WELT: Herr Röttgen, geben Sie eine Prognose ab, wie wird 2020 in die Geschichte eingehen? Als ein Jahr, das uns vor allem viel abverlangte, oder als eines, das uns mehr gelehrt hat?
Norbert Röttgen: Es wird vor allem als ein forderndes Jahr, als eine andauernde, aber notwendige Zumutung an die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen in Erinnerung bleiben. Natürlich hat die Pandemie auch Lehren und Erkenntnisse gebracht. Die erzwungene Verhaltensänderung hat eine Entritualisierung und eine Entschleunigung zur Folge. Aber das wird die Erinnerung nicht prägen.
WELT: Was meinen Sie mit Entritualisierung?
Röttgen: Ich spreche hier aus meiner eigenen Erfahrung. Politiker sein bedeutet oft gehetzt sein. Der politische Betrieb ist von Ritualen geprägt, die längst nicht alle notwendig oder sinnvoll sind. Das gilt sicher für viele Berufe. Der alltägliche missbräuchliche Zugriff auf die knappe Ressource Zeit ist vielen Menschen durch das Wegfallen solcher Rituale und Routinen vor Augen geführt worden.
WELT: Der SPD-Politiker Karl Lauterbach prophezeit, dass die Erfahrungen von 2020 nichts Gutes für den Kampf gegen den Klimawandel verheißen. Sind Sie ebenso pessimistisch
Röttgen: Ja und Nein. Es gibt eine positive und eine negative Seite. Die negative Schlussfolgerung aus der Pandemie ist, dass es uns offenbar selbst angesichts einer Gefahr, die unmittelbar ihre Opfer verlangt, sehr schwerfällt, uns auf eine neue Lebensrealität einzustellen. Mit Blick auf die Klimakrise, die sich viel, viel langsamer vollzieht, mag das bedeuten, dass noch weniger Bereitschaft zum Umdenken und zur Verhaltensänderung vorhanden ist und sein wird.
Das positive Moment ist, dass die Politik durch ihr entschlossenes, rationales und ehrliches Verhalten in der ersten Welle der Pandemie bei vielen Menschen einen enormen Vertrauensgewinn erzielt hat. Statt die Situation schönzureden, wurde wissenschaftlicher Sachverstand in dieser Phase der Unkenntnis hinzugezogen. Es galten die Kriterien rationaler Geeignetheit – und nicht das, was politisch opportun war.
Die Bürger haben einen aktiven Staat erlebt, der in der Lage ist, sie zu schützen. Davon profitiert das Krisenmanagement bis heute. Dieses Verhaltensmuster müssen wir auch auf die Klimapolitik anwenden.
WELT: Hallt das noch nach? Denn eigentlich zeigen die vergangenen Wochen doch das Gegenteil, ein erratisches Hineinsteuern der Politik in einen zweiten Lockdown.
Röttgen: Ja, die Politik profitiert noch immer von ihrem Auftreten zu Beginn der Krise. Das hat ein tiefgründiges Vertrauen zurückgebracht, das nachhallt. Dass das so bleibt, ist aber nicht garantiert.
WELT: Ob das Vertrauen bleibt, hängt vom Gelingen der Massenimpfung ab. Schon spricht mancher davon, dass Geimpfte keine Sonderrechte erhalten sollen. Wieso Sonderrechte? Das meint doch nichts weiter als die Rückkehr zum normalen Leben?
Röttgen: Es geht nicht um Sonderrechte. Es geht um die Rechtfertigung von Einschränkungen. Wenn man das Sonderrechte nennt, dann zeigt das, dass im Denken etwas verrutscht ist; dass man die Situation der Einschränkung für den Normalfall hält und die Situation, dass der Bürger frei ist, für den Sonderstatus. Ich finde, die Frage, wie Geimpfte leben können, wird fälschlicherweise moralisch debattiert.
Ich finde es wichtiger, darüber unter pragmatischen Gesichtspunkten zu reden. Da gibt es einige praktische Schwierigkeiten. Man kann ja keinem ansehen, ob er geimpft ist. Soll jeder einen Impfausweis mit sich tragen? Und dann müsste es ja auch Kontrollen geben. Was heißt das Geimpftsein für sein Verhalten, und wie wirkt es sich auf das Verhalten der teilweise noch nicht geimpften Gesellschaft aus?
Natürlich muss man Schlüsse daraus ziehen, wenn jemand andere nicht mehr gefährden kann. Wenn die praktischen Fragen gelöst sind und es für die Einschränkungen keinen sachlichen Grund mehr gibt, dann müssen sie aufgehoben werden.
WELT: Aktuell haben wir noch viel zu wenig Impfstoffe. Das war absehbar. Fragen Sie sich nicht, warum nicht schon früher über die Ausweitung von Produktionskapazitäten gesprochen wurde?
Röttgen: Es ist eine der Lehren des Jahres, dass wir trotz der Erfahrungen der ersten Welle immer noch und immer wieder zu spät waren und sind. Das müssen wir selbstkritisch bewerten, an dieser Stelle müssen wir uns verändern, auch mit Blick auf andere Krisen. Sonst verspielen wir das neu gewonnene Vertrauen der Menschen gleich wieder.
WELT: Die erste geimpfte Person war 101 Jahre alt. Was war Ihr erster Gedanke?
Röttgen: Ich war gerührt und stolz, dass im Verhalten des Staates kein bisschen Nützlichkeitsdenken, sondern die Wertschätzung eines sehr langen Lebens eines Menschen zum Ausdruck gekommen ist. Das war ein hohes Symbol für die Zivilität dieser Gesellschaft.
WELT: Ist es wirklich ethisch, junge Menschen ganz hinten zu priorisieren? Braucht es nicht eine Art Generationenausgleich?
Röttgen: Ich persönlich finde es richtig, das Kriterium der Gefährdung von Leben und damit das individuelle Schutzbedürfnis voranzustellen. Generell geht es hier um Wertabwägungen, die nicht technisch-exekutiv zu beantworten sind. Deshalb hätte ich mir eine gesetzgeberische Entscheidung über die Grundlinien im Bundestag ohne Fraktionszwang gewünscht. Das wäre ein demokratischer Gewinn gewesen.
WELT: Sie sind als Kandidat für den Vorsitz angetreten, die Jugend stärker an die CDU heranzuführen. Wie?
Röttgen: Wir müssen politischer werden. Junge Menschen haben ein gutes Gespür für die moralische Verantwortungsdimension von Entscheidungen, da müssen wir sie abholen. Das zeigt sich doch, wenn junge Menschen über das Klima sprechen. Die großen Fragen unserer Zeit müssen ins Zentrum der Partei.
WELT: Friedrich Merz hat die Sympathien vieler in der Jungen Union (JU). Ist er also nicht der Kandidat der jungen Leute?
Röttgen: Ich bin selbst ein Produkt der Jungen Union und der JU sehr verbunden. Aber die JU ist eine politische Vereinigung. Sie ist nicht die junge Generation. Wenn ich von jungen Menschen spreche, dann meine ich tatsächlich eine ganze Generation junger Menschen, welche die CDU wieder ins Auge fassen muss.
Ich spreche von jungen Wählerinnen und Wählern und solchen, die es sehr bald sein werden. Um mit ihnen in den Dialog zu treten, ist eines völlig klar: Wir müssen Zukunftskompetenz beweisen, und da gibt es ein definierendes Thema, und das heißt Klimawandel.
WELT: Sie haben sich hinter die Vorschläge für eine Frauenquote in der Partei gestellt. Armin Laschet hat da wenig durchblicken lassen; Merz hat erhebliche Zweifel daran angemeldet, aber keinen Alternativvorschlag gemacht, den er versprochen hatte. Machen sich die Mitstreiter einen schlanken Fuß?
Röttgen: Ich möchte das nicht bewerten. Meiner Meinung nach müssen wir hier als Partei klar sein, und deshalb bin ich das auch. Ich halte die paritätische Beteiligung von Frauen und Männern auf allen Ebenen der Partei für die wichtigste Modernisierungsaufgabe der CDU.
Wir fallen als Partei aus der Zeit, wenn wir diese Repräsentanz nicht hinbekommen. Wir verzichten auf so viel Potenzial. Man wird in zehn Jahren zurückblicken und sich darüber wundern, dass das überhaupt so lange infrage stand.
WELT: Würden auch Sie Jens Spahn als CDU-Vize vorschlagen? Andernfalls wäre es denkbar, dass der oberste Corona-Manager sogar seinen Posten im Parteipräsidium verliert.
Röttgen: Wenn ich Vorsitzender werde, wird Jens Spahn weiter eine zentrale Figur in der Partei und in der Regierung sein. Er wird ganz sicher dem nächsten Präsidium der Partei angehören.
WELT: Inzwischen deutet auch Laschet an, dass er sich CSU-Chef Markus Söder als Kanzlerkandidat der Union vorstellen könnte. Und selbst Merz sagt, keiner habe ein Zugriffsrecht. Kopieren die Kollegen Ihre Strategie, sich auch mit dem CDU-Vorsitz zu begnügen und damit auf dem Parteitag jene zu ködern, die Söder wollen?
Röttgen: Ich stelle fest, dass ich auch ein Dreivierteljahr, nachdem ich mich das erste Mal in dieser Frage geäußert habe, noch immer keinen Bedarf habe, meine Meinung zu ändern. Es liegt im Selbstverständnis des Vorsitzenden der CDU, dass er sich das Amt des Bundeskanzlers zutraut.
Gleichzeitig habe ich immer gesagt, dass es gemeinsam mit der CSU um die Bestaufstellung für die Bundestagswahl im kommenden Jahr geht. Ich empfinde es als entspannend, dass ich solche Aussagen kurz vor Toresschluss nicht revidieren oder gar erst definieren muss.
WELT: Kann ein CDU-Vorsitzender im Amt bleiben, der darauf besteht, Kanzlerkandidat zu werden, aber sich gegen die CSU nicht behaupten kann?
Ein CDU-Vorsitzender, der sich ohne Wenn und Aber für den richtigen Kanzlerkandidaten hält und dem dann wenig später von seiner Partei mitgeteilt wird, als Kanzlerkandidat nicht gewünscht zu sein, hätte seine Autorität eingebüßt.
WELT: Die Kanzlerin hat die Bewältigung der Corona-Krise auch zu einer Art Systemkonflikt erklärt. Das geschah mit Blick auf China. Der Antagonist, die USA, versagt bei der Bewältigung der Krise. Hat China gewonnen?
Röttgen: Ich würde mir nicht zu eigen machen, dass die Pandemie-Bewältigung ein Beispiel für den Systemkonflikt ist. Genau das versucht China uns seit Beginn der Pandemie weiszumachen: seine vermeintliche systemische Überlegenheit vor allem gegenüber dem Westen. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, wo die Pandemie nach allem, was wir wissen, ihren Ursprung genommen hat.
Vielleicht hätte es die Pandemie gar nicht gegeben, wenn sie nicht in China, sondern in einem demokratischen und offenen Staat ausgebrochen wäre. Statt transparent mit den bekannten Informationen umzugehen, wurde über Wochen die Existenz des Virus vertuscht. Es wurde Einfluss auf die Weltgesundheitsorganisation WHO genommen und später mit Masken Politik gemacht.
Wir sollten auf den Versuch, aus der Pandemie einen geopolitischen Konflikt zu stilisieren, nicht eingehen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Menschen bestmöglich vor Krankheit und Tod zu bewahren. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
WELT: Ist das große Zeitalter Chinas nicht schon da?
Röttgen: Ich glaube nicht, dass wir gerade den Beginn eines chinesischen Zeitalters erleben. Wir sehen eine enorme wirtschaftliche Entwicklung in China, einen enormen Erfolg, indem Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt wurden. Wir sehen gewaltigen technologischen Fortschritt.
Und gleichzeitig hat das China unter Xi ein enormes Maß von Unterdrückung mittels moderner Überwachungstechnologien erreicht. Die Macht wird monopolisiert, wie das seit den Zeiten von Mao nicht mehr der Fall war. Der außenpolitische Machtanspruch des Landes hält sich weder an moralische noch an völkerrechtliche Prinzipien. Damit steht China aber nicht als der dominierende Staat, wohl aber als der größte Herausforderer der internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert fest.
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