Mitten in der Sondierungsphase …
Mehr… muss Berlin eine Richtungsentscheidung treffen: Wie soll der zukünftige Umgang mit den Taliban aussehen? Die EU macht Druck, Hilfsgelder aufzustocken, obwohl die Islamisten immer brutaler regieren. Besonders eine Partei will nun Härte zeigen.
„Der Winter kommt.“ Es ist eine kurze Antwort auf die große Frage, wie der Westen mit den Taliban umgehen soll. Gegeben hat sie der Top-Diplomat der EU, Josep Borrell, der damit den Zeitdruck auf die Mitgliedsländer erhöhen will. Sein Appell: Wenn es in Afghanistan weitergehe wie bisher, drohe ein „wirtschaftlicher und sozialer Zusammenbruch.“ Mangel an Lebensmitteln, verstärkt durch Dürre und Kälte, würde eine Massenflucht auslösen und die Region ins Wanken bringen.
Einen scheinbaren Ausweg zeigt der Außenbeauftragte ebenfalls auf. Europa müsse sich mehr engagieren, und zwar schnell. Eine diplomatische Vertretung in Kabul sei nur eine „Frage des Wann, nicht des Ob“. 670 Millionen Euro Nothilfe hat die EU seit der Machtübernahme der Islamisten bereits zugesagt.
Aber Borrells Aufruf vor Beratungen der EU am Donnerstag zur Zukunft Afghanistans ist unmissverständlich: Genug sei das noch lange nicht. Zudem müssten die Taliban „eingebunden“ werden, mit dem Ziel der Wahrung der Menschenrechte, das sei auch die Position von Katar, wo derzeit die Verhandlungen laufen.
Damit stehen die Islamisten kurz vor einer offiziellen Anerkennung auf EU-Ebene, weniger als drei Monate nach der gewaltsamen Eroberung Kabuls. In dieser Woche haben sie ihr „Emirat Afghanistan“ ausgerufen. Die Strategie der Taliban, den Westen mit dem Elend der eigenen Bevölkerung und Flüchtlingen zu erpressen, geht auf. Geld fließt ins Land und damit unweigerlich auch in die Hände der Taliban. Obwohl die Islamisten selbst eine der Ursachen für die Not sind.
Berlins Schlüsselrolle bei Verhandlungen
Das Beharren auf Menschenrechten ist offenkundig zur hohlen Phrase verkommen. Menschenrechtler berichten täglich von Gräuel in dem Land, zuletzt von einem Massaker an der Minderheit der Hazara. Die Taliban schränken für Frauen den Zugang zu Bildung und Berufen ein, öffentliche Hinrichtungen und Prügelstrafen sind dokumentiert.
Der Druck aus Brüssel trifft Deutschland in einer heiklen Phase. Mitten in den Sondierungen für die nächste Bundesregierung steht eine folgenreiche Weichenstellung an. Will man sein finanzielles Engagement in Afghanistan fortsetzen? Ohne Grundsatzdebatte? Oder einen neuen Kurs einschlagen? Das zumindest deutet sich bei den Grünen und auch der FDP an, den möglichen Koalitionspartnern.
Berlin kommt eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen mit den Taliban zu. Einerseits als größter Geldgeber nach den USA. Der Einsatz deutscher Soldaten und Entwicklungshelfer hat in den vergangenen 20 Jahren mehr als 17,3 Milliarden Euro gekostet, teilte die Bundesregierung nun auf Anfrage der FDP mit. Aber auch, weil Berlin mit dem Diplomaten Markus Potzel in Katar einen guten Gesprächskanal zu den Islamisten hat.
Im Auswärtigen Amt hofft man, über die Perspektive von Zahlungen weiteren Einfluss auszuüben. Außenminister Heiko Maas (SPD) hat bei den Vereinten Nationen in New York die Linie vorgegeben: Die Taliban müssten „Menschenrechte – besonders die Frauenrechte“ einhalten, sich „klipp und klar“ von terroristischen Gruppen abgrenzen und Vertreter anderer Bevölkerungsgruppen in die Regierung aufnehmen. Auch die EU formulierte diese Ziele, jedenfalls auf dem Papier.
So denken die Parteien
„Davon ist nichts eingelöst worden, die Taliban sind völlig unglaubwürdig“, sagt Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour zu WELT. Er warnt: Eine Vertretung Brüssels in Kabul komme einer offiziellen Anerkennung „gefährlich nahe“. Daher müsse die Bundesregierung jetzt ein deutliches Zeichen setzen, dass sie die Taliban nicht anerkenne. „Worauf warten wir denn noch?“, fragt Nouripour. Natürlich müsse eine Hungersnot verhindert werden, Nothilfe über die Vereinten Nationen geleistet werden. „Aber wir dürfen nicht weiter über finanzielle Anreize diskutieren, sondern müssen klare Ansagen machen.“
Auch FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff sieht „wenig Hoffnung“ auf eine gemäßigte Politik der Taliban. Aber mit Blick auf die Nothilfe sei allerdings „eine kleine Präsenz“ des Auswärtigen Dienstes in Kabul „denkbar“, sagt Lambsdorff zu WELT. Die Versorgung der Menschen mit Weizen, Speiseöl, Grundnahrungsmitteln und medizinischen Basishilfen sei angesichts des nahenden Winters menschlich geboten.
Den jüngsten Äußerungen des EU-Außenbeauftragten erteilte Lambsdorff aber eine Absage, sie seien offenbar nicht mit abgestimmt gewesen. „Es braucht dringend einen EU-Gipfel, um alle weiteren Schritte zu koordinieren“, sagt Lambsdorff.
In der CDU dagegen zeigt man sich offen für eine EU-Vertretung in Kabul. Diese könne dann von allen Mitgliedstaaten genutzt werden, sagt Außenexperte Jürgen Hardt zu WELT. „Deutschland ist daran interessiert, Gesprächskanäle zu den Taliban offenzuhalten.“ Hilfsgelder dürften aber nicht in korrupten Strukturen versickern, zudem müsse sichergestellt werden, dass von Afghanistan „keine terroristische Bedrohung für die Welt“ ausgehe. Hier müsse die EU mit einer Stimme sprechen.
Der Entwicklungshelfer und Publizist Thomas von der Osten-Sacken auf, der mit seinem Verein „Wadi e.V“ seit drei Jahrzehnten im Nahen Osten Projekte zur Selbsthilfe leitet, sieht Deutschland grundsätzlich auf falschem Kurs. In Syrien ist Berlin bereits seit Jahren größter Geber für Hilfsleistungen. „Aber da kommt nichts, keine Bedingungen“, sagt Osten-Sacken. Die Zahlung von Nothilfe sei daher nichts anderes als eine „gleichzeitig hilflose und zynische Scheckbuchdiplomatie“. Solange Machthaber wie der syrische Diktator Assad keine direkte Gefahr für Europa darstellten, ließe man ihnen Menschenrechtsverletzungen durchgehen und Millionen fließen.
Das Ergebnis: „Deutschland betoniert mit dem Geld der Steuerzahler eine unerträgliche Lage vor Ort“, sagt Osten-Sacken. „Diese Realität gerät dann aber schnell und gerne in Vergessenheit.“ So sei es in Syrien geschehen, das Gleiche drohe nun auch in Afghanistan.