Die Belastung des Gesundheitssystems …
… ist das schärfste Argument für weitere Lockdowns. Und ein umstrittenes. Deutschland verfügt zwar über international vergleichsweise viele Intensivbetten. Doch für ein genaues Bild sind weitere Kriterien zu beachten.
MehrSeit Samstag ist die „Bundesnotbremse“ in Kraft. Im verschärften Infektionsschutzgesetz gilt bundesweit nun einzig der Inzidenzwert als Kriterium für die Auslösung von Ausgangssperren, Geschäfts- und Schulschließungen, also die Zahl positiv Getesteter je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen: Mal reichen 100, mal 165, mal 200, um eine Lockdown-Verschärfung in einer Region auszulösen.
Die Notwendigkeit einer solch pauschalen Regelung wird häufig mit einem anderen quantitativen Argument begründet: Tue man nicht mehr, dann stehe eine dramatische Überlastung der Intensivstationen bevor – womöglich des ganzen Gesundheitswesens.
Dieses Argument führte im Bundestag auch Minister Jens Spahn (CDU) an: „Ich verstehe die Logik nicht, dass einige immer warten wollen, bis die Intensivstationen überlastet sind, bevor sie Maßnahmen machen.“
Die Interessenvertretung der Deutschen Intensiv- und Notfallmediziner (Divi) warnt: „Wir wollen keine Zustände wie in London, wo Anfang des Jahres Rettungswagen stundenlang vor den Kliniken warten mussten“, sagte ihr Präsident Gernot Marx WELT AM SONNTAG.
Inzwischen lägen 30- bis 40-Jährige auf den Intensivstationen; auch 30-Jährige ohne Vorerkrankungen müssten beatmet werden, von den Beatmeten sterbe die Hälfte. Solche Aussagen erschrecken viele Menschen. Ist das in jedem Fall begründet?
Tatsächlich gibt das von der Divi und dem Robert Koch-Institut betriebene Intensivbettenregister keinen systematischen Aufschluss über das Alter der Patienten – insofern bleibt unklar, wie viel mehr jüngere Menschen genau betroffen sind.
Gleichwohl sind Tendenzen erkennbar: Die Sieben-Tage-Inzidenz scheint gegenwärtig stabil, während die Zahl der mit oder an Corona Verstorbenen gegenüber den früheren Pandemiewellen gesunken ist. Derweil steigt die Zahl der Intensivpatienten. Es sind häufiger jüngere Menschen betroffen, die vergleichsweise länger intensiv betreut werden. Die Medizin verliert also weniger Patienten, diese bleiben dafür länger auf Station.
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Einschub MEDIAGNOSE
Die Zahl der Intensivpatienten steigt eben nicht.
Unter dem Strich
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Zahlen der positiven PCR-Tests stiegen, Corona-Todesfälle rückläufig
Deutschland verfügt über international vergleichsweise viele Intensivbetten, es sind fast viermal so viele pro 100.000 Einwohner wie in Großbritannien. Deshalb versuchen manche Wissenschaftler, der Alarmstimmung mit anderen Zahlen zu begegnen: Deutschland erlebe seit Februar 2021 keine Über-, sondern im Vergleich zu den Jahren 2016 bis 2019 eine klare Untersterblichkeit, schreibt Thomas Mansky, Professor für Qualitätsentwicklung im Gesundheitswesen an der TU Berlin.
Das könne unter anderem daran liegen, dass die Hochbetagten geimpft seien und es zurzeit durch die Corona-Maßnahmen im Nebeneffekt keine gefährlichen Influenza-Erkrankungen gebe. Zudem stiegen durch Schnelltestungen zwar die Zahlen der positiven PCR-Tests, aber die Corona-Todesfälle nähmen ab.
Ähnlich sieht es der Medizinsoziologe Bertram Häussler vom privaten Berliner Iges-Institut: Die Todeszahlen seien seit Januar massiv zurückgegangen. Tatsächlich waren vor fast genau drei Monaten, zum 22. Januar, am Tag 859 Corona-Tote zu beklagen, 623 davon auf Intensivstationen. Zum 21. April wurden 331 Verstorbene gemeldet, davon 113 auf Intensivstationen. Die Arbeit auf diesen Stationen mag dadurch nicht leichter geworden sein, die Einschätzung einer generellen Hoffnungslosigkeit aber müsste sich verändert haben.
In Deutschland gibt es etwa 1300 Kliniken, die in der Lage sind, die laut Divi-Register zurzeit rund 5000 intensiv behandelten Corona-Patienten zu versorgen. Deutschland hat 500.000 Krankenhausbetten, je nach Zählweise sind maximal 30.000 davon Intensivbetten. Die innerhalb von sieben Tagen zusätzlich mobilisierbare Notfallreserve wird auf 10.000 Betten geschätzt.
Selbstverständlich kann die Lage in Ballungszentren wie Berlin ganz anders aussehen als etwa in Kiel. In der Kölner Uniklinik werden gerade wieder 30 Prozent der „elektiven Eingriffe“ verschoben. Dass eine Schwerpunktklinik wie die Berliner Charité am Anschlag arbeitet, ist keine Frage.
Allerdings steht mit dem vom Ex-Präsidenten des Technischen Hilfswerks Albrecht Broemme aufgebauten Sonderkrankenhaus im früheren Kongresszentrum eine Notfalleinrichtung bereit, die den Berliner Kliniken zur Entlastung sofort 500 leichte bis mittelschwere Covid-Fälle abnehmen könnte. Bisher ist es leer. „So groß ist die Not wohl doch noch nicht“, sagt Brömme. „Einen Zusammenbruch des Berliner Gesundheitswesens befürchte ich jedenfalls nicht.“
Andernorts ist man noch weiter davon entfernt. Das Uniklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) kann in Kiel und Lübeck gut 400 Intensivbetten betreiben. Pro Standort gemeldet sind im Augenblick jeweils 120, je bis zu 30 davon sind verfügbar. In Kiel wurden vergangene Woche acht Corona-Kranke intensiv behandelt, in Lübeck waren es fünf. „Wir müssen gegenwärtig keine anderen Operationen zurückstellen“, sagt UKSH-Sprecher Oliver Grieve.
Natürlich sei das Pflegepersonal durch die Pandemie extrem gefordert: „Wir dürfen nicht vergessen, dass in den allermeisten Kliniken seit Monaten ein Betretungsverbot gilt. Das heißt, dass unsere Mitarbeiter die einzigen Kontakte für die Patienten sind – und sie stellen auch den Kontakt zu den Angehörigen her, die sich sorgen, und berichten ihnen, wie es den Kranken geht. Das kostet Kraft und Zeit.“
Dass die bundesweit rund 54.000 Intensivpflegekräfte (Krankenhauspflegekräfte: etwa 320.000) in der Pandemie besonders beansprucht sind, kommt bei Ingo Böing täglich an. Er arbeitete 17 Jahre lang in der Intensivpflege und Anästhesie, heute ist er Referent beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK).
„Mehr noch als die Bezahlung sind die Arbeitsbedingungen unser Problem“, sagt Böing. Das habe lange vor Corona begonnen: So seien im Namen von Sparsamkeit und Effizienz im Pflegebereich mehr als 50.000 Vollzeitstellen abgebaut worden. Das traf natürlich auch die Intensivpflege. „Von diesem Kahlschlag haben wir uns nie richtig erholt“, sagt Böing.
Deshalb fordern DBfK, Deutscher Pflegerat, Deutsche Krankenhausgesellschaft und Ver.di eine bedarfsorientierte Personalbemessung für Krankenhäuser – gerade in Pandemiezeiten ist man bei zum Teil ausgesetztem Pflegeschlüssel noch weiter entfernt davon.
Im vergangenen Jahr gaben immerhin 9000 Pflegekräfte ihren Beruf auf; einer aktuellen Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin zufolge wollen 31 Prozent der Intensivpflegenden nicht länger in ihrem Beruf arbeiten.
„Wir brauchen eine große Krankenhausstrukturreform“, sagt Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des Divi-Intensivregisters: „Sie darf nicht ökonomisch orientiert sein, sondern muss die Daseinsvorsorge in den Mittelpunkt stellen.“
Ausgerechnet seit Beginn der zweiten Corona-Welle gibt es eine weitere Erschwernis: Nur noch bestimmte Kliniken erhalten Freihaltepauschalen und auch die nur, wenn 75 Prozent ihrer Intensivbetten belegt sind. Auf diese Weise fielen in Nordrhein-Westfalen zwei Drittel der kleineren Krankenhäuser als Reservekapazitäten aus, kritisierte Jochen Brink, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft NRW, bereits im November:
„Die bürokratische Regelung kann schnell dazu führen, dass schwer erkrankten Corona-Patienten eine Odyssee zu freien Behandlungsplätzen droht, weil manche Kliniken keine Betten freiziehen können, ohne in existenzgefährdende Liquiditätsengpässe zu geraten.“ Die Finanzierung ausreichender Notfallkapazitäten ist also ebenfalls ein Thema.
„Aktuell werden in der Mehrzahl der Kliniken wie schon zu Beginn der ersten und zweiten Welle planbare Eingriffe verschoben“, sagt Gerald Gaß, Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Das sei für die betroffenen Patienten schlimm, aber noch kein Anzeichen eines Notstands: „Wir befinden uns mitten in der größten Herausforderung, die das deutsche Gesundheitswesen seit Gründung der Bundesrepublik zu bestehen hat, da kann niemand erwarten, dass die Krankenhäuser gleichzeitig einen uneingeschränkten Regelbetrieb garantieren.“
Das ganze Land jedenfalls ist weit entfernt vom Normalbetrieb.
Intensivbetrieb ist nie „Normalbetrieb“!
*Weil der Artikel außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.