Der Berliner Medizinstatistiker Bertram Häussler …
… hat die dritte Welle analysiert – und er ist fündig geworden. Drei Dinge treiben die Pandemie, sagt er. Sein Fazit: Beim Lockdown für alle handele es sich um eine „wenig geistreiche Lösung“.
WELT: Herr Häussler, die Zahlen steigen, die Kanzlerin erklärt dazu, wir erlebten eine neue Pandemie. Wie sehen Sie das?
Bertram Häussler: Das kann ich nicht erkennen. Die Probleme der jetzigen Welle sind die gleichen wie in der ersten oder zweiten. Das sehen Sie schon daran, dass auch die Infektionsschwerpunkte dieselben sind, damals wie heute.
WELT: Wie meinen Sie das?
MehrHäussler: Von den 401 Landkreisen in Deutschland haben wir jene Regionen und Cluster mit Sieben-Tage-Inzidenzen von mehr als 200 untersucht. Und siehe da: Der überwiegende Teil war schon vorher bekannt für seine hohe Infektionsaktivität, teilweise schon seit der ersten Welle.
WELT: Woran liegt das?
Häussler: Erstens am Thema Grenzen. Seit Ende Oktober beschäftigen uns die grenzüberschreitenden Infektionen zu fast allen Anrainern bis auf Dänemark. Insgesamt 23 der 28 deutschen Corona-Hotspot-Kreise liegen im Einzugsgebiet der tschechischen Grenze. Tschechien hatte elffach höhere Inzidenzwerte als Deutschland. Das Thema wurde viel zu spät in Angriff genommen mit vielen Ausnahmen und regional unterschiedlichen Regelungen.
WELT: Ist die Testpflicht für Lkw-Fahrer effektiv?
Häussler: Für die Hotspots an der Grenze kaum. Die meisten fahren gleich weiter, etwa nach Holland. Die Grenzen sind deshalb so problematisch, weil die Kreise dort keine autonomen Entscheidungen treffen können und Lasterschlangen Druck aufbauen. Aber in diesen Regionen liegt der Schlüssel zu Lösungen unterhalb des Lockdowns.
Man kann sagen: Wenn es in diesen grenznahen Regionen zu so hohen Inzidenzen kommt, dass sie den Bundesdurchschnitt deutlich heben, dann sieht der Lockdown für ganz Deutschland nicht besonders geistreich aus. Da muss man vor Ort testen, testen, testen. Und mit den Arbeitgebern reden.
WELT: Zuletzt sollte ein Impf-Riegel an der Grenze die Lage retten.
Häussler: Ein guter Ansatz, zumal in einigen grenznahen Gebieten das Impfen deutlich schlechter zu funktionieren scheint als im Bundesdurchschnitt. Dort ist die Ansteckungsrate in der Altersgruppe 80 plus in einigen Kreisen nur um 40 Prozent zurückgegangen, das ist halb so viel wie im Bundesdurchschnitt. Einige Regionen haben erfolgreich gegengesteuert, Bautzen etwa oder Görlitz. Beide Kreise hatten Höchstinzidenzen. Das zeigt, die Probleme sind durchaus lösbar. Ziemlich unbeweglich scheint man dagegen in Thüringen zu sein.
WELT: Dort liegt die Inzidenz in einem Landkreis bei 600. Aber auch andere Landkreise im Westen sind dunkelviolett gefärbt.
Häussler: Das sind nicht zusammenhängende Landkreise, darunter etwa Cloppenburg, Offenbach, Salzgitter, Rosenheim und Schwäbisch Hall. Häufig spielt die Fleischwirtschaft hier eine Rolle. Seit dem Ausbruch bei Tönnies in Gütersloh im Juni 2020 wissen wir, dass die Ausbruchsgefahr in Schlachthöfen hoch ist. Tönnies konnte weitere Ausbrüche erfolgreich verhindern. In Cloppenburg etwa ist das aber nicht geglückt.
Seit Beginn des Jahres liegen Landkreise mit Schlachtbetrieben um acht Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Und Mitte Februar stieg die Inzidenz in den Fleisch produzierenden Kreisen sprunghaft um 25 Prozent, das fiel zusammen mit dem Beginn der dritten Welle.
WELT: Kann das nicht auch ein Scheinzusammenhang sein?
Häussler: Ich denke nicht. Es gibt noch einen zweiten Indikator. Wir ermitteln jeden Tag, aus welcher Altersgruppe die Mehrzahl der Infizierten kommt. Sind es die über 48-Jährigen? Frauen? Männer? Oder Familien? In der Tönnies-Zeit fiel auf, dass die Mehrheit der Infizierten männlich war und jünger als 48 Jahre. Sowohl die erste als auch die zweite Welle wurde eingeleitet von diesem Cluster.
Es sind jüngere Männer, die in den Produktionsbetrieben arbeiten, auf dem Bau und eben in der Fleischwirtschaft. Darunter viele Arbeiter aus südosteuropäischen Ländern mit höherem Infektionsrisiko, die auf engstem Raum leben und arbeiten. Aktuell haben wir erneut die Situation, dass in mehreren hochinzidenten Regionen der Anteil von jüngeren Männern unter den Neuinfizierten überproportional hoch ist. Diese Befunde sollten doch ein Anlass sein, passgenaue Präventionskonzepte zu entwickeln.
WELT: Wie sollten die aussehen?
Häussler: Bei den Gesundheitsämtern liegt ein enormes Wissen, was meiner Meinung nach nicht gehoben wird. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass man gar nicht so genau wissen will, was im eigenen Kreis vor sich geht. Die Landräte reden dann reflexartig von diffusem Geschehen.
Ein aktuelles Beispiel ist der stark getroffene Landkreis Schwäbisch Hall. Dieser hat beim Landesgesundheitsminister um Hilfe gebeten und nach Impfstoff gerufen. Das wurde abgelehnt. Die Begründung aus dem baden-württembergischen Gesundheitsministerium lautete, dass man besonders betroffene Regionen nicht auch noch mit Impfstoff „belohnen“ könne. Auch im Landkreis Schwäbisch Hall ist ein Fleischbetrieb angesiedelt und auch ein Flüchtlingsheim betroffen. Von beiden wissen wir, dass sie anfällig sind für Ausbrüche.
Wir sehen aktuell, dass derzeit vor allem jüngere Männer das Infektionsgeschehen in dem Kreis prägen. Da wiederholt sich in der dritten Welle ziemlich genau die zweite, diesmal mit einem Virus, das wohl etwas rabiater ist. Aber wie es die Briten zeigen, das Virus ist durchaus kleinzukriegen. Die Inzidenz liegt inzwischen deutlich unter der deutschen. Obwohl sie dreimal so hoch war.
WELT: Allerdings sind die Briten beim Impfen auch deutlich weiter.
Häussler: Die Durchimpfung liegt bei 42 Prozent. Dort werden jetzt schon die Menschen unter 50 geimpft. Und sogar Studenten.
WELT: Bislang war sicher: Steigt die Inzidenz, folgt ihr die Todesrate. Ist das auch in der dritte Welle so?
Häussler: Nein, bislang schlagen sich die steigenden Infektionszahlen nicht in einer erhöhten Sterberate nieder. Im Gegenteil, die Sterbezahlen sind seit dem 19. Januar deutlich gesunken. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die Altersgruppe 80 plus zum Großteil geimpft ist. Zurzeit sind wir durchschnittlich bei 180 Toten am Tag. Aber so richtig zugegriffen hat die dritte Welle ja noch nicht. Es gibt viele Fälle bei den Kindern.
WELT: Sie sind alarmiert?
Häussler: Das nicht, obwohl ich sehe, dass die Zahlen kräftig in die Höhe gehen. Wenn die Modellierer von exponentiellem Wachstum reden, klingt das immer danach, als sei das ausschließlich das Werk der unheimlichen Mutante B.1.1.7. Als ob die Menschheit schutzlos ausgeliefert sei. Aber alles, was ich sehe, sind regionale Cluster und Hotspot-Landkreise, die es seit Beginn der Pandemie nicht geschafft haben, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.
Tatsächlich spielen bei den aktuellen Zahlen auch die vermehrten Tests bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle. Da werden Infektionen sichtbar, die man vorher so nicht bemerkt hat.
WELT: Aber Karl Lauterbach spricht von Tausenden Toten bis Ende April, die es zu verhindern gilt.
Häussler: Eine gewaltige, eine beeindruckende Zahl. Aber zu bedenken ist: Momentan sind wir bei 180 bis 250 Toten täglich. Verglichen mit den 1200 Toten binnen 24 Stunden vom vergangenen Winter ist das eine relativ kleine Zahl. Rechnen wir damit einmal durch: Wenn alles so bleibt wie bisher, ergibt das in der Woche rund 1400 Corona-Tote, in fünf Wochen 7000, in zehn Wochen 14.000. Das klingt sehr viel. Aber wir sind ein großes Land, in gewöhnlichen Zeiten stellte die Statistik gut 19.000 Sterbefälle fest in einer Woche.
WELT: Intensivmediziner befürchten, bald an die Kapazitätsgrenze zu kommen. Sie sehen mehr junge Menschen auf den Stationen, die auch länger dort bleiben. Die Rede ist von Triage, die bald drohen könnte.
Häussler: Wir sehen tatsächlich einen Anstieg. Da die Altersstruktur der Intensivfälle nicht bekannt ist, können wir nur rätseln. Da das Impfen in den östlichen Bundesländern nicht ausreichend vorangekommen ist, könnte der überproportionale Anstieg der Intensivfälle im Osten hier auch tatsächlich noch auf ältere Patienten zurückzuführen sein.
Dass in den westlichen Bundesländern mehr jüngere Intensivpatienten beobachtet werden, mag vereinzelt zutreffen, ist als allgemeine Entwicklung aber nicht gesichert. Aktuell sind 3700 Covid-Fälle auf Intensivstationen, davon 2100 beatmet. Bei insgesamt 20.500 Intensivbetten sehe ich nicht, dass hier in absehbarer Zeit eine Triage stattfinden wird.
*Weil das Interview außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren. Wir empfehlen WELTplus ausdrücklich: 30 Tage kostenlos testen.
Hochinteressantes Interview.
Häussler sagt, dass die Altersstruktur der Intensivpatienten nicht bekannt sei. Stimmt, aber die der allgemein ins Krankenhaus wg. Corona neu Eingewiesenen ist es. Diese Zahl befindet sich übrigens auf totalem Sinkflug, wie jeder sich bei ‚Statista‘ oder anderswo überzeugen kann. Das Gros der Einweisungen hat sich jetzt nach den Impfungen laut RKI (Rubrik ‚Klinische Aspekte‘) von den ganz Alten auf die Gruppe der 60-79-Jährigen verlagert. Die unteren Altersgruppen sind nur geringfügig vertreten.
Man kann annehmen, dass die Patienten auf den Intensivstationen nicht Geimpfte Alte oder andere Risikopatienten sind. Auf jeden Fall ist seit Wielers „slip of the tongue“ zu Migranten bekannt, welche Bevölkerungsgruppe auf den Intensivstationen wg. Corona die Mehrheit stellt. Häusslers Beobachtung, dass das Infektionsgeschehen sich auf einzelne Hotspots konzentriert, passt zu dieser Tatsache (die übrigens auch aus anderen Ländern bestätigt wird).
Leider ist die Zahl der Coronakranken INSGESAMT in den Krankenhäusern aus öffentlich zugänglichen Statistiken nicht zu eruieren – sie fehlt auch für Deutschland in den ausführlichen Tabellen des ‚European Center for Disease Control and Prevention‘ oder bei ‚Our World in Data‘. Bekannt sind für Deutschland nur die Belegzahlen der Intensivstationen.
Die steigen seit kurzem (Britenmutante?). Allerdings sind wir von einer Überlastung meilenweit entfernt.
Wieso das so ist, kann jeder auf der Webseite der ‚Deutschen Krankenhausgesellschaft‘, „Derzeitige Corona-Situation in den Krankenhäusern“ nachschauen (unbedingt lesenswert). Hier wird z.B. erklärt, dass die normale Auslastung der Intensivstationen auch vor Corona-Zeiten schon immer 70-80% Belegung betrug. Und es steht eine grosse Reserve-Kapazität zur Verfügung.
Aber VOR ALLEM muss man einberechnen, dass die Spitäler flexibel sind: Es kann jederzeit auf den Intensivstationen Platz geschaffen werden, indem man nicht-dringende Operationen verschiebt, wie das früher schon der Fall war.
Die Momentaufnahme des DIVI-Intensivregisters mit Angabe der „momentan freien Betten“ bietet also kein realistisches Bild!
Ebenfalls aufpassen muss man bei den „DIVI-Neuaufnahmen“; die enthalten nämlich auch Verlegungen von einer Intensivstation in eine andere – Folge: höhere DIVI-Zahl, aber kein Patient mehr. Man muss also auf die richtige Zahl achten, die Veränderung zum Vortag (die Steigerung war gestern übrigens erheblich niedriger als in den Tagen zuvor; für heute, 13.52 Uhr, liegt noch keine neue Zahl vor).
Sehr interessant ist der Hinweis von Häussler auf den Einfluss von Nachbarländern (das wird auch von anderen Experten bestätigt), denn es ist schon auffällig, dass die höchsten Inzidenzen tendenziell an einigen Grenzen (etwa zu Tschechien) vorkommen. In diesem Sinne erfreulich ist, dass die Zahlen in Tschechien schon seit Mitte März stark zurückgehen.
Auch in der Slowakei, Belgien und den Niederlanden sinken die Inzidenzwerte, wenn auch erst seit kurzem (es ist übrigens implausibel, dass niedrige Testzahlen um Ostern einen sehr starken Effekt auf die Zahlen hätten – zumindest in Deutschland wurde vor Ostern laut Aussagen der Test-Zentren VERSTÄRKT getestet; und der Rückgang der Infektionen ist in den genannten Ländern schon VOR Ostern sichtbar). Das wird vermutlich bald auch seinen positiven Effekt auf die benachbarten Regionen in Deutschland haben.
Der einzige wirklich übriggebliebene Problemfall unter unseren Nachbarn ist Frankreich, dass sich – man muss sagen, ziemlich unverschämterweise – gegen stärkere Kontrollen an der Grenze wehrt.
Dass deutsche Politiker in diesem Gesamtumfeld einen stärkeren Lockdown fordern, ist allerdings genauso unverschämt.