… ruht auf den Inzidenzzahlen — diese wiederum auf den zarten Schultern des Robert Koch-Instituts (RKI). Verdammt viel Verantwortung! Vielleicht zu viel. Zwar schützt das „Wahrheitsorgan“ Correctiv das Institut normalerweise sehr eifrig vor berechtigter Kritik. In diesem Fall aber hat die hauchdünne Seifenschicht um die Blase nicht gehalten. Und interessanterweise war es ausgerechnet die viel zitierte deutsche Gründlichkeit, die dem Corona-Kartenhaus eine wichtige Stütze entzogen hat. Nein, bleiben wir bei den Tatsachen. Es ist vielmehr die breite und kämpferische Protest-Bewegung, die den entsprechenden Druck erzeugte!
[…] So nahm etwa Physikerin Viola Priesemann vom Max-Plank-Institut auf Twitter Stellung dazu.
Laut ihr greift das Video „ein wichtiges Thema“ auf. Vermehrtes Testen werde „kurzfristig bestraft‘“, da man dann mehr Infektionsketten entdecke. Langfristig lohne es sich aber, gibt die Physikerin zu bedenken. „Denn es stoppt die Ketten.“
Allerdings kontert Priesemann daraufhin Schönherrs Theorie: „Das Video hört sich logisch an, macht aber eine falsche Annahme. Und also ist die Schlussfolgerung falsch.“
Schönherr gehe in seinem Video davon aus, das Tests zufällig gemacht würden. „Das ist nicht der Fall“, so die Physikerin. „Menschen werden nicht zufällig getestet, sondern meistens, weil es einen Verdachtsmoment gibt.“ Dazu zählten etwa Symptome, Kontakte oder ein positiver Schnelltest.
„Folgeergebnisse nicht zutreffend“
Laut Priesemann müsse man zwischen zwei Kausalitäten unterscheiden:
Fall A: Es werden mehr Fälle gefunden, weil mehr getestet wird.
Fall B: Es wird mehr getestet, weil es mehr Verdachtsfälle gibt.
„Am Ende spielen beide Beiträge eine Rolle“, erklärt sie. „Aber im Video wird angenommen, dass wirklich allein und nur A zutrifft.“ Alle weiteren Rechnungen nach dieser Folie bauen auf dieser falschen Annahme auf. Also sind die Folgeergebnisse nicht zutreffend.
„Nach der Rechnung in dem Video könnte man die Inzidenzen im Landkreis ganz einfach drücken“, warnt Priesemann zudem. Man mache für jeden Test auf Verdacht einen Test bei Personen, die sehr wahrscheinlich negativ sind (oder einen Zufallstest). „Schon ist die Inzidenz (fast) halbiert.“
Priesemann macht danach ebenfalls einen Lösungsvorschlag: „Am besten wäre es, wenn wir, genauso wie UK, ein Screening hätten, also rund 100.000 Zufallstests, die jede Woche ein objektives Bild des Ausbruchsgeschehen liefern. – Dann müssten wir hier nicht diskutieren.“
Tübingen, das Saarland und viele weitere ´Modellregionen` testen keine Verdachtsfälle, sondern Menschen, die Einkaufen gehen wollen!
Auch in Kitas und Schulen werden praktisch alle Schüler ohne jeglichen Verdacht getestet.
Positive Schnelltests werden nach dem Zufallsprinzip bei symptomlosen Menschen eruiert.
Deshalb trifft praktisch nur Fall A zu.
Eine ausführliche Erläuterung und Kritik an Priesemann:
Patrick Schönherr behandelt zwei Aspekte
Nachweis der Fehlerhaftigkeit der Berechnung
Lösungsvorschlag zwecks Fehlerbeseitigung
ad 1)
In die Berechnung einer Kennzahl, der Inzidenz gehen mehrere Variablen ein und ergeben dann die Lösung, den Inzidenzwert. Bei der üblichen Berechnung des Inzidenzwertes ist eine Variable (Positive Ergebnisse) abhängig von anderen Variablen (Anzahl der Tests/Negative Testergebnisse), die aktuell nicht in die Berechnung einfließen. Somit wird der Inzidenzwert praktisch wertlos. Warum? Die Zahl der Tests, die Anwendung der Tests in welchen Bereichen und bei welchen Personengruppen ist beliebig steuerbar.
ad 2)
Patrick Schönherrs Lösungsvorschlag nimmt zunächst die Gesamttestrate Deutschlands als Grundvariable zur Berechnung des Inzidenzwertes. Gäbe es auch die Gesamttestraten von Kreisen, könnte, sollte man diese verwenden. Da die in aller Regel aber nicht bekannt sind, ist die Testrate Deutschlands gesamt nahe an der Realität.
Die Annahme in der Priesemann-Argumentation, dass es die Kausalitäten, die Fälle A und B gibt, ist richtig. Ihre Schlussfolgerung ist allerdings fragwürdig. Allein durch Beobachtung und politische Vorgaben (Modellregionen) erkennt man, dass vermehrt Gesunde = Menschen ohne Symptome getestet werden (Kindergärten, Schule, öffentliche Testzentren, in die man nur ohne Symptome darf, Tests zweck Erlangung eines Tagestickets), also Fall A. Selbst bei Verdachtsfällen werden haufenweise asymptomatische Menschen getestet (Kontaktverfolgung), die dann zumindest teilweise A zuzuschlagen sind. Wird die Testanzahl erhöht, wird vor allem die Dunkelziffer ausgedünnt. Siehe Tübingen.
Der Lösungsvorschlag von Frau Priesemann, ein Screening mit Zufallstests zu machen, ist rührend.
Bereits am 31.3.2020 hat die Statistikerin Katharina Schüller genau das in einer change.org Petition gefordert.
Viviane Fischer 26.3.2020 eine Open Petition für eine Baseline-Studie gestartet.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) steuert die Energiewende im Hinblick auf die gesetzlichen Ziele einer sicheren und preisgünstigen Versorgung mit Elektrizität weiterhin unzureichend. Es muss sein Monitoring zur Versorgungssicherheit vervollständigen und dringend Szenarien untersuchen, die aktuelle Entwicklungen und bestehende Risiken zuverlässig abbilden. Außerdem hat es immer noch nicht festgelegt, was es unter einer preisgünstigen und effizienten Versorgung mit Elektrizität versteht. Angesichts der Entwicklung der Strompreise empfiehlt der Bundesrechnungshof eine grundlegende Reform der staatlich geregelten Energiepreis-Bestandteile.
0.1 Ausgangslage
Im Jahr 2018 unterrichtete der Bundesrechnungshof den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung in einem Bericht nach § 99 Bundeshaushaltsordnung über die Koordination und Steuerung der Energiewende durch das BMWi.1 Er empfahl unter anderem, dass die Bundesregierung die Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit quantifiziert. Beide Ziele gehen zurück auf das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG). Dort heißt es in § 1:
Zweck des Gesetzes ist eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche,effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas, die zunehmend auf erneuerbaren Energien beruht.
0.2 Anlass der Prüfung: Bedeutende Entwicklungen seit dem Jahr 2018
Seit der Berichterstattung im Jahr 2018 gab es bedeutende Entwicklungen, die sich auf das Angebot und die Nachfrage von Elektrizität auswirken: Im Oktober 2019 beschloss die Bundesregierung das Klimaschutzprogramm 2030. Danach will die Bundesregierung u. a. im Wärme- und Verkehrsbereich stärker auf erneuerbare Energie setzen. Dies soll z. B. geschehen durch den – möglichst direkten – Einsatz von Strom aus erneuerbaren Energien. Wesentliche Bestandteile sind die Förderung der Elektromobilität und der Ausbau der Ladeinfrastruktur. Bis zum Jahr 2030 sollen 7 bis 10 Millionen Elektrofahrzeuge in Deutschland zugelassen und 1 Million Ladepunkte vorhanden sein. Öl- und Gasheizungen sollen ersetzt werden durch „klimafreundliche Anlagen“ oder „erneuerbare Wärme“. Die Bundesregierung hat das Ziel, im Jahr 2030 einen Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch von 65 % zu erreichen. Neu eingeführt wurde eine CO2-Bepreisung für Verkehr und Wärme ab dem Jahr 2021. Teil des Klimaschutzprogramms 2030 sind auch die verstärkte Nutzung von Wasserstoff und der beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung. Im Juni 2020 beschloss die Bundesregierung eine Nationale Wasserstoffstrategie. Um einen Teil des in Deutschland benötigten Wasserstoffs zu erzeugen, wird zusätzlich erneuerbar erzeugter Strom benötigt. Im August 2020 traten die Gesetze für die Beendigung der Kohleverstromung in Kraft. Bis spätestens zum Jahr 2038 sollen alle Kohlekraftwerke in Deutschland außer Betrieb genommen werden.
0.3 Gegenstand der Prüfung: Aufgabenerledigung durch das BMWi
Der Bundesrechnungshof ist folgenden Fragen nachgegangen:
1. Was hat das BMWi unternommen, um die Ziele der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit bei Elektrizität überprüfbar auszugestalten und zu quantifizieren?
2. Wie hat es die Vorgaben des EnWG und des Klimaschutzprogramms 2030 bei der Versorgung mit Elektrizität berücksichtigt und umgesetzt? Die Maßstäbe für die Prüfung des Bundesrechnungshofes sind Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit umfasste hier insbesondere die Beachtung des EnWG betreffend die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Versorgung mit Strom. Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit verfolgte einen gesamtwirtschaftlichen Ansatz und berücksichtigte die Aufgaben des BMWi als Energieministerium sowie als Wirtschaftsministerium: Als Energieministerium hat das BMWi die Energiewende zu gestalten. Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist es dabei, die Ziele des energiepolitischen Dreiecks aus Klima- und Umweltverträglichkeit, Versorgungsicherheit und Bezahlbarkeit miteinander in Einklang zu bringen. Dabei stehen erhebliche Ausgaben und Kosten im Raum. Eine Studie aus dem Jahr 2016 geht davon aus, dass in den Jahren 2000 bis 2025 einschließlich der Netzausbaukosten insgesamt rund 520 Mrd. Euro für die Energiewende im Bereich der Stromerzeugung aufgebracht werden müssen.
3. Der Bundesrechnungshof schätzte die der Energiewende zurechenbaren Ausgaben und Kosten allein für das Jahr 2017 auf mindestens 34 Mrd. Euro.4 Als Wirtschaftsministerium hat das BMWi die Rahmenbedingungen für Unternehmen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Verbraucher in Deutschland mitzugestalten. Es soll durch Fördermaßnahmen für Technologien, den Mittelstand sowie den Energieund Außenwirtschaftsbereich Impulse setzen für dauerhaftes, tragfähiges Wachstum und Wohlstand. Damit soll es auch einen Beitrag leisten, um die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu sichern. Für Mittelstands-, Innovations- und Technologieförderung waren 5,4 Mrd. Euro imBundeshaushalt 2020 veranschlagt.
0.4 Prüfungsergebnisse zur Versorgungssicherheit bei Elektrizität
Dem EnWG entsprechend umfasst die Versorgungssicherheit drei Dimensionen: Versorgungssicherheit am Strommarkt, Versorgungszuverlässigkeit und Systemsicherheit. Das BMWi will die Versorgungssicherheit am Strommarkt mit dem Indikator„Lastausgleichswahrscheinlichkeit“ messen, für den es einen Zielwert von 99,94 % festlegte. Zur Versorgungszuverlässigkeit und Systemsicherheit gehört die Betrachtung von
• Netzausbau und Speichern, • Netzwartung, • Netzstörungen und Maßnahmen zur Gewährleistung der Netzstabilität sowie • Nachfragespitzen und Versorgungsausfällen.
Zu diesen Aspekten sagt das Monitoring des BMWi bisher nichts oder kaum etwas aus. Insoweit ist das Monitoring lückenhaft. Im Übrigen sind die Annahmen des BMWi zur Versorgungssicherheit bei Elektrizität teils zu optimistisch und teils unplausibel. So hat das BMWi kein Szenario untersucht, in dem mehrere absehbare Faktoren zusammentreffen, die die Versorgungssicherheit gefährden können. Durch den Kohleausstieg entsteht eine Lücke von bis zu 4,5 Gigawatt gesicherter Leistung, die das BMWi noch nicht bei der Bewertung der Versorgungssicherheit berücksichtigt hat. Um den Anforderungen des EnWG zu genügen, muss das BMWi
• sein Monitoring in allen drei Dimensionen – Versorgungssicherheit am Strommarkt, Versorgungszuverlässigkeit und Systemsicherheit – vervollständigen. Zahlreiche neue Beschlüsse und Pläne werden sich erheblich auf die künftige Versorgungssicherheit auswirken. Dazu gehören insbesondere die Pläne zur Vermeidung von Netzengpässen und zur Wasserstoffgewinnung sowie der Kohleausstieg. Die Bundesregierung muss daraus resultierende Erkenntnisse und Instrumente rechtzeitig nutzen, um sich abzeichnenden, realen Gefahren für dieVersorgungssicherheit wirksam zu begegnen. • dringend aktuelle und realistische Szenarien untersuchen. Außerdem muss es ein „Worst-Case“-Szenario untersuchen, in dem mehrere absehbare Faktoren zusammentreffen, die die Versorgungssicherheit gefährden können.
0.5 Prüfungsergebnisse zur Bezahlbarkeit von Elektrizität
In keinem anderen EU-Mitgliedsstaat sind die Strompreise für typische Privathaushalte zurzeit höher als in Deutschland. Sie liegen 43 % über dem EU-Durchschnitt. Auch für Gewerbe- und Industriekunden mit einem Stromverbrauch zwischen 20 und 20 000 Megawattstunden (MWh) pro Jahr liegen die deutschen Strompreise teils an der Spitze. Die Strompreise für Großverbraucher mit mehr als 150 000 MWh pro Jahr liegen hingegen unter dem EU-Durchschnitt. Treiber hoher Strompreise waren und sind die staatlich geregelten Preisbestandteile, insbesondere die Erneuerbare-Energien-Gesetz-Umlage. Es gibt viele Faktoren, die sich teils erheblich auf das Preisniveau von Strom auswirken. Dazu gehören insbesondere der weitere Ausbau erneuerbarer Energien, die Leistungsfähigkeit des Stromnetzes, die CO2-Bepreisung und das derzeitige System von Entgelten, Steuern, Abgaben und Umlagen. Das BMWi hat nach wie vor nicht bestimmt, was es unter einer preisgünstigen und effizienten Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität versteht. So gibt es keine Zielwerte, die festlegen, bis zu welchem Niveau Strom als preisgünstig gilt. Die Indikatoren bilden die Entwicklung bei den Letztverbrauchspreisen nicht hinreichend ab.
Das BMWi muss
• bestimmen, was es unter einer preisgünstigen und effizienten Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität versteht. Es muss anhand von Indikatoren festlegen, bis zu welchem Niveau Strom als preisgünstig gilt. • anstreben, das System der staatlich geregelten Energiepreis-Bestandteile grundlegend zu reformieren. Anderenfalls besteht das Risiko, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und die Akzeptanz für die Energiewende zu verlieren.
… hat die dritte Welle analysiert – und er ist fündig geworden. Drei Dinge treiben die Pandemie, sagt er. Sein Fazit: Beim Lockdown für alle handele es sich um eine „wenig geistreiche Lösung“.
WELT:Herr Häussler, die Zahlen steigen, die Kanzlerin erklärt dazu, wir erlebten eine neue Pandemie. Wie sehen Sie das?
Bertram Häussler:Das kann ich nicht erkennen. Die Probleme der jetzigen Welle sind die gleichen wie in der ersten oder zweiten. Das sehen Sie schon daran, dass auch die Infektionsschwerpunkte dieselben sind, damals wie heute.
Häussler: Von den 401 Landkreisen in Deutschland haben wir jene Regionen und Cluster mit Sieben-Tage-Inzidenzen von mehr als 200 untersucht. Und siehe da: Der überwiegende Teil war schon vorher bekannt für seine hohe Infektionsaktivität, teilweise schon seit der ersten Welle.
WELT:Woran liegt das?
Häussler:Erstens am Thema Grenzen. Seit Ende Oktober beschäftigen uns die grenzüberschreitenden Infektionen zu fast allen Anrainern bis auf Dänemark. Insgesamt 23 der 28 deutschen Corona-Hotspot-Kreise liegen im Einzugsgebiet der tschechischen Grenze. Tschechien hatte elffach höhere Inzidenzwerte als Deutschland. Das Thema wurde viel zu spät in Angriff genommen mit vielen Ausnahmen und regional unterschiedlichen Regelungen.
WELT: Ist die Testpflicht für Lkw-Fahrer effektiv?
Häussler: Für die Hotspots an der Grenze kaum. Die meisten fahren gleich weiter, etwa nach Holland. Die Grenzen sind deshalb so problematisch, weil die Kreise dort keine autonomen Entscheidungen treffen können und Lasterschlangen Druck aufbauen. Aber in diesen Regionen liegt der Schlüssel zu Lösungen unterhalb des Lockdowns.
Man kann sagen: Wenn es in diesen grenznahen Regionen zu so hohen Inzidenzen kommt, dass sie den Bundesdurchschnitt deutlich heben, dann sieht der Lockdown für ganz Deutschland nicht besonders geistreich aus. Da muss man vor Ort testen, testen, testen. Und mit den Arbeitgebern reden.
WELT: Zuletzt sollte ein Impf-Riegel an der Grenze die Lage retten.
Häussler:Ein guter Ansatz, zumal in einigen grenznahen Gebieten das Impfen deutlich schlechter zu funktionieren scheint als im Bundesdurchschnitt. Dort ist die Ansteckungsrate in der Altersgruppe 80 plus in einigen Kreisen nur um 40 Prozent zurückgegangen, das ist halb so viel wie im Bundesdurchschnitt. Einige Regionen haben erfolgreich gegengesteuert, Bautzen etwa oder Görlitz. Beide Kreise hatten Höchstinzidenzen. Das zeigt, die Probleme sind durchaus lösbar. Ziemlich unbeweglich scheint man dagegen in Thüringen zu sein.
WELT:Dort liegt die Inzidenz in einem Landkreis bei 600. Aber auch andere Landkreise im Westen sind dunkelviolett gefärbt.
Häussler:Das sind nicht zusammenhängende Landkreise, darunter etwa Cloppenburg, Offenbach, Salzgitter, Rosenheim und Schwäbisch Hall. Häufig spielt die Fleischwirtschaft hier eine Rolle. Seit dem Ausbruch bei Tönnies in Gütersloh im Juni 2020 wissen wir, dass die Ausbruchsgefahr in Schlachthöfen hoch ist. Tönnies konnte weitere Ausbrüche erfolgreich verhindern. In Cloppenburg etwa ist das aber nicht geglückt.
Seit Beginn des Jahres liegen Landkreise mit Schlachtbetrieben um acht Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Und Mitte Februar stieg die Inzidenz in den Fleisch produzierenden Kreisen sprunghaft um 25 Prozent, das fiel zusammen mit dem Beginn der dritten Welle.
WELT: Kann das nicht auch ein Scheinzusammenhang sein?
Häussler: Ich denke nicht. Es gibt noch einen zweiten Indikator. Wir ermitteln jeden Tag, aus welcher Altersgruppe die Mehrzahl der Infizierten kommt. Sind es die über 48-Jährigen? Frauen? Männer? Oder Familien? In der Tönnies-Zeit fiel auf, dass die Mehrheit der Infizierten männlich war und jünger als 48 Jahre. Sowohl die erste als auch die zweite Welle wurde eingeleitet von diesem Cluster.
Es sind jüngere Männer, die in den Produktionsbetrieben arbeiten, auf dem Bau und eben in der Fleischwirtschaft. Darunter viele Arbeiter aus südosteuropäischen Ländern mit höherem Infektionsrisiko, die auf engstem Raum leben und arbeiten. Aktuell haben wir erneut die Situation, dass in mehreren hochinzidenten Regionen der Anteil von jüngeren Männern unter den Neuinfizierten überproportional hoch ist. Diese Befunde sollten doch ein Anlass sein, passgenaue Präventionskonzepte zu entwickeln.
WELT:Wie sollten die aussehen?
Häussler:Bei den Gesundheitsämtern liegt ein enormes Wissen, was meiner Meinung nach nicht gehoben wird. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass man gar nicht so genau wissen will, was im eigenen Kreis vor sich geht. Die Landräte reden dann reflexartig von diffusem Geschehen.
Ein aktuelles Beispiel ist der stark getroffene Landkreis Schwäbisch Hall. Dieser hat beim Landesgesundheitsminister um Hilfe gebeten und nach Impfstoff gerufen. Das wurde abgelehnt. Die Begründung aus dem baden-württembergischen Gesundheitsministerium lautete, dass man besonders betroffene Regionen nicht auch noch mit Impfstoff „belohnen“ könne. Auch im Landkreis Schwäbisch Hall ist ein Fleischbetrieb angesiedelt und auch ein Flüchtlingsheim betroffen. Von beiden wissen wir, dass sie anfällig sind für Ausbrüche.
Wir sehen aktuell, dass derzeit vor allem jüngere Männer das Infektionsgeschehen in dem Kreis prägen. Da wiederholt sich in der dritten Welle ziemlich genau die zweite, diesmal mit einem Virus, das wohl etwas rabiater ist. Aber wie es die Briten zeigen, das Virus ist durchaus kleinzukriegen. Die Inzidenz liegt inzwischen deutlich unter der deutschen. Obwohl sie dreimal so hoch war.
WELT:Allerdings sind die Briten beim Impfen auch deutlich weiter.
Häussler:Die Durchimpfung liegt bei 42 Prozent. Dort werden jetzt schon die Menschen unter 50 geimpft. Und sogar Studenten.
WELT:Bislang war sicher: Steigt die Inzidenz, folgt ihr die Todesrate. Ist das auch in der dritte Welle so?
Häussler:Nein, bislang schlagen sich die steigenden Infektionszahlen nicht in einer erhöhten Sterberate nieder. Im Gegenteil, die Sterbezahlen sind seit dem 19. Januar deutlich gesunken. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die Altersgruppe 80 plus zum Großteil geimpft ist. Zurzeit sind wir durchschnittlich bei 180 Toten am Tag. Aber so richtig zugegriffen hat die dritte Welle ja noch nicht. Es gibt viele Fälle bei den Kindern.
WELT:Sie sind alarmiert?
Häussler: Das nicht, obwohl ich sehe, dass die Zahlen kräftig in die Höhe gehen. Wenn die Modellierer von exponentiellem Wachstum reden, klingt das immer danach, als sei das ausschließlich das Werk der unheimlichen Mutante B.1.1.7. Als ob die Menschheit schutzlos ausgeliefert sei. Aber alles, was ich sehe, sind regionale Cluster und Hotspot-Landkreise, die es seit Beginn der Pandemie nicht geschafft haben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.
Tatsächlich spielen bei den aktuellen Zahlen auch die vermehrten Tests bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle. Da werden Infektionen sichtbar, die man vorher so nicht bemerkt hat.
WELT: Aber Karl Lauterbach spricht von Tausenden Toten bis Ende April, die es zu verhindern gilt.
Häussler:Eine gewaltige, eine beeindruckende Zahl. Aber zu bedenken ist: Momentan sind wir bei 180 bis 250 Toten täglich. Verglichen mit den 1200 Toten binnen 24 Stunden vom vergangenen Winter ist das eine relativ kleine Zahl. Rechnen wir damit einmal durch: Wenn alles so bleibt wie bisher, ergibt das in der Woche rund 1400 Corona-Tote, in fünf Wochen 7000, in zehn Wochen 14.000. Das klingt sehr viel. Aber wir sind ein großes Land, in gewöhnlichen Zeiten stellte die Statistik gut 19.000 Sterbefälle fest in einer Woche.
WELT:Intensivmediziner befürchten, bald an die Kapazitätsgrenze zu kommen. Sie sehen mehr junge Menschen auf den Stationen, die auch länger dort bleiben. Die Rede ist von Triage, die bald drohen könnte.
Häussler:Wir sehen tatsächlich einen Anstieg. Da die Altersstruktur der Intensivfälle nicht bekannt ist, können wir nur rätseln. Da das Impfen in den östlichen Bundesländern nicht ausreichend vorangekommen ist, könnte der überproportionale Anstieg der Intensivfälle im Osten hier auch tatsächlich noch auf ältere Patienten zurückzuführen sein.
Dass in den westlichen Bundesländern mehr jüngere Intensivpatienten beobachtet werden, mag vereinzelt zutreffen, ist als allgemeine Entwicklung aber nicht gesichert. Aktuell sind 3700 Covid-Fälle auf Intensivstationen, davon 2100 beatmet. Bei insgesamt 20.500 Intensivbetten sehe ich nicht, dass hier in absehbarer Zeit eine Triage stattfinden wird.
*Weil das Interview außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.
… richtet einen Appell an den Bundestag. Er erinnert daran, dass es neben der Gesundheit noch andere Grundrechte gibt – und kritisiert politische „Trittbrettfahrer“ der Pandemie
WELT:Wir erleben jetzt das zweite Osterfest im Zeichen der Corona-Pandemie, Herr Kirchhof. Wird der Verfassungsstaat, so, wie wir ihn kennen, wiederauferstehen? …
… Ferdinand Kirchhof:Ich bin guter Hoffnung, dass der Verfassungsstaat wieder in seinen Normalzustand zurückkehren wird. Klar ist dabei: Je länger die Beschränkungen dauern, desto dringlicher wird es verfassungsrechtlich, den Grundrechten abseits des Gesundheitsschutzes wieder Geltung zu verschaffen.
WELT:Seit über einem Jahr schränkt die Bundesregierung diese Grundrechte in beispielloser Form ein. Im ersten Halbjahr war die gesetzliche Grundlage dafür eine nicht für eine Pandemie gedachte Generalklausel, im zweiten Halbjahr ein hingeschluderter neuer Paragraf im Infektionsschutzgesetz. Genügt das Ihren Maßstäben als Staatsrechtler?
Kirchhof: Ich bin zunächst froh, dass die Generalklausel im Paragrafen 28 Infektionsschutzgesetz, die nach Art der polizeilichen Gefahrenabwehr ausgearbeitet ist, jetzt nicht mehr zur Anwendung kommt. Wir haben stattdessen seit dem Herbst letzten Jahres den Paragrafen 28a, der sich speziell mit dem Coronavirus befasst. Das ist ein Fortschritt, weil das Parlament dort erstmals die verschiedenen Eingriffe aufgezählt hat, die möglich sind – und vor allem auch Grenzen, Befristungen und Begründungspflichten festgeschrieben hat.
Ich bin aber, je länger die Corona-Lage andauert, auch mit dieser Vorschrift nicht ganz glücklich, weil sie die möglichen staatlichen Eingriffe nicht mit den entgegenstehenden Rechtsgütern und Belangen von Gesellschaft, Wirtschaft und Individuen abwägt.
WELT:Genügt das Infektionsschutzgesetz also den verfassungsrechtlichen Anforderungen?
Kirchhof: Mir fehlt die Beteiligung des Parlaments an der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und der ihnen entgegenstehenden Rechtsgüter. Es ist feststehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Bundestag selbst diese Austarierung bei einer Beschränkung von Grundrechten übernehmen muss.
In Paragraf 28 Absatz 6 aber steht lediglich, dass bei staatlichen Maßnahmen auch deren wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Auswirkungen berücksichtigt werden müssen. Das ist keine eigene Konfliktentscheidung durch das Parlament, sondern eher ein lakonischer Hinweis an die Exekutive: Denkt bitte auch daran! Das reicht nicht.
WELT:Der Bundestag beschränkt sich in dieser Pandemie generell eher auf die Rolle eines Beobachters. Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung des Souveräns?
Kirchhof: Tja, das ist ein schwieriges Kapitel. Das Parlament fokussiert sich im Wesentlichen darauf, nach Paragraf 5 die epidemische Lage von nationaler Tragweite zu erklären. Das ist die Grundvoraussetzung, damit die Exekutive auf den Maßnahmenkatalog des Infektionsschutzgesetzes zurückgreifen kann. Wenn dieser Schalter aber umgelegt ist, fallen alle Beschränkungen, und die Exekutive darf ohne Mitsprache des Bundestags umfassend handeln.
Mir zeigt das: Der Seuchenschutz ist offenbar kein Thema, von dem die Abgeordneten glauben, dass es Wählerstimmen bringt. Wir haben das in der Vergangenheit schon öfter erlebt. Vergleichbare Zurückhaltung des Bundestags registriere ich immer dann, wenn es um den Abbau von Privilegien geht. Subventionen oder soziale Leistungen zum Beispiel verteilt das Parlament gern, nimmt sie aber ungern zurück.
WELT:Wie ließe sich der Bundestag zum Jagen tragen?
Kirchhof: Es bleibt nur der Appell an die Abgeordneten. Das Parlament ist der Souverän. Es entscheidet, ob und wie es etwas tut. Und es kann eben auch entscheiden: Wir tun nichts oder wir tun wenig. Ein Appell liegt mir mit Blick auf künftige Pandemien allerdings am Herzen.
WELT:Welcher?
Kirchhof: Wir erleben jetzt eine exzeptionelle Situation. Und ich wünsche mir sehr, dass die ergriffenen Maßnahmen auch exzeptionell bleiben – und nicht als Muster für die nächste Hongkong-Grippe herhalten. Mit der Begründung „Auch da gibt es Tote und Kranke“ ließe sich das Infektionsschutzgesetz auch in diesem Fall durchdeklinieren.
Ich würde dem Parlament deshalb empfehlen, dass es sich dieses Themas später außerhalb der akuten Corona-Hektik annimmt und ganz genau sagt, wann wir erneut zum Infektionsschutzgesetz und dessen harten Maßnahmen greifen dürfen – und wann nicht. Sie dürfen nicht zur Regel werden bei jeder Epidemie.
WELT:Die Regierung rechtfertigt die Eingriffe ausdauernd mit der Sorge vor einer Überlastung des Gesundheitssystems. Überzeugt sie das?
Kirchhof: Der Schutz des Gesundheitssystems kann nur ein Hilfsziel für den Schutz von Leben und Gesundheit in extremer Not sein. Allein um staatliche Therapieeinrichtungen nicht zu überlasten, dürfen die Grundrechte des Bürgers nicht beschränkt werden. Da muss der Staat dann schlicht mehr Einrichtungen schaffen.
WELT:Müsste der Staat mehr auf Eigenverantwortung seiner Bürger setzen, zumal wenn jetzt ausreichend Tests zur Verfügung stehen?
Kirchhof: Der Staat hat eine Schutzpflicht, gegen ein Virus vorzugehen, das bedrohlich ist und das tödlich sein kann. Die Lage ist zweifellos ernst, wie die Bundeskanzlerin sagt. Aber man kann eine Gesellschaft, man kann eine Wirtschaft, man kann persönliche Beziehungen auch zu Tode schützen.
Mein Beispiel dafür ist immer der Straßenverkehr. Dort gibt es jedes Jahr Verletzte und Tote. Nun könnten wir entscheiden: Das dulden wir nicht, wir unterbinden den Straßenverkehr mit Autos, Fußgängern, Radfahrern. Damit haben wir Gesellschaft, Wirtschaft und Personen effektiv geschützt – aber eben zu Tode geschützt.
Das lässt sich auf die Pandemie übertragen. Wir sind noch nicht in diesem Bereich. Aber je länger die Maßnahmen andauern, desto verfassungsrechtlich drängender wird es, diese durch sie verursachten schweren Schäden mit in den Blick zu nehmen.
WELT:Die schärfsten Vorschläge in dieser Pandemie kommen regelmäßig aus dem Kanzleramt. Gibt es dort keine Verfassungsjuristen – oder werden sie nicht gehört?
Kirchhof: Doch, die gibt es wohl. Aber neben den Verfassungsjuristen gibt es eben auch die Virologen. Beide vertreten unterschiedliche Ansichten, und dann muss die Politik mit ihrem demokratischen Mandat entscheiden, was man letztlich tut. Sie hat dabei eine sogenannte Einschätzungsprärogative (Gestaltungsspielraum; d. Red.).
WELT:Angela Merkel hat am Sonntag bei „Anne Will“ angedeutet, dass der Bund tätig werden könnte, wenn die Länder die aus ihrer Sicht nötigen Maßnahmen nicht ausreichend ergreifen sollten. Könnte der Bund durchregieren, wenn er wollte?
Kirchhof: Durchregieren, das ist ein schwieriges Wort. Nach der Konzeption unseres Grundgesetzes macht der Bund die Gesetze, und die Länder setzen sie um. Der Bund könnte das Infektionsschutzgesetz ändern oder ein weiteres Gesetz beschließen. Dafür hätte er die Gesetzgebungskompetenz nach Artikel 74 I Nummer 19 Grundgesetz. Er könnte die Länder damit zu strikten Maßnahmen verpflichten.
Das würde dann allerdings auch im Bundesrat diskutiert werden müssen, sodass die Landesregierungen wieder partiell mitwirken würden. Aber der Bund kann nicht durchregieren in dem Sinne, dass er seine Gesetze dann selber durch eigene Behörden durchsetzt.
WELT: Darin würde ja auch eine gewisse Geringschätzung regional unterschiedlicher Lösungen liegen. Wie funktioniert der Föderalismus in dieser Pandemie?
Kirchhof: Ich meine, dass er ausgezeichnet funktioniert, obwohl man in der Öffentlichkeit oft das Gegenteil hört. Ich meine auch, dass die kommunale Selbstverwaltung nach Artikel 28 II Grundgesetz hervorragend funktioniert. Diese Kompetenzverteilung der Verfassung schont auch die Grundrechte. Denn am Ende wissen die 16 Länder und über 400 Landkreise sowie Städte doch am besten über die Lage vor Ort Bescheid. Kommt eine hohe Inzidenzzahl nur aus einer Pflegeeinrichtung oder aus einer Fabrik? Oder grassiert das Virus wirklich flächendeckend? Das kann man nicht über einen Kamm scheren und mit bundesweit identischen Maßnahmen bekämpfen.
WELT:Sie hatten über viele Jahre Ihren Lehrstuhl an der Universität Tübingen. Das ist ja eine Stadt, die sehr eigene Wege zu gehen versucht. Wie funktioniert das nach Ihrer Wahrnehmung?
Kirchhof: Ich bin kein Virologe oder Mediziner. Als politischer Mensch aber meine ich, dass das ein sehr erfreulicher Versuch ist, mit kreativen Ideen und geringsten Beschränkungen für die Bürger eine Bekämpfung des Virus zu erreichen. Kurz gesagt: Ich drücke Frau Federle, Herrn Palmer und dem Landrat Walter ganz fest beide Daumen.
WELT: Wie beurteilen Sie verfassungsrechtlich die überragende Bedeutung der Inzidenzwerte in dieser Krise?
Kirchhof: Diese Inzidenzwerte waren in der ersten Not des Corona-Schocks sicher eine taugliche Methode. Je länger die Pandemie andauert, desto mehr wird man sich fragen müssen, ob sie wirklich der einzige Faktor sind, der über die Maßnahmen bestimmen darf. Sie sind ein grober Maßstab, der aber längst nicht das ganze Grundrechtsgefüge erfasst, das wir beachten müssen.
Ich halte es mittlerweile für verfassungsrechtlich dringend angezeigt, dass wir noch andere Parameter berücksichtigen. Wenn ein Kreis eine Inzidenz von 250 hat, und die Infizierten spüren keine Symptome oder nur die einer leichten Grippe, dann ist mir die Inzidenz ziemlich egal. Wenn ein Kreis die Inzidenz von 30 hat, und das führt zu 25 Todesfällen, dann brennt es. Und das muss man auch gesetzlich abbilden.
WELT:Sie sprechen gern von den Trittbrettfahrern der Corona-Pandemie. Wen meinen Sie damit?
Kirchhof: Es ärgert mich, dass Politiker diese Krise nutzen, um andere Anliegen unter dem Deckmantel Corona durchzusetzen. Ich nenne sie Trittbrettfahrer. So wird die Kreditbremse in einem Maße gelockert, wie es nicht nötig wäre. Der Bundesrechnungshof hat zu Recht kritisiert, dass die Kreditaufnahme deutlich überhöht ist. Auch werden Hilfsfonds in Größenordnungen geschaffen, die man nicht benötigt. Das ist finanz- wie staatsrechtlich höchst problematisch.
WELT:Es gibt die politische Forderung, die Schuldenbremse gänzlich abzuschaffen. Wäre das klug?
Kirchhof: Nein. Dass man für Corona jetzt finanziell etwas tun muss: Ja, klar. Aber doch bitte nur als strenge Ausnahme, um danach sofort wieder zum Regime der Artikel 109 und 115 Grundgesetz zurückzukehren. Ich kann nur davor warnen, die Kreditbremse abzuschaffen. Wir haben sie vor gut zehn Jahren wegen der Erkenntnis eingeführt, dass ein Staat nicht auf Pump leben darf. Dann leistet er gegenüber seinen Bürgern mehr, als er von ihnen an Finanzen fordert – und kommende Generationen müssen das begleichen.
Außerdem gilt: Ein Staat, der sich verschuldet, regelt den Banken- und Finanzsektor nicht mehr als unparteiischer Akteur, sondern ist Interessent. Er will Negativzinsen, er will Nullzinsen. Er ist auch einer Inflation gegenüber offener, weil er daran bei der Rückzahlung des geliehenen Kapitals verdient. Deshalb beruht die Kreditbremse auch heute auf vernünftigen Gründen.
WELT:Das Bundesverfassungsgericht hat vorige Woche angeordnet, dass der Bundespräsident das deutsche Zustimmungsgesetz zum 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds der EU vorerst nicht ausfertigen darf. Wie interpretieren Sie diesen Hängebeschluss?
Kirchhof: Das ist ein gängiges Verfahren bei jedem Zustimmungsgesetz zu internationalen Verträgen. Das Bundesverfassungsgericht will die Sache überprüfen, ehe der Bund seine Stimme endgültig abgegeben hat und die EU das Geld fließen lassen kann. Neu ist allein, dass die Aufforderung durch Beschluss des Zweiten Senats ergangen ist. Üblich ist eine informelle Absprache per Telefon.
WELT:Wie erklären Sie sich, dass man es jetzt so offiziell macht?
Kirchhof: Da kann ich nur spekulieren. Mit einem Beschluss ist für jedermann – auch im Ausland – klar dokumentiert, dass der Aufschub auf einer Anordnung des Gerichts beruht.
WELT:Die Kläger in Karlsruhe fürchten, der Wiederaufbaufonds sei der erste Schritt in eine Schuldenunion – und nicht nur eine Ausnahme. Wie sehen Sie das?
Kirchhof: Diese Diskussion ist breit im Gange, auch in der Bundesregierung. Ja, es wird jetzt deklariert als Ausnahme. Aber man muss auch sehen: Die EU hat schon öfter die Taktik verfolgt, etwas Exzeptionelles zu kreieren und zu sagen: Das machen wir nur einmal. Und danach wurde es dann zur steten Praxis. Und da etliche Mitgliedstaaten offen für eine Haushalts-, Kredit- und Finanzunion plädieren, ist es nicht völlig fernliegend zu sagen: Das ist der erste Schritt in diese Richtung.
WELT:National übt sich das Bundesverfassungsgericht in der Corona-Krise dagegen in Zurückhaltung und verweist bei Verfassungsbeschwerden auf den Rechtsweg. Dabei hätte es die Möglichkeit, auf die grundsätzliche Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zu verzichten. Warum tut es das nicht?
Kirchhof: Das hat das Gericht zu entscheiden. Ich habe als ausgeschiedener Richter da keine Ratschläge zu erteilen. Grundsätzlich gilt: Es geht in dieser Pandemie bislang um Rechtsverordnungen der Länder. Und für die gibt es ein gerichtliches Schutzsystem in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da die Sachverhalte je nach Region unterschiedlich ausfallen, scheint es mir ganz weise zu sagen: Lasst die Verwaltungsgerichtsbarkeit entscheiden.
Ich bin sicher, Karlsruhe wird sich des Themas irgendwann annehmen und auch mit Blick auf künftige Pandemien einige grundsätzliche Leitsätze dazu formulieren – und zwar so, wie wir das vom Bundesverfassungsgericht gewohnt sind: erst solide ausdiskutiert, dann klar entschieden.
*Weil das Interview außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren.
Die Pressemitteilung PM Nr. 136 vom 18.03.2021 des Deutschen Statistischen Bundesamtes. Daraus: „Im Jahr 2020 wurden nach vorläufigen geschätzten Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) Gesichtsschutzmasken im Wert von rund 6 Milliarden Euro nach Deutschland importiert. Eingeführt wurden die Masken fast ausschließlich aus der Volksrepublik China.“ Und weiter: „Im Januar 2021 wurden 1,4 Milliarden Gesichtsschutzmasken im Wert von 186,7 Millionen Euro importiert“.
Und noch detaillierter: „Bis zum Jahr 2020 werden Gesichtsschutzmasken in der Außenhandelsstatistik nicht unter einer eigenen Warennummer des Warenverzeichnisses für die Außenhandelsstatistik erfasst. Sie werden zusammen mit anderen Waren unter der Warennummer 6307 90 98 nachgewiesen. Die hier vorliegenden Zahlen ergeben sich durch eine tiefergehende Analyse der unter dieser Warennummer angemeldeten Daten. Ab dem Berichtsmonat Januar 2021 werden Gesichtsschutzmasken mit Stückzahlen unter den Warennummern 6307 90 93 und 6307 90 95 nachgewiesen und sind damit im Standard-Veröffentlichungsprogramm der Außenhandelsstatistik verfügbar.“