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… ist in Afghanistan eine Ordnung zusammengebrochen, die über 20 Jahre hin mit hohem materiellen und kulturellen Aufwand von einer Allianz westlicher Staaten – im festen Glauben, etwas Kluges und Gutes zu tun – aufgebaut worden war. Der Zusammenbruch geschah ohne jedes Aufbäumen der afghanischen Regierung und ihrer Streitkräfte, und auch ohne größeren Widerstand der Bevölkerung. Dieser Zusammenbruch kann nicht als ein einmaliger Unglücksfall verbucht werden oder als eine bloße „Fehleinschätzung“ einer bestimmten Situation. Er muss als Ergebnis einer längeren Fehlentwicklung verstanden werden, und zwar einer inneren Fehlentwicklung in Afghanistan, die nicht nur bestimmte politische Eliten betrifft, sondern tiefer in die Gesellschaft reicht und die Wirtschaft und die ganze Daseinsweise der Bevölkerung berührt.
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Es liegt also eine Krise in der zivilisatorischen und institutionellen Entwicklung vor, und es handelt sich nicht nur um einen afghanischen Sonderfall, sondern eine solche Krise ist in dem Kreis der Länder, die im 20. Jahrhundert ihre politische Unabhängigkeit erkämpft haben, häufiger anzutreffen. Aber sie ist in der „Dritten Welt“ auch nicht der Regelfall, sondern es gibt viele Länder und ganze Weltregionen, die ihre Entwicklung besser gemeistert haben. Deshalb führt auch die pauschale Schuldzuweisung, die Krise sei ein Erbe des Kolonialismus und im Grunde seine Fortsetzung, falsch und lenkt ab von den inneren Ursachen dieser Krise.
Ein völlig unverhältnismäßiges Wachstum der Bevölkerung
Ein Phänomen macht diese innere Problematik eigentlich unübersehbar: das rasante Bevölkerungswachstum, das in den Krisenländern nach der Unabhängigkeit eingesetzt hat, und das völlig entkoppelt vom Stand der Wirtschaft, der Produktivität, der Infrastrukturen und der sozialen Institutionen – insbesondere der Geschlechterrollen und der Familienstrukturen – geschah. Dieses Wachstum ist zur Hypothek für viele der jungen Staaten geworden, insbesondere in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten. Aber auch in einzelnen Ländern Süd- und Ostasiens und in Süd- und Mittelamerika ist das der Fall. So konnte die positive Errungenschaft der Unabhängigkeit gar nicht ihre Früchte tragen. Das rasante Bevölkerungswachstum führte aber auch zur Auflösung älterer sozialer Bindungen und Zusammenhänge.
Ausländische Beobachter sprechen häufig und oft nicht ohne Bewunderung von der „unglaublich jungen Bevölkerung in den Straßen der Großstädte“ (die Altersgruppen unter 25 Jahren stellen die Mehrheit der Bevölkerung). Aber sie erkennen nicht, dass es sich um eine entwurzelte, fragmentierte Bevölkerung handelt, die (vorschnell) das Land verlässt, ohne städtische Arbeitsmärkte, Wohnungsmärkte und Möglichkeiten zur Familiengründung zu haben. So gleichen die Großstädte eher großen Sammellagern einer Passivbevölkerung und entsprechen überhaupt nicht dem Vorbild einer bürgerlichen urbanen Aktivgesellschaft, das Europäer vor Augen haben. Diese Bildung einer entwurzelten Passivbevölkerung in den Städten und die Verödung des Landes durch den Exodus in die Städte hat dazu geführt, dass die säkularen politischen Eliten, die in den Unabhängigkeitsbewegungen noch die Führung haben und zunächst über lange Jahre die Regierung stellten, durch islamistische Kräfte ersetzt wurden. Aber es ist durchaus möglich, dass die Bevölkerungsdynamik auch die islamistischen Regime überfordert – ohne dass deren Sturz oder ihr Dahinsiechen schon automatisch eine Wende zum Besseren bringen würde.
Die verschüttete Entwicklungsdebatte
Es ist schwer zu sagen, auf welche Weise und in welchen Zeiträumen diese Entwicklungskrise überwunden wird. Aber einige Eckpunkte lassen sich schon markieren:
- Die Bedeutung der eindeutigen Zuordnung von Verantwortung. Verantwortliche Einheiten mit eindeutigen Verfügungsrechten und Haftbarkeiten muss es sowohl auf der Ebene einer gesamten Nation als auch auf der lokalen Ebene und auf der familiären Ebene geben.
- Die Bedeutung des Landes und der Landwirtschaft.
- Die Bedeutung größerer territorialer Märkte (Produkte, Arbeitskräfte), elementarer Infrastrukturen (Mobilität, Wasser, Schulwesen) und niedrigschwelliger Industrien.
- Die Bedeutung eines rudimentären, flächendeckenden Sicherheits- und Rechtsstaats.
Bei alledem darf man nicht alle Elemente einer freiheitlichen Demokratie erwarten, sondern muss oft nach dem Prinzip „lieber weniger, aber zugänglich“ verfahren. Man muss sich auf Phasen langsamer Entwicklung mit schmerzhaften Einschnitten und längeren Durststrecken einstellen. In diesem Zusammenhang ist es durchaus interessant, in die Realgeschichte Europas und der westlichen Welt zu schauen. Was geschah eigentlich in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit, vor den großen sozialen und politischen Umwälzungen?
Lange Zeit gab es eine durchaus offene, wissenschaftliche Entwicklungsdebatte, die sich auf die Unterschiede zwischen Nationen bezog. Hier stellte man die Frage, warum der Durchbruch zu einer modernen Ordnung in Europa stattfand und nicht anderswo. Welche Voraussetzungen spielten dabei eine Rolle? In Bezug auf Entwicklungs- und Schwellenländer wurde gefragt, warum bestimmte Nationen erfolgreich sind und andere weniger – oder sogar scheitern. Dabei ging es nicht um irgendein naturgegebenes „Wesen“ von Völkern, sondern um zivilisatorische und institutionelle Sachverhalte und geschichtliche Entwicklungspfade.
Nur als Beispiele seien hier einige Bücher angeführt:
- D.C. North / R.P. Thomas (1973), The Rise of the Western World
- D.C. North (1988), Theorie des institutionellen Wandels
- D. Landes (1998), Wohlstand und Armut der Nationen
- D. Acemoglu / J.A. Robinson (2012), Warum Nationen scheitern
Doch ist diese Entwicklungsdebatte seit geraumer Zeit von der Globalisierungsdebatte verdrängt worden, die sich auf globale Synergien und Konflikte bezog. Da ging es darum, die beste Form einer „global governance“ zu finden. Gab es Probleme, so musste es sich um Fehler im globalen System handeln. Die fatale Konsequenz: Die Lösung wird immer wieder von neuem auf ein globales Spielfeld verlegt, das nur Gesamtlösungen oder gar nichts erlaubt (die „eine Welt“). So wird jeder selbstkritische Lernprozess im Inneren der Entwicklungs- und Schwellenländer schon im Ansatz zerstört.
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