WELTplus* online macht sich verdient um die Aufklärung in Sachen „Intensivbetten“.
Leider nur hinter der Bezahlschranke. Deshalb: Siehe ganz unten!!
Die Zahlen belegen: …
… Während des gesamten Verlaufs der Pandemie war Deutschland weit davon entfernt, in einen Engpass bei den Covid-Intensivbetten zu geraten. Kein Land der Welt hatte solche Reserven. Dennoch übten sich die Kliniken im Notstandsalarm. Warum denn nur?
MehrWenn wir hinterher, nachdem alles vorbei ist, einmal abgeklärt genug sein sollten für eine Zusammenfassung, dann müsste ein Zitat drüberstehen: „Die Intensivstationen arbeiten am Anschlag.“ Virologen und Modellierer gaben diesen Satz zum Besten, auch Mediziner, es ist der Lieblingssatz von Politikern. Vor allem aber ist dieser Satz eine sehr umstrittene, man kann sagen zweifelhafte Behauptung.
Nach dem Abgleich mit den Zahlen, mit allen Fakten und Faktoren in ihrer chronologischen Entwicklung durch die Pandemie müsste dieser Satz als unaussprechlich gelten. Und als unmoralisch. Denn was ist davon zu halten, wenn Ärzte, Ärztinnen, Pflegerinnen und Pfleger ihr Letztes geben, während ihren Krankenhausbetreibern, wie die Zahlen jetzt nahelegen, offenkundig etwas ganz anderes am Herzen liegt: gesunde Finanzen, Corona-Gewinnchancen sogar.
Diese Zahlen stammen aus dem Corona-Gutachten des Expertenbeirats des Bundesgesundheitsministeriums. In ihrer Analyse vom 30. April heben die Autoren hervor, „dass die Pandemie zu keinem Zeitpunkt die stationäre Versorgung an ihre Grenzen gebracht hat“. Im Gegenteil, die Experten sind voll des Lobes: „Trotz der Aufforderung der Bundesregierung im Frühjahr 2020, planbare Leistungen zu verschieben, konnte die stationäre Versorgung in Deutschland 2020 flächendeckend gewährleistet werden.“
Auch in höchster Corona-Bedrängnis war die Lage unkritisch. „Deutschland hatte zu keinem Zeitpunkt auf den Intensivstationen ein Problem“, sagt der Virologe Alexander Kekulé. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Göran Kauermann, Dekan der Statistischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München: „Insgesamt sehen wir während der dritten Welle keine starke Dynamik auf den Intensivstationen.“ Kauermann untersuchte mit seinem Team die Belegung der Intensivstationen seit Beginn der Pandemie. Ein offenes Geheimnis formuliert auch der Epidemiologe Klaus Stöhr: „Man hatte immer genug Betten.“
Zwar sind da die regionalen Unterschiede, die eine Klinik ist leistungsfähiger als die andere, die Fallzahlen unterscheiden sich von Region zu Region zum Teil enorm, es konnte an vereinzelten Häusern bis an die Belastungsgrenze gehen. Doch Tatsache ist auch: Andere europäische Länder stellten ihre Versorgung radikal auf Corona um. Alle planbare Operationen waren vorerst gestrichen. Deutsche Krankenhäuser waren dazu nicht gezwungen, der Notbetrieb fiel aus. Zwar war tatsächlich ein Großteil ihrer Intensivbetten belegt – allerdings nicht mit Corona-Patienten.
Die Betreiber sträubten sich
An den statistischen Auslastungsdiagrammen ist schnell zu erkennen: Mehr als 65 Prozent der Intensivbetten entfallen auf Notfall- und Wahloperationen, rund 18 Prozent auf Corona-Patienten, die restlichen zehn bis 15 Prozent sind gegenwärtig nicht belegt. Der Blick nach Frankreich ergibt ein anderes Bild. Dort entfallen 70 Prozent der Betten auf Covid-Kranke. Wahloperationen? Werden verschoben.
Der Virologe Klaus Stöhr kommentiert das nicht ganz ironiefrei so: „Zum Zeitpunkt der größten gesundheitlichen Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg hat es viele Vorteile, in Deutschland zu wohnen. Sechs von zehn Intensivbetten sind immer noch frei für alle, die operiert werden wollen und müssen.“
Das kommt auch den Krankenhausmanagern entgegen. In Deutschland sträubten sich während der Pandemie öffentliche wie private Betreiber, Operationen aufzuschieben. Die Gründe liegen auf der Hand. „Die könnten locker doppelt oder dreifach so viele Corona-Patienten aufnehmen. Sie machen es aber nicht, weil das kein Geld bringt“, sagt der leitende Intensiv-Chefarzt einer Uniklinik. So wie er formulierten es unter Anonymitätsvorbehalt auch andere gegenüber WELT.
„Der Rubel muss rollen“
So auch der bayerische Landkreispräsident Christian Bernreiter zu Beginn der zweiten Welle im Herbst: „Die Krankenhäuser, die für die Behandlung von Covid-19-Patienten ausgewählt wurden, haben brutal draufgezahlt. Die Fallpauschalen decken nicht die Behandlungskosten.“ Ein international anerkannter Intensivmediziner bestätigt: „Wir versuchen, Covid zu bewältigen und gleichzeitig den wirtschaftlichen Normalbetrieb zu ermöglichen. Der Rubel muss rollen.“
Es ist das Recht, es ist die Pflicht der Krankenhausmanager, auf die Bilanzen zu schauen. Aber es riecht nach Unredlichkeit, nach Vertrauensmissbrauch oder, wie namhafte Wissenschaftler unter der Hand schlicht sagen: nach Lüge, wenn einerseits Intensivmediziner und Intensivpflegepersonal unter der körperlichen und psychischen Last ihres Einsatzes fast zusammenbrechen – während gleichzeitig ihre Verwaltung versucht, mit möglichst vielen Operationen ein Schnitt zu machen.
Nirgendwo sonst auf der Welt wird so viel operiert wie in Deutschland. Das hat sich auch während der Pandemie nicht geändert. Kein anderes Land genehmigt sich so viele künstliche Hüften, Knieprothesen, Schrittmacher oder Aortenklappenersatz wie wir Deutschen. Diese Operationen sind lukrativer als Covid-Patienten – und sie alle binden Intensivkapazitäten.
Selbstkritische Mediziner haben vor mehr als einem Jahrzehnt begonnen, Ranglisten mit den häufigsten unnötigen Operationen zu erstellen. Die obersten Plätze belegen dabei Eingriffe wie Rückenoperationen, Gelenkersatz an Knie und Hüfte, Schilddrüsenoperationen, Kaiserschnitte, Mandeloperationen, Arthroskopien oder Aortenklappenersatz. „Da ist Deutschland wirklich Spitze“, sagt Frederico Guanais lakonisch. Er vergleicht für die OECD regelmäßig die Gesundheitssysteme in den 36 Mitgliedsländern: „Bei Klinikeinweisungen ist Deutschland ganz vorne mit dabei.“
Medizinisch ist dieser Operationsfuror nicht zu erklären. „Gibt es in Deutschland vielleicht eine andere Anatomie, andere Gelenke?“, witzelt Guanais. Schließlich machen so viele medizinische Eingriffe die Menschen nicht gesünder. Im Gegenteil, bei Lebenserwartung, Gesundheitszustand oder Mobilität im Alter liegt Deutschland im europäischen Vergleich meist im hinteren Drittel.
Es gib kaum ein Land auf der Welt, das ähnlich gut ausgebildete Ärzte hat wie Deutschland. Kaum ein Land der Welt ist technisch ähnlich gut ausgerüstet, kaum ein Land der Welt hat so viele Intensivbetten. Das ist die eine Seite. Die andere ist: Gesundheit hat sich in Deutschland in eine Ware verwandelt, wie Maschinen oder Autos. Aber in diesem Wirtschaftssystem Gesundheit ist eine Pandemie nicht vorgesehen.
2020 zahlte die Bundesregierung 10,2 Milliarden Ausgleich für frei gehaltene Corona-Betten. Als im September der breite Fluss der Mittel gestrichen wurde und das Geld nur noch sparsam und gestaffelt floss, gingen die meisten Krankenhäuser trotz Corona wieder in den normalen Operationsbetrieb über. Dennoch machte danach ein Refrain Karriere. Es ist der Satz: „Die Intensivstationen arbeiten am Anschlag.“
*Weil der Artikel und die Meinung außerordentlich wichtig für die Fragestellung „Überlastung Intensivbetten“ sind, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.