Das Kind liegt im Brunnen.
[…] Krause: Wirklich bedeutsam ist die Krankheitslast. …
… Man muss sich nur einmal vorstellen, wir würden den technisch-diagnostischen Aufwand, den wir derzeit für Covid betreiben, auf andere Krankheitserreger ausweiten. Wir würden Millionen Fallzahlen registrieren. Aber wollen wir das? Als Arzt habe ich gelernt, dass eine Diagnose nicht allein auf Laborbefunden beruhen darf und erst recht nicht die Therapie. In der Epidemiologie, in der quasi die Bevölkerung den Patienten darstellt, gilt das Gleiche. Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen. Schon gar nicht, wenn politische Entscheidungen und ökonomische Anreize immer wieder zu veränderten Teststrategien führen – und damit die Wahrscheinlichkeit für positive Laborbefunde schwankt.[…]
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Schon früh in der Pandemie kritisierte der Infektionsepidemiologe Gérard Krause die Fixierung auf Labordiagnostik und Fallzahlen. Er warnt vor einer verzerrten Risikowahrnehmung – und erhebt einen besonders schweren Vorwurf.
Professor Gérard Krause leitete 14 Jahre den Bereich Infektionsepidemiologie am Robert-Koch-Institut, heute die Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Als Arzt und Infektionsepidemiologe hat er eine etwas andere Sicht auf die Pandemie als Virologen oder Mathematiker.
WELT:Mitten im Sommer steigen in Deutschland die Fallzahlen wieder an – müssen wir uns Sorgen machen?
Gérard Krause: Sorgen müssen wir uns machen, wenn auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen und die der Todesfälle deutlich ansteigen. Das ist im Moment nicht erkennbar. Dass die Fallzahlen steigen, ist nicht überraschend: Die Maßnahmen wurden gelockert, durch die Urlaubsreisen hat die Mobilität zugenommen. Dazu kommt, dass die Delta-Variante deutlich leichter übertragbar ist. Die Kombination dieser Faktoren führt zu mehr Fällen.
WELT: Sie haben in der Vergangenheit kritisiert, dass politische Maßnahmen an Fallzahlen gekoppelt werden.
Krause:Es ist sinnvoll, die Fallzahlen mit in Betracht zu ziehen. Aber wenn man sie zum alleinigen Richtwert aller Maßnahmen macht, führt das zu falschen Schwerpunkten und vermeidbaren Nebenwirkungen. Es kann auch verhängnisvoll sein, sie als Richtwert gesetzlich zu verankern – den Verantwortlichen vor Ort bleiben dann kaum noch Möglichkeiten für eine örtliche und ganzheitliche Strategie. Und ja, ich habe seit dem Frühjahr letzten Jahres in diversen Beratungen und auch öffentlichen Anhörungen des Bundestages und des Niedersächsischen Landtages immer wieder auf diese Problematik hingewiesen. Durch die aktuelle Situation sehe ich mich bestätigt.
WELT: Woran sollten wir uns denn orientieren?
Krause: Wirklich bedeutsam ist die Krankheitslast. Man muss sich nur einmal vorstellen, wir würden den technisch-diagnostischen Aufwand, den wir derzeit für Covid betreiben, auf andere Krankheitserreger ausweiten. Wir würden Millionen Fallzahlen registrieren. Aber wollen wir das? Als Arzt habe ich gelernt, dass eine Diagnose nicht allein auf Laborbefunden beruhen darf und erst recht nicht die Therapie. In der Epidemiologie, in der quasi die Bevölkerung den Patienten darstellt, gilt das Gleiche. Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen. Schon gar nicht, wenn politische Entscheidungen und ökonomische Anreize immer wieder zu veränderten Teststrategien führen – und damit die Wahrscheinlichkeit für positive Laborbefunde schwankt.
WELT: Ist es in der Pandemie nicht ein Segen, dass wir über die Testmöglichkeiten als Frühwarnsystem verfügen?
Krause:Die modernen Testmethoden und die sehr hohe Testkapazität stellen ein wertvolles Instrument in der Pandemiebekämpfung dar – kein Zweifel. Aber sie müssen sorgfältig und mit viel Sachkenntnis interpretiert werden. Der starre Fokus auf Laborwerte noch dazu eines einzigen Erregers ist nicht hilfreich zur ganzheitlichen Betrachtung der Lage. Wir müssen stattdessen im Blick behalten, welche Infektionen wie häufig und bei welchen Bevölkerungsgruppen zu schweren Erkrankungen führen, also zu Arbeitsunfähigkeit, Behinderung, stationärem Behandlungsbedarf oder gar Tod.
WELT: In der Pandemie lautet die Strategie: testen, testen, testen – ist das nicht eine Notwendigkeit?
Krause:Die Strategie hat den Vorteil, dass wir nicht die sonst übliche Untererfassung haben. Aber wir erhalten nun Signale, die wir normalerweise nie sehen würden. Wir müssen uns immer bewusst sein, wie radikal das System geändert wurde. Normalerweise gehen Menschen mit Atemwegserkrankungen erst zum Arzt oder zur Ärztin, wenn sie sich wirklich schlecht fühlen oder eine Krankschreibung benötigen. Dann erfolgt meist allein auf Basis des klinischen Bildes die ärztliche Diagnose einer viralen Infektion, ohne dass eine Labordiagnostik eingeleitet wird. Dies ist, medizinisch gesehen, auch sachgerecht und effizient so. Zu einer offiziellen Meldung kommt es aber nur durch eine Labordiagnostik. Es gibt ein paar zusätzliche Erfassungssysteme, die hierzu ergänzende Daten liefern, aber das Netz dieser freiwilligen Systeme ist nicht dicht genug. Epidemiologen wissen das alles zu berücksichtigen.
WELT:Das hat sich durch die Pandemie grundlegend geändert.
Krause: Wir haben einen riesigen diagnostischen Apparat für einen einzigen Erreger aufgebaut, in dem wir Leute testen, selbst wenn sie keine Beschwerden haben. Würde man mit jedem Nasenabstrich auch auf die gängigen fünf oder zehn anderen Atemwegsinfektionen testen, könnte rasch der Eindruck entstehen, wir hätten zusätzliche enorme Epidemien. Zum Beispiel würden wir häufig Meningokokken finden – um nur einen Erreger zu nennen, der im Gegensatz zu Covid-19 bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich häufig dramatische Erkrankungen verursacht. Würden wir dann auch für diese anderen Krankheiten alle Schulen und Universitäten auf Monate schließen? Was ist mit den vielen Durchfallerkrankungen, wie Norovirus zum Beispiel, das in Altenheimen seit Jahrzehnten eine hohe Krankheitslast verursacht?
WELT: Aber im Unterschied zu den bekannten Viren handelt es sich bei Sars-CoV-2 um ein neuartiges Virus, gegen das es kaum einen Immunschutz in der Bevölkerung gab und das für manche sehr gefährlich ist.
Krause: Natürlich, deswegen müssen wir diese Pandemie weiterhin als ernste Bedrohung begreifen. Zugleich ändert sich aber durch die zunehmende Zahl Geimpfter und Genesener das Gefahrenpotenzial sehr deutlich. Das Risiko wird maßgeblich davon bestimmt werden, wie gut unsere Immunisierung gegen die jetzigen Virusvarianten uns auch gegen künftige Varianten schützt.
WELT: Sollte man nicht die Fallzahlen so lange klein halten, bis auch Kinder und Jugendliche die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen?
Krause:Nach dieser Logik müsste man die Kindergärten über Jahre oder Jahrzehnte schließen, bis es eine Impfung gegen RSV gibt – dieses Virus ist für Kinder viel gefährlicher als Sars-CoV-2. Nach meinem Eindruck findet keine adäquate Risikowahrnehmung statt. Definitiv erkranken Kinder nur selten schwer an Covid-19. Aber es wird zunehmend deutlich, dass viele Kinder an den Folgen von Kontaktbeschränkungen und Ausfall von Kinderbetreuung und Präsenzunterricht erkranken.
WELT:Seit Beginn dieser Woche veröffentlicht das Robert-Koch-Institut auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen im täglichen Lagebericht. Ist das ein Schritt hin zu einer differenzierten Bewertung der Pandemie?
Krause: Ja, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist aber, dass auch die Politik ihr Handeln nach einer differenzierten Gesamtbetrachtung ausrichtet – darauf kommt es an.
WELT:Am Donnerstag hat das RKI 213 neue Krankenhauseinweisungen wegen einer Covid-19-Erkrankung gemeldet. Zum Vergleich: In Deutschland kommt es pro Jahr zu rund 19 Millionen Krankenhauseinweisungen, das sind im Schnitt über 50.000 am Tag. Ab wann sollte der Wert ein Grund für Gegenmaßnahmen sein – hätten Sie dafür einen Vorschlag?
Krause: Genau darum geht es: Ab welcher Krankheitslast rechtfertigen sich gesamtgesellschaftliche Einschränkungen in Mobilität, Kontaktverhalten, Erziehung, Bildung, Kultur und Wirtschaft? Ich kann die Frage nicht für die Gesellschaft beantworten, aber mir scheint, Politik und Gesellschaft müssen die Frage dringend angehen.
WELT:Das RKI meldet inzwischen auch den Anteil der betreibbaren Intensivbetten, der von Covid-Patienten belegt wird. Er lag am Mittwoch bei 1,6 Prozent.
Krause:Das ist ein wichtiger Wert – mit Einschränkungen. Wie viele Betten die Krankenhäuser bereithalten und belegen, hat immer auch taktisch-ökonomische Gründe seitens der Krankenhäuser. Der absolute Wert der belegten Betten ist daher verlässlicher. Aber auch hier gilt, wir sollten uns ohnehin nie auf einen Indikator allein verlassen.
WELT:Wie können Politiker denn dann entscheiden?
Krause: Ich glaube, es ist ähnlich wie beim Umgang mit Wettervorhersagen. Eine Unwetterwarnung kommt auch nicht zustande, indem man allein die Regenmenge misst. Es gibt eine Vielzahl von Parametern, die komplex verrechnet und dann von Meteorologen interpretiert werden müssen. Und der Hochwasserstand gibt letztlich noch lange keine Auskunft darüber, wie viele Menschen ertrinken werden. Auch die Pandemie ist komplex, und die verschiedenen Parameter sollten – analog zu den Meteorologen – zunächst von Epidemiologen interpretiert werden, bevor die Risikobewertung und die Maßnahmen folgen.
WELT:Waswäre denn in Deutschland anders gelaufen, wenn wir uns weniger an den Fallzahlen orientiert hätten?
Krause:An mindestens einem entscheidenden Punkt hätte es wohl andere Schwerpunkte und Prioritäten gegeben. Wir hätten schon im Sommer und frühen Herbst des letzten Jahres viel mehr auf die Risikogruppen geachtet. Auch darauf hatten ja einige Kollegen und ich schon seit Frühjahr 2020 hingewiesen. Man hätte massive Maßnahmen ergreifen müssen, damit in den Altersheimen und bei den mobilen Pflegediensten die Hygiene und der Infektionsschutz funktionieren. Das hat man nicht getan, mit dem Argument, das sei nicht möglich. Aber dieses Argument ist nachweislich falsch. Wir hätten auf diese Weise zigtausend Todesfälle verhindern können, davon bin ich überzeugt. Ich denke auch, dass wir dann den Umgang mit Kinderbetreuung und Schulbetrieb risikogerechter gestalten hätten können und übrigens in Zukunft noch müssen.
WELT: Hätte man es besser wissen können?
Krause:Einerseits ja, aber andererseits kann man in einer komplexen Situation wie der Pandemie nicht alles richtig machen. Nachträgliche Kritik ist oft unfair, wenn man nicht selbst in einer komplexen Gemengelage von Einflüssen und Zwängen steckt. Zum Teil aber wurden die Beratungen der Politik etwas eindimensional geführt, sie wurden stark von Vertretern weniger Disziplinen dominiert. Mir schien, Fachleute aus den Sozialwissenschaften, der Epidemiologie und Public Health und selbst der klassischen Infektionsmedizin waren bei den Beratungen nur am Rande eingebunden.
WELT: Wie wird es weitergehen? Sind wir über den Berg, wenn alle in Deutschland ein Impfangebot hatten?
Krause: Es werden weniger Menschen erkranken, aber es gibt immer noch viele, die aus unterschiedlichsten Gründen keinen Zugang zur Impfung finden. Beispielsweise, weil sie keinen Hausarzt haben oder weil sie mit dem Online-Anmeldezentrum der Impfzentren nicht zurechtkommen – und ehrlich gesagt ist das ja auch nicht überall in Deutschland kundenfreundlich organisiert. Es genügt nicht, ein Angebot zu machen und darauf zu warten, dass Menschen mit guter Mobilität und Internetkompetenz davon Gebrauch machen. Wir kennen das in Public Health, zum Beispiel bei der Bekämpfung sexuell übertragbarer Krankheiten. Da wartet man auch nicht, bis die Leute freiwillig kommen, sondern geht zielgruppengerecht auf die Menschen zu. Das ist mühsame und harte Arbeit, aber es gibt dafür Methoden und Fachleute.
WELT: Es gibt aber doch Aktionen in diese Richtung.
Krause:Ja, das stimmt, aber nach meinem Eindruck viel zu wenig. Früher oder später werden sich diese Versäumnisse zeigen. Wir werden dann wieder einmal überrascht feststellen, dass manche, sehr relevante Bevölkerungsgruppen gar nicht richtig geimpft sind. Beispielsweise Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen, aus weltanschaulichen Gründen Impfungen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen oder aus anderen Gründen Distanz zu behördlichen Strukturen halten. Bei diesen Bevölkerungsgruppen drohen dann wieder Ausbrüche mit schweren Erkrankungen und Todesfällen.
Zur Person
Gérard Krause ist Arzt und Infektionsepidemiologe. Er arbeitete in Deutschland und in den USA in der Krankenhaushygiene, Epidemiologie, der inneren Medizin und der Tropenmedizin. Von 2000 bis 2013 leitete er die Abteilung für Infektionsepidemiologie am Robert-Koch-Institut. Seit 2011 ist er Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover. Zudem leitet er die Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig und ist Koordinator der Translational Infrastructure Epidemiology im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung.