… Erdogan und seine Drohung, Diplomaten auszuweisen
MehrGemeinsam mit neun anderen Kollegen ist der deutsche Botschafter Jürgen Schulz in der Türkei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zur Persona non grata erklärt worden. „Sie müssen von hier verschwinden, wenn sie die Türkei nicht verstehen“, sagte Erdogan. Zu den Vertretern westlicher Staaten, die „verschwinden sollen“, gehören neben Deutschland auch die USA und Frankreich.
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Das Interview des Dlf mit Jürgen Hardt am 25.10.2021:
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Die Drohung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, zehn westliche Botschafter, darunter den deutschen, zu „unerwünschten Personen“ zu erklären, hat in Berlin Besorgnis ausgelöst.
Der Anlass für Erdogans Wut: Die Diplomaten hatten sich in einem offenen Brief für die Freilassung des Istanbuler Kulturförderers Osman Kavala eingesetzt. Der 64-Jährige sitzt seit über vier Jahren ohne Urteil, aber dafür mit ständig wechselnden Anklagen wegen „Umsturzversuchen“ in Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon 2019 Kavalas Freilassung gefordert. Im September hatte der Europarat der Türkei unter Verweis auf das EGMR-Urteil mit Disziplinarmaßnahmen gedroht, falls sie Osman Kavala nicht bis Ende November freilässt.
Der Rauswurf der Diplomaten wäre ein politischer Affront, der nicht ohne Gegenreaktionen bleiben dürfte. Vom Auswärtigen Amt in Berlin hieß es, die Äußerungen des türkischen Präsidenten Erdogan habe man zur Kenntnis genommen. Man berate darüber intensiv mit den anderen betroffenen Ländern.
Der CDU-Politiker Jürgen Hardt sagte im Dlf, er setze darauf, dass ein Eklat noch abgewendet werden könne. Er habe das Gefühl, dass außerhalb des unmittelbaren Umfelds von Erdogan die große Sorge bestünde, dass ein solcher Schritt einen Bruch bedeute, der der Türkei massiv schaden würde.
„Die Türkei ist auf unsere Zusammenarbeit, Unterstützung und Kooperation angewiesen in der gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Situation“, sagte er. „Erdogan steht innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand.“
Viele Regimekritiker sitzen in der Türkei im Gefängnis. Auch Kulturschaffende sehen sich Repressionen durch das Regime von Präsident Erdogan ausgesetzt. Daher haben deutsche Kulturinstitutionen zur Solidarität mit ihnen aufgerufen.
Er geht aber davon aus, dass in der Causa Kavala und der damit verbundenen Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, spätestens Ende November im Ministerkomitee des Europarats klare Worte gefunden werden müssten. „Im Übrigen geht es ja um die Umsetzung eines Europaratsurteils und nicht um irgendwelche Einmischungen von außen in die Türkei, sondern die Türkei ist ja selbst praktisch Gründungsmitglied des Europarats“, so Hardt.
Es drehe sich alles um die Frage des Machterhalts von Erdogan in der Türkei. „Das ist ja seit Jahren bereits – spätestens seit dem Putschversuch – das dominierende Thema für Erdogan selbst, wie kann ich an der Macht bleiben.“ Dafür nutze er alle Instrumente und riskiere die Zukunft der Türkei und die guten Beziehungen der Türkei. „Mehr und mehr türkische Politiker auch seiner eigenen Partei, nach meinem Eindruck, sehen das so“, sagte Hardt.
In der derzeitigen Situation, könnten „maßvolle Worte und entsprechendes Handeln des Außenministers“ viel bewirken. „Ich glaube, dass man darauf auch setzt, dass letztlich eine solche Entscheidung nicht umgesetzt wird und dass das dann letztlich auch dazu führt, dass wir zu einigermaßen normalen Verhältnissen zurückkommen“, sagte Hardt.
Quelle grün-kursives Zitat & komplettes Interview lesen
Erdogan ist offenbar zu dämlich, sich läppische zwei oder drei Grafiken anzusehen. Nämlich einerseits den Langfristchart der türkischen Handelsbilanz (auf Statista) und den der türkischen Lira zum Euro (z.B. auf ‚finanzen.net‘ – zum US-Dollar wäre es dasselbe in grün).
Da hätte er eine Chance, zwei ganz einfache Tatsachen in seine offenbar unterbelichtete Rübe zu kriegen: Die Handelsbilanz der Türkei ist seit Jahren grottenschlecht. Das Defizit schwankt so in etwa grob zwischen Minus 105 Milliarden Dollar und Minus 30 Milliarden; die letzte Zahl betrug – 50.
Und parallel dazu fiel der Kurs der türkischen Lira ins Bodenlose, u.a. weil Erdogan, nun sagen wir mal, eine sehr merkwürdige Auffassung vom Handwerkszeug einer Zentralbank hat.
Musste man 2016 noch weniger als 4 Lira für einen Euro bezahlen, waren es zuletzt nahezu 12.
Im Verhältnis dazu hat sich das Handelsdefizit kaum gebessert.
Das heisst aber: Die Türkei ist auf Importe ANGEWIESEN, und sie muss IMMER MEHR DAFÜR BEZAHLEN. Zugleich gehen die Währungsreserven zurück.
„Auf der Finanzierungsseite der Aussenwirtschaft zeigt die Türkei erneut ihre Schwachstelle: die Abhängigkeit vom Auslandskapital. Denn das nachfragegestützte Wirtschaftswachstum mit seinem hohen Leistungsbilanzdefizit benötigt einen steten Zustrom von Investitionen oder Krediten aus dem Ausland. Die ausländischen Direktinvestitionen verloren 2020 an Bedeutung, sie sanken nach Berechnungen der UNCTAD [United Nations Conference on Trade, Agriculture, and Development] um 19%…“ (‚Export Manager‘, 10.2.21, „Türkei erkauft Wachstum mit Inflation“).
– Das ist wie die Titanic, bei der das Steuerruder festgefroren ist und deren Kurs schnurstracks auf einen Eisberg zuläuft. Der Mann gräbt sich sein eigenes wirtschaftliches und politisches Grab, ohne es offenbar zu merken. Denn irgendwann wird die Inflation (siehe dazu ebenfalls Statista), die zwischen September 2019 und Sept. 2021 von knapp 10% auf fast 20% gestiegen ist (wobei die Lebensmittelpreise besonders besorgniserregend stiegen) sein politisches Kapital bei den Wählern aufbrauchen.