Das Innenministerium erstellte im März 2020 …
Mehr… intern ein Papier, das die Bedrohungen durch Corona dramatisch darstellte. Es sollte hartes politisches Handeln legitimieren. Ein umfangreicher interner Schriftverkehr zeigt, wie die Regierung Wissenschaftler dafür einspannte.
Mitte März vergangenen Jahres war Deutschland im ersten Lockdown. Schulen und Geschäfte waren geschlossen, die Nerven im Land lagen blank. Auch bei Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Denn gerade hatten der Virologe Christian Drosten und Lothar Wieler, der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), seinem Haus einen Besuch abgestattet.
Die beiden hatten die Führungsriege des Innenministeriums eindringlich gewarnt: Deutschland drohten dramatische Folgen, kehre das Land zu schnell in den Alltag zurück. Seehofer sorgte sich nun davor, dass wie geplant an Ostern der Lockdown enden sollte. Der Minister war entschieden dagegen. Er schickte seinen Staatssekretär Markus Kerber in die Spur.
Kerber hatte einen Plan: Er wollte führende Wissenschaftler mehrerer Forschungsinstitute und Universitäten zusammen spannen. Gemeinsam sollten sie ein Papier erarbeiten, das dann als Legitimation für weitere harte politische Maßnahmen dienen sollte, über Ostern hinaus. Er startete per E-Mail einen entsprechenden Aufruf an die Forscher.
Nur wenige Tage später hatten diese den Auftrag des Ministeriums erfüllt. Sie lieferten Input für ein als geheim eingestuftes Papier des Innenministeriums (BMI), in dem die Gefahr durch das Coronavirus so dramatisch wie möglich dargestellt wurde, und das sich rasch über die Medien verbreitete. In einem „Worst Case-Szenario“ malten sie aus: Unternähme Deutschland nichts, wären am Ende der Pandemie mehr als eine Million Menschen im Land tot.
WELT AM SONNTAG liegt ein umfangreicher Schriftverkehr vor, der zeigt, was genau sich in diesen kritischen Tagen im März 2020 zwischen der Führungsebene des Ministeriums und den Forschern abspielte. Er zeigt vor allem dies: dass Seehofers Behörde es darauf anlegte, die beauftragten Wissenschaftler für den von ihm angestrebten politischen Zweck einzuspannen – und dass diese dem Aufruf gern folgten.
Die gut 200 Seiten an E-Mails belegen somit, dass die Forscher zumindest in diesem Fall längst nicht so unabhängig agierten wie es Wissenschaftler und Bundesregierung seit Beginn der Pandemie stetig betonen – sondern auf ein von der Politik vorgegebenes, feststehendes Ergebnis hinwirkten.
Der Schriftverkehr stammt aus dem RKI. Eine Gruppe Juristen, vertreten vom Berliner Rechtsanwalt Niko Härting, hat sie in einer monatelangen rechtlichen Auseinandersetzung mit der Behörde erstritten und der Redaktion zur Verfügung gestellt. Die Dokumente sind an vielen Stellen geschwärzt, und doch verraten sie viel darüber, wie das Innenministerium auf die Forscher einwirkte und wie diese daran mitwirkten, die Lage möglichst bedrohlich darzustellen.
Es gehe um die „Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit“
Die Zusammenarbeit begann mit dem Aufruf des Staatssekretär am 19. März. „Sehr geehrte Professores“, schrieb Kerber an RKI-Chef Wieler sowie an Forscher des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (abgekürzt RWI, weil es früher mal Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung hieß), des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und mehrerer Universitäten.
Das Ministerium wolle mit sofortiger Wirkung eine „ad hoc Forschungsplattform“ zwischen seinem Haus und den Instituten bilden. Man brauche ein Rechenmodell, um „mental und planerisch ‚vor die Lage‘ zu kommen“. Es solle helfen, weitere „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ planen zu können. Der Staatssekretär zeichnete ein dystopisches Bild: Es gehe um die „Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Stabilität der öffentlichen Ordnung in Deutschland“.
Kerber bat um Verschwiegenheit: Was in den kommenden Tagen in diesem kleinen Kreis besprochen werde, solle „außerhalb von operativ tätigen Krisenstabsinstitutionen“ vertraulich gehalten werden. „Ohne Bürokratie. Maximal mutig“, schrieb Kerber – und steigerte die Dramatik seines Tons zum Ende der E-Mail noch einmal: Da man nicht wisse, „ob und wie lange die Netze noch reliabel funktionieren“, sollten die Teilnehmer ihre Telefonnummern und privaten E-Mail-Adressen übermitteln.
Er habe gegenüber seinem „Freund Lothar Wieler“ die Situation „mit Apollo 13 verglichen“. „Sehr schwierige Aufgabe, aber mit Happy End durch maximale Kollaboration.“
Damit setzte er den Sound für das Vorgehen, das der Innenminister von den angeschriebenen Wissenschaftlern offenbar erwartete: eine möglichst bedrohliche Darstellung der Lage. Das Ergebnis lag nur vier Tage später vor: Jenes Geheimpapier mit dem Stempel „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ über die drohende Aussicht auf bis zu einer Million Toten. Darin stand auch, wie man die „gewünschte Schockwirkung“ in der Gesellschaft erzielen könne, um diesen schlimmsten annehmbaren Fall zu vermeiden.
Man müsse in den Köpfen der Menschen Bilder wie diese entstehen lassen: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“ So hoffe man bei den Bürgern Verständnis unter anderem für eine „scharfe, aber kurze Ausgangsbeschränkung“ akzeptabel zu machen.
In jenen vier Tagen verfolgten Kerber und andere hochrangige Beamte des Ministeriums die Arbeit der Forscher akribisch und diktierten das Vorgehen: Aus dem Schriftwechsel geht hervor, dass es in kurzen Abständen Telefonkonferenzen zwischen dem BMI und den Forschern gab, während diese an ihrem Modell und den daraus resultierenden Empfehlungen arbeiteten.
Die E-Mails der Wissenschaftler über den Fortschritt ihrer Arbeit gingen neben dem Staatssekretär auch an mehrere Abteilungs- und Referatsleiter des BMI. Das Ministerium gab sogar per E-Mail an den Verteiler die Gliederung für das Papier vor.
Die Forscher gaben politische Empfehlungen
Die Forscher beschränkten sich nicht nur darauf, Zahlen zu liefern, sondern machten auch konkrete Vorschläge, wie sich etwa „Angst und Folgebereitschaft in der Bevölkerung“ thematisieren ließen, und sie gaben politische Empfehlungen. „Söder liegt intuitiv richtig“, schreibt einer, dessen Name im Dokument geschwärzt ist. „Das sich ausbreitende Ohnmachtsgefühl muss wohl durch den Eindruck eines starken staatlichen Interventionismus in Schach gehalten werden.“
Die E-Mails zeigen noch etwas anderes, vielleicht weitaus Gravierenderes: Über die wissenschaftliche Bewertung der Situation waren sich die Wissenschaftler nicht einig. Untereinander diskutierten sie zum Beispiel, welche Zahlen sie für die Berechnung der gewünschten Szenarien zugrunde legen sollten. Darüber tauschten sich etwa am Sonntag nach dem Aufruf des Staatssekretärs der zuständige Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts und jener des RWI aus. Es ging um die Frage: Welche Annahme solle man darüber treffen, wie viel Prozent der Infizierten in Deutschland am Virus sterben?
Dieser Wert war nicht leicht zu beziffern, es gab wenig Erfahrung mit dem Virus. Das RKI hatte gerade erst selbst ein Modell veröffentlicht. Demnach würden voraussichtlich 0,56 Prozent der Infizierten in Deutschland am Virus sterben. Das RWI nun plädierte aber dafür, mit einer Todesrate von 1,2 Prozent zu arbeiten. Dessen zuständiger Forscher schrieb, man solle im Papier „vom Ziel her“ argumentieren, nämlich „hohen Handlungsdruck aufzuzeigen“ und vom Vorsichtsprinzip „lieber schlimmer als zu gut“. Staatssekretär Kerber las bei all dem mit.
Auffällig ist, dass im schließlich erstellten Papier des Ministeriums beide Zahlen auftauchen. Dort heißt es: „Das RKI geht in einem sehr moderaten Szenario derzeit von einer Letalität von 0,56 Prozent aus. In der weiteren Modellierung wird mit einer Fallsterblichkeit von 1,2 Prozent gearbeitet.“ Das heißt: Das BMI entschied sich explizit dagegen, nur mit dem zurückhaltenden Wert des RKI zu rechnen – obwohl Wielers Behörde doch jene ist, die in Deutschland genau dafür zuständig ist: Die Zahlen zu liefern, auf deren Basis die Regierung bei der Planung ihrer Maßnahmen argumentiert.
Stattdessen verwendete das Ministerium für den „Worst Case“ – wie viele würden sterben, liefe das Leben komplett weiter wie vor Corona? – die wirkungsvolleren Zahlen. Das folgt der Logik des Innenministeriums: Weil Seehofers Behörde für die innere Sicherheit des Landes zuständig ist, will man dort stets auf den größten anzunehmenden Schaden vorbereitet sein. Grob falsch lagen die beteiligten Forscher mit der Sterberate von 1,2 Prozent rückblickend nicht. Zwar lässt sich der Anteil jener Menschen, die an einer COVID 19-Infektion sterben, nicht eindeutig beziffern – unter anderem, weil man die tatsächliche Zahl der Infizierten nie genau kennt. Die meisten Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass in Deutschland etwa ein Prozent der Infizierten durch das Coronavirus sterben.
BMI-Staatssekretär Kerber erklärt das Zustandekommen des Papiers im Nachhinein gegenüber WELT AM SONNTAG so: „Wir brauchten keine allumfassende theoretische Abhandlung. Wir hatten konkrete Probleme vor Augen und standen vor der Aufgabe, ein Worst Case Szenario zu verhindern.“ Das RKI kommentiert seine Mitwirkung nicht – weil es sich um ein „internes Diskussionspapier“ gehandelt habe. Und das Forschungsinstitut RWI schreibt, es habe keine politische Vorgabe für die Forschungsergebnisse gegeben.
Aus Sicht des Innenministeriums jedenfalls ging das Projekt erfolgreich ins Ziel. Staatssekretär Kerber formulierte am 23. März an die Runde: „Unser Papier kam […] sehr gut an und wird ob seiner hohen Qualität und Umsicht nun den Weg ins Krisenkabinett der Bundesregierung finden.“
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