicht geimpft sind und mit vielen potenziellen Virenträgern in Kontakt kommen. Dass es Menschen dieses Profils in durchaus großer Zahl in Deutschland gibt, bleibt leider von der Politik und der Mehrheit der unterschiedlichen Experten unbeachtet.
Mindestens eine Überprüfung wert
Wenn man bedenkt, dass immerhin knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland bisher nicht geimpft sind, aber ein Großteil davon gleichwohl nicht schwerwiegend erkrankt ist, wäre es doch mindestens einer Überprüfung wert, in welchem Ausmaß das Salutogenese-Modell bei der Abwehr einer Erkrankung an Covid-19 erfolgreich sein kann und erfolgreich ist.
Bei Kindern und Jugendlichen, die an Covid-19 erkranken, ist der Krankheitsverlauf in der Regel eher milde, die im Rahmen der Genesung bewirkte natürliche Immunisierung ist unstreitig weitaus nachhaltiger als eine Impfung.
Leider habe ich keine Übersicht über gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Impfungen bei Kindern und Jugendlichen. Soweit mir bekannt ist, besteht durchaus Anlass zur Sorge, dass erhebliche Impfschädigungen in nicht unerheblicher Größenordnung auftreten.
Eine allgemeine Impfpflicht wird die schon jetzt erkennbaren Spaltungstendenzen in der Gesellschaft auf hochgefährliche Weise verstärken bis hin zu Gewaltausbrüchen. Das ist nicht zu verantworten.
Mit Recht wird von denen, die in der Politik noch einen kühlen Kopf bewahren, vor allem die Frage gestellt, wie eigentlich eine allgemeine Impfpflicht durchgesetzt werden soll? Will man etwa den wahnsinnig gewordenen Juristen folgen, die allen Ernstes Freiheitsstrafen für Impfunwillige für gerechtfertigt halten? Sind dafür vielleicht die „schöneren Gefängnisse“ gedacht, die der sich neu formierende Berliner Senat bauen will?
Impfunwillige müssen sich bereits heute mit zahlreichen Einschränkungen abfinden. Robert Habeck will ihnen sogar einen auf sie begrenzten Lockdown zumuten. Im Alltag sind sie zunehmenden Anfeindungen und Mobbing ausgesetzt. Sollen sie jetzt durch fortgesetzte Zwangsgelder auch noch in die Armut getrieben werden? Nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik China besteht eine allgemeine Impfpflicht.
Nicht mal alle Impfwilligen können geimpft werden
Besonders grotesk ist das Ansinnen einer allgemeinen Impfverpflichtung, wenn es zugleich dem Staat nicht gelingt, allen Impfwilligen die Möglichkeit zu bieten, sich vollständig impfen zu lassen. Wenn beispielsweise in Berlin viele Menschen in der kalten Witterung Schlange stehen müssen, um eine Impfung zu erhalten, schließlich aber wieder nach Hause geschickt werden, dann ist das leider keine Ausnahme.
Wenn nicht wenigen älteren Menschen bis heute keine Booster-Impfung verabreicht wurde, sind das erkennbar ebenso nicht nur bedauernswerte Einzelfälle, denn bisher haben nach dem Dashboard des Robert-Koch-Instituts nur etwa neun Prozent der Bevölkerung eine Auffrischungsimpfung erhalten.
Die Einführung einer allgemeinen Impfverpflichtung ist also nicht nur nicht verfassungskonform, sie ist auch ein untaugliches Instrument zur Verhinderung der Ausbreitung des Covid-19-Virus.
Sie dient nur der Vernebelung der Tatsache, dass die Politik offensichtlich nicht imstande ist, sich auf die Maßnahmen zu verständigen, die wirklich der Gesunderhaltung der Menschen dienen, einschließlich der Vorkehrungen, die erforderlich sind, damit alle, die eine Impfung wünschen, diese rechtzeitig zu annehmbaren Kosten erhalten.
Otto Schily war von 1998 bis 2005 Bundesminister des Innern. Er war Mitgründer der Partei Die Grünen und wechselte 1989 zur SPD.
*Weil das Thema außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise und Kommentare der Leserschaft lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.