Die Inzidenzen bei Kindern steigen laut RKI rasant …
… – aber stimmt das wirklich?
Entscheidender als Inzidenzen sei die Positivrate bei den Tests, sagen Kritiker schon länger. Doch auch die kann in die Irre führen, wie eine Analyse zeigt.
MehrSeit Mitte Februar steigt in Deutschland die Zahl der nachgewiesenen Corona-Infektionen. Landkreis um Landkreis reißt die Inzidenzmarke von 100, die zögerlichen Lockerungen nach dem langen Lockdown werden zurückgenommen, um die steil ansteigende dritte Welle abzubremsen. Doch wie aussagekräftig sind die Zahlen, die derzeit über Schulöffnung, Friseurbesuch oder den nächsten Einkauf entscheiden?
Besonders steil scheint die Zunahme bei den Jüngeren: Bei Kindern und Jugendlichen sei der Anstieg „sehr rasant“, warnte RKI-Chef Lothar Wieler am 12. März. Rund drei Wochen zuvor hatte eine Reihe von Bundesländern weitere Grundschulen und Kitas geöffnet, zum Teil mit mehr Testangeboten.
Es liegt nahe, dass die Schulöffnungen zu mehr Infektionen unter Kindern geführt haben. Dem aber widerspricht Christof Kuhbandner, Professor für Psychologie an der Universität Regensburg. In einer Analyse, die WELT vorliegt, kommt er zu dem Schluss, dass der „rasante Anstieg“ bei Kindern allein durch die vermehrten Tests zustande komme. Je mehr Tests, umso mehr entdeckte Infektionsfälle, so die Logik. Sie wird schon länger von den Menschen angeführt, die eine Fixierung auf die Inzidenzzahlen kritisieren.
Um herauszufinden, wie sich die Anzahl der wahren Infektionen über die letzten Wochen tatsächlich verändert hat, gibt es laut Kuhbandner eine einfache statistische Technik: Es genüge, die Positivrate zu betrachten, also die Zahl der positiven Testergebnisse im Verhältnis zur Gesamtzahl der Tests. Um seine Argumentation nachzuvollziehen, hilft ein Gedankenexperiment. Nehmen wir an, es gäbe zwei Schulen mit 1000 Schülern, in denen jeweils 100 Schüler, also zehn Prozent infiziert sind. Testet man an der einen Schule nach dem Zufallsprinzip 100 Schüler, findet man 10 Fälle, perfekte Testergebnisse voraussetzt. Testet man an der anderen Schule 200 Schüler, findet man 20 Fälle, die Inzidenz ist scheinbar höher. An beiden Schulen ist die Positivrate aber gleich: Zehn Prozent der Tests fallen positiv aus. Laut Kuhbandner erkennt man an der Positivrate, dass zwischen den beiden Schulen in Wirklichkeit kein Unterschied besteht.
Sieht man sich nun die Positivrate in Deutschland an, dann wird klar: Während sie bei den Erwachsenen seit einigen Wochen steigt, ist sie bei Kindern bis 14 Jahren in den Kalenderwochen 7–11 gesunken. Kuhbandner schließt daraus: „In Wirklichkeit gibt es keinen Anstieg der Infektionen bei den Kindern, stattdessen sinken die Infektionszahlen.“
Die Analyse des Psychologie-Professors hat sich Professor Thomas Hotz für WELT angesehen. Der Mathematiker forscht und lehrt an der Universität Ilmenau, sein Fachgebiet ist Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Mit den Daten des RKI hat er sich bereits in der Vergangenheit kritisch auseinandergesetzt.
Hotz gibt Kuhbandner in einem Punkt recht: „Der besonders starke Anstieg bei den Kindern entspricht wahrscheinlich nicht der Realität.“ Zugleich kritisiert er: „Die Berechnung wird der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht.“ Denn Kuhbandners Analyse geht davon aus, dass sämtliche Tests ohne besonderen Anlass nach dem Zufallsprinzip gemacht werden. Tatsächlich aber gibt es – auch wenn die Tests ausgeweitet werden – immer noch viele, die aus einem bestimmten Anlass gemacht werden. So wird zum Beispiel eine ganze Klasse getestet, wenn ein Kind oder ein Lehrer positiv ist, oder Kinder werden getestet, wenn in der Familie jemand erkrankt ist.
Werden aber Tests wegen eines Verdachtsfalls durchgeführt, dann findet man in aller Regel deutlich mehr positive Fälle, als wenn man rein nach dem Zufallsprinzip ohne Anlass testet. Und das wirkt sich auf die Positivrate aus. „Steigt die Anzahl der anlasslosen Tests stärker an als die der anlassbezogenen, so kann sehr wohl die Positivenrate fallen, obwohl die Inzidenz steigt“, sagt Hotz. Um das verständlich zu machen, hat auch er sich ein Gedankenexperiment ausgedacht. Es ist naturgemäß komplizierter als das von Kuhbandner.
Man stelle sich vor, eine Schule hat 20 Klassen mit je 25 Schülern. Es werden insgesamt 50 Tests durchgeführt: Einmal testet man anlassbezogen wegen eines Infektionsfalls am Vortag eine ganze Klasse und entdeckt so zehn Infektionen. Außerdem testet man wahllos, also anlasslos, 25 weitere Schüler und entdeckt einen weiteren Fall, weil in den anderen Klassen einer von 25 Schülern infiziert ist. Man hat also durch 50 Tests elf Fälle entdeckt, die Positivrate liegt bei 22 Prozent. Tatsächlich gab es an der Schule 29 Infektionen.
An einer anderen, gleich großen Schule werden 200 Tests durchgeführt. Man testet anlassbezogen zwei Klassen komplett wegen je eines Verdachts und entdeckt jeweils zehn Infektionen. Außerdem testet man wahllos weitere 150 weitere Schüler und entdeckt 12 Fälle, weil es in den übrigen Klassen zwei Infektionen pro 25 Schüler gibt. Insgesamt hat man mit 200 Tests also 32 Fälle entdeckt, die Positivrate liegt bei 16 Prozent. Tatsächlich gab es an der Schule 56 Infektionen.
Obwohl es an der zweiten Schule weit mehr Infektionen gab, erhält man bei dieser Testung eine viel niedrigere Positivrate. Die Erklärung: Der Anteil der anlassbezogenen Tests ist in der zweiten Schule geringer, diese tragen aber mehr Fälle bei. Das Rechenbeispiel zeigt: Auf die Positivquote ist kein Verlass. Man kann aus ihr nicht auf die tatsächliche Zahl der Infektionen schließen.
Zugleich ist es aber auch nicht ausgeschlossen, dass eine Zunahme der Tests die Inzidenzen verfälscht. In den letzten Wochen sind Kinder in Deutschland mehr getestet worden. „Da uns keine Daten vorliegen, warum jeweils getestet wurde, können wir auch nicht wirklich sagen, worauf die veränderte Positivenrate beziehungsweise die Zunahme der Inzidenzen zurückzuführen ist“, sagt Hotz.
Aber was kann man dann überhaupt über die Infektionen bei Kindern sagen? „Die Wahrheit liegt vielleicht irgendwo zwischen den Interpretationen der Herren Wieler und Kuhbandner“, sagt Hotz. „Die Infektionen bei Kindern steigen im Zuge der dritten Welle an, aber wahrscheinlich nicht ‚rasant‘, also nicht stärker als bei den Erwachsenen.“
Dafür spreche auch ein „Plausibilitätscheck“. Denn laut dem am Dienstag veröffentlichten RKI-Bericht haben sich die Inzidenzen in den Altersgruppen 15–59 von Kalenderwoche sieben bis elf etwa verdoppelt, in der Altersgruppe 5–14 eher verdreifacht. „Da Kinder mit Eltern in einem Haushalt leben, kann ich mir kaum vorstellen, dass sich deren Inzidenz so viel schneller erhöht als die ihrer Eltern“, so Hotz. Ebenso wenig könne er sich vorstellen, dass die Inzidenz bei Kindern sinkt, so wie es Kuhbandner behauptet, während sie bei den Eltern steigt. Bei den Erwachsenen hätten die Tests nicht zugenommen, die Positivrate aber steigt.
Was folgt aus all dem? „Es wäre sehr wichtig, wenn wir zu jedem Testergebnis auch seinen Anlass wüssten, um den Zahlen Sinn zu geben“, sagt Hotz.
Darüber hinaus ist er überzeugt: „Die große Zahl der Schulen ist relevant für das Infektionsgeschehen, genau wie die Betriebe auch.“ Natürlich, sagt der Vater von zwei Kindern, würden Schulschließungen die Ausbreitung des Virus eindämmen. Aber die Frage sei ja, wie man es durch die dritte Welle schaffen könnte, ohne alles zuzumachen.
Die Antwort heißt für den Statistiker: mehr Tests, auch wenn dadurch die Inzidenzen steigen. „Wir können im Nachgang diskutieren, ob die Grenzwerte angepasst werden sollten“, so Hotz. Zunächst aber müsse es darum gehen, Infektionsketten zu durchbrechen – und dafür müsse man wissen, wer infiziert ist.
Denn ob die Infektionen unter Kindern nun überproportional zunehmen oder nicht: „Die absoluten Zahlen sind zu hoch“, sagt Hotz. „Und je mehr wir entdecken, umso besser.“
*Weil der Artikel außerordentlich wichtig für die Debatte um Corona ist, zitieren wir den Text. Verweise, Grafiken und Kommentare lesen Sie, wenn Sie WELTplus testen/abonnieren.
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