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In Amerika wird an Hochschulen …
… eine rabiate „Cancel Culture“ beklagt. Auch in Deutschland beschweren sich
Professoren, dass sie ausgegrenzt würden. Eine aktuelle Studie spricht von „Konformitätsdruck“. Was ist los an den Universitäten?
Schröter leitet das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam und ist im Vorstand des Deutschen Orient-Instituts. Seit den 1980er-Jahren erforscht sie Bräuche und Riten menschlicher Gesellschaften in der ganzen Welt. Sie ist eine der renommiertesten Ethnologinnen Deutschlands. Wie bei all ihren Forschungsobjekten zuvor wollte sie auch das Kopftuch detailliert hinterfragen. Doch sie stieß auf Widerstand. Studenten warfen ihr vor, als Rednerinnen vor allem Gegnerinnen des Kopftuchs eingeladen zu haben – unter anderem Alice Schwarzer und die Soziologin Necla Kelek. Auch der Titel sorgte für Kritik.
Zwar konnte ihre Kopftuchtagung trotz Studentenprotesten gegen ihre angebliche „Islamfeindlichkeit“ am Ende stattfinden. Doch weiterhin machen Studierendenverbände mobil, wenn Schröter auftreten soll, wie jüngst an der Universität Marburg. „Schröter raus“, „antimuslimische Rassistin“ oder „hetzerisch“ – die Wissenschaftlerin muss sich schwere Beschimpfungen anhören. Das Stigma, sie wäre „umstritten“, klebt nun an ihr.
Sie kann weiterhin frei sprechen. Die Proteste haben sie sogar prominenter gemacht. Doch das ist der Blick von außen. Schröters beruflicher Alltag ist schwieriger geworden, erzählen auch Forscherkollegen, sie gilt als Provokateurin. Konkurrenten Schröters haben in Mails geschrieben, gegen die Ethnologin vorgehen zu wollen.
Sie stehe „im Verdacht, rechts zu stehen“, sagt Schröter selbst. Dabei sei ihre Forschung nicht politisch getrieben. Kollegen und Studenten aber zögern mittlerweile, ob sie mit Schröter in Zusammenhang gebracht werden wollen, aus Sorge vor Ausgrenzung. Als festangestellte Professorin sei ihr Job zwar nicht gefährdet, sagt Schröter, aber der „Dauerstress“ zehre.
„Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“
Eigentlich garantiert in Deutschland Paragraf 5 des Grundgesetzes Forschungsfreiheit: „Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Deutsche Wissenschaftsverbände werben gerade mit der Kampagne „Freiheit ist unser System“ für das liberale Grundrecht. In manchen Ländern steht die Freiheit an Hochschulen infrage, sogar innerhalb Europas, wie in Ungarn, wo eine rechtskonservative Regierung die Wissenschaft einschränkt. In 36 Ländern weltweit ist nach der Auswertung des Instituts „Varieties of Democracy“ die akademische Freiheit in den vergangenen zehn Jahren gesunken, beispielsweise in Polen, Ägypten, Brasilien, China, Russland, Pakistan und der Türkei.
Zur „Stärkung der Forschungsfreiheit“ hat die Europäische Union deshalb im Oktober die „Bonner Erklärung“ unter der Leitung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf den Weg gebracht. „Forschende haben das Recht, ihre Meinung frei zu äußern, ohne dabei durch das Umfeld, in dem sie tätig sind, benachteiligt zu werden“, heißt es darin. „Wir verurteilen alle Versuche, Forschungsfreiheit einzuschränken“, erklärte das deutsche Forschungsministerium bei der Verabschiedung des Aufrufs.
Was nicht zur Sprache kam: Die Freiheit an Hochschulen wird auch in Deutschland infrage gestellt. Nicht von außen, sondern von innen, aus den Universitäten selbst heraus. Es hapert nicht selten schon an der wichtigsten Voraussetzung für Wissenschaft: der Möglichkeit zur freien Debatte. Der Fall in Marburg ist keine Ausnahme.
Eine Umfrage des Allensbach-Institut für Demoskopie aus diesem Jahr, an der 1106 Hochschullehrer in Deutschland teilnahmen, zeigt, wie sie die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland einschätzen. 20 Prozent der Professoren gaben eine kritische Beurteilung. Jeder Siebte hielt politische Korrektheit für ein Forschungshemmnis. Auf die Frage „Fühlen Sie sich in Ihrer Forschung oder Lehre durch formelle Vorgaben zur politischen Korrektheit eingeschränkt?“ stimmte in den Geisteswissenschaften, den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sogar jeder Dritte zu, in den Naturwissenschaften jeder Vierte.
Wer sich umhört an deutschen Unis, trifft auf zahlreiche verbitterte Wissenschaftler, die von „Cancel Culture“ sprechen, von Annullierungskultur also. Der Begriff stammt aus den USA, wo in den vergangenen Jahren immer wieder Wissenschaftler, Journalisten und Manager entlassen worden waren, weil sie die Grenzen politischer Korrektheit überschritten hatten. In Deutschland hingegen ist das offene Ausschließen von Mitarbeitern die Ausnahme.
Wovon aber inzwischen viele sprechen: Hierzulande habe sich eine Kultur des ängstlichen Rückzugs etabliert. Forscher beklagen „feindliches Klima“, „politischen Druck“, „Einschüchterung“. Studien würden nicht geschrieben, Projekte nicht beantragt, Stellen nicht besetzt, Vorträge nicht gehalten, Gespräche nicht geführt. Dass etwas nicht geschieht aber lässt sich schwer beweisen – das erschwert es den Betroffenen, Gehör zu finden.
Oft genüge bereits der Verdacht, sich mit Thesen und Arbeiten nicht der Kollegenmehrheit anzuschließen, um unter Druck zu geraten, sagt der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel von der Universität Hamburg – Abweichler würden häufig als Bedrohung wahrgenommen, nicht als Bereicherung. „Das Risiko veranlasst Wissenschaftler zur Selbstzensur und zum Rückzug aus öffentlichen Debatten“, sagt auch die Ethnologin Susanne Schröter.
Der Deutsche Hochschulverband DHV, eine Interessenvertretung von mehr als 30.000 Wissenschaftlern, mahnt vor „Einschränkungen der Meinungsfreiheit an Universitäten“. Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen würde kleiner, erklärte DHV-Präsident Bernhard Kempen. An deutschen Hochschulen verbreitete sich eine „Entwicklung, niemandem eine Ansicht zuzumuten, die als unangemessen empfunden werden könnte“, heißt es in der „Resolution zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten“, die der Hochschulverband vergangenes Jahr verabschiedet hat.
Differenzen müssten „im argumentativen Streit ausgetragen werden, nicht mit Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt“. Universitäten sollten unbequemen Meinungen ein Forum bieten. Dass sich Ausladungen von Personen häuften, die vermeintlich unerträgliche Meinungen verträten, sei nicht akzeptabel, konstatierte auch der DHV. „Wer die Welt der Universitäten betritt, muss akzeptieren, mit Vorstellungen konfrontiert zu werden, die den eigenen zuwiderlaufen.“
In den vergangenen Jahren aber häuften sich Fälle, in denen Wissenschaftler daran gehindert wurden, sich wie geplant zu äußern.
Auch die Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum berichtet von „erschreckenden Zahlen“: Eine Umfrage unter 526 Schriftstellern in Deutschland habe bereits 2018 ergeben, dass drei Viertel von ihnen „in Sorge sind über die freie Meinungsäußerung in Deutschland und eine Zunahme von Einschüchterungsversuchen beklagen“. Jeder Zweite habe Übergriffe auf seine Person erlebt und außerdem Kenntnis von Angriffen auf Kolleginnen und Kollegen. Jeder Fünfte schreibe deshalb weniger über kritische Themen.
„Es ist offensichtlich, dass das freie Wort und Toleranz gegenüber den Meinungen anderer unter Druck stehen“, sagt Carlos Collado Seidel, bis 2019 Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland. Besonders das Internet stelle für die weit überwiegende Mehrheit der befragten Schriftsteller eine Bedrohung dar, berichtet die Vereinigung.
Als Initiatoren von Uni-Protesten wirken, wie in früheren Jahrzehnten, häufig Studenten. Früher erlangten ihre Aktionen gewöhnlich nur regional Bekanntheit. Die sozialen Medien und das Internet geben ihnen seit einigen Jahren die Möglichkeit, ihre Proteste in die Öffentlichkeit zu tragen. Dort sind die für jeden zu sehen, niemand prüft deren Wahrheitsgehalt.
Angegriffene Professoren müssen auch dann um ihr Ansehen kämpfen, wenn die Vorwürfe haltlos sind. „Wer sich verteidigen muss, hat eigentlich schon verloren“, sagt der Historiker Andreas Rödder von der Universität Mainz. Vorwürfe bleiben in Erinnerung, selbst wenn sie abstrus waren. Die Stigmatisierung als „rechter Professor“, „Klimaleugner“ oder als „umstrittene Migrationsforscherin“ kann man kaum loswerden.
Jörg Baberowski, Historiker an der Berliner Humboldt-Universität, war wegen angeblicher rechtsextremer Positionen Anfeindungen ausgeliefert, eine linke Studentengruppe warnte in Flugblättern vor seinen Vorlesungen. Von seiner Hochschulleitung fühlte Baberowski sich im Kampf um seinen Ruf im Stich gelassen. Seinem Kollegen Herfried Münkler, Politologe an der Humboldt-Universität, warfen Studenten über einen anonymen Blog 2015 Rassismus, Sexismus und Eurozentrismus vor, ohne dass es je Beweise gegeben hätte.
Die Führung der Uni blieb auch hier zurückhaltend. Münkler wäre ein „herausragender Wissenschaftler“ erklärte sie in einer sechs Sätze kurzen Stellungnahme, man stelle „sich hinter Münkler“ und fordere die Blogger auf, „aus der Anonymität herauszutreten“. Die anonymen Attacken kritisierte die Uni aber nicht, wertete sie sogar als „wissenschaftlichen Dialog“ auf. Baberowski und Münkler sind keine Einzelfälle.
Wahr ist aber auch: Die Mehrheit der Wissenschaftler fühlt sich nicht eingeschränkt, das zeigt auch die Allensbach-Umfrage. Viele sehen keine Probleme.
An deutschen Universitäten gebe es „keinen Hinweis auf eine virulente Kultur des Absagens, bei der missliebige Meinungen mundtot gemacht würden“, schrieb der Soziologe Floris Biskamp Ende Mai im „Tagesspiegel“. Das Gegenteil sei der Fall: „Die ständige Rede von Meinungsdiktatur, Diskurswächtern und Cancel Culture“ gebe „denjenigen, die darüber sprechen, die Möglichkeit, sich als Opfer einer vermeintlichen linken Hegemonie zu inszenieren.“ Auf diese Weise könnten sie „jede Kritik an Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus als Meinungsdiktatur abtun“.
Gerade aber das Nicht-Sehen ist für andere, wie Nikolaus Knoepffler von der Universität Jena, Teil des Problems. „Wer keinen Widerstand auslöst, kommt zurecht, Angepasstheit ist sogar karrierefördernd, das macht das Ganze umso schlimmer für die Abweichler“, sagt der Philosoph, der kürzlich eine Tagung einberufen hatte, um das Problem der Ideologisierung an Unis mit Kollegen zu diskutieren.
Die Migrationsforscherin Sandra Kostner von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd lud im Oktober 2017 den Islamkritiker Hamed Abdel-Samad zu einem Vortrag zum Thema „Freiheit und Selbstbestimmung“. Eine Kopftuch tragende Studentin erstattete Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den Referenten, weil er in dem Seminar gesagt hatte, das Kopftuch bei Lehrerinnen sei nicht mit dem staatlichen Neutralitätsgebot vereinbar.
Die Studentin sah ihr Recht auf ein diskriminierungsfreies Studium durch die Aussage verletzt. Kostner wurde vom Staatsschutz zur Vernehmung bestellt. Zwar stellte sich die Hochschulleitung hinter Kostner. Ermutigt aber wurde Kostner nicht, im Gegenteil: Kollegen kritisierten, sie lade „problematische Leute“ ein.
„Lade niemanden ein, der Proteste auslösen könnte“
Skepsis im Kollegenkreis führt meist dazu, Menschen mit abweichender Meinung zu verunsichern. In den USA sprechen Forscher vom „Chilling Effect“: Es sind weniger die Proteste selbst als vor allem deren einschüchternde Botschaft, die das Debattenklima an Hochschulen verengt. „Das Signal kommt an: Lade niemanden ein, der Proteste auslösen könnte“, sagt der Mainzer Historiker Andreas Rödder.
Sandra Kostner hat in Aufsätzen und Vorträgen darauf hingewiesen, dass Migration auch Probleme bereiten kann – eine banale Erkenntnis, könnte man meinen. „Aber viele sehen die Debatte als Provokation“, sagt Kostner. Im September unterschrieben zahlreiche Migrationsforscher aus Deutschland anlässlich des ausgebrannten Flüchtlingslagers auf der griechischen Insel Moria den „Moria-Appell“ für die Aufnahme der Bewohner des Lagers.
Es war ein Appell, gespickt mit wissenschaftlich fragwürdigen Behauptungen: „Es gibt keinen belegten Zusammenhang zwischen der Asylpolitik eines Landes und der Zahl der Menschen, die dorthin fliehen“, schrieben die Migrationsforscher beispielsweise, ohne auf die Strittigkeit dieser Behauptung hinzuweisen. Sandra Kostner hatte nicht unterschrieben.
Ihr gehe es, sagt Kostner, auch um die Studenten: „Wie wirkt es sich auf Studierende aus, wenn ihre Lehrenden solche Appelle unterzeichnen und sich öffentlich klar normativ positionieren und dabei auch noch behaupten, dass wissenschaftliche Ergebnisse eindeutig sind?“ Es sei fraglich, ob sich der wissenschaftliche Nachwuchs frei entfalten könne bei Professoren mit politischer Botschaft.
Doch auch Kostner selbst gerät in die Defensive. Öffentliche Appelle von Wissenschaftlern funktionieren immer auch als Machtinstrument, das den Unterzeichnern politischen Einfluss sichert: Forscher mit Rückhalt bei politischen Organisationen und mit starker Medienpräsenz haben die Macht, Konkurrenten im Diskurs zu degradieren.
Migrationsforscher der Universität Köln haben gerade eine Erklärung vorgelegt, die geeignet scheint, politischen Aktivismus zu legitimieren: „In kapitalistisch und rassistisch strukturierten Gesellschaften sind nicht alle Menschen gleichermaßen durch die Grundrechte geschützt“, schreiben die Kölner Forscher, der Diskurs an Hochschulen dürfe jedoch niemanden diskriminieren, besonders religiöse Toleranz sei wichtig: Die Aussage, „das Kopftuch ist ein Zeichen für Unterdrückung“ beispielsweise würde „Mitglieder der Universität diskriminieren“. Es sei also legitim, gegen Debatten mit entsprechenden Thesen vorzugehen.
Politische Agenda hat sich als bewährte Strategie erwiesen, um Kollegen an den Rand zu drängen. Die Folgen zeigen sich auch in der Klimaforschung: Einflussreich werden Wissenschaftler, die eindeutige Warnungen und Appelle aussprächen, hat die Medienforscherin Senja Post von der Universität Göttingen ermittelt.
Ihre Umfrage unter 123 Klimawissenschaftlern hatte ergeben, dass lediglich jeder zehnte Befragte die Computermodelle der Klimaforschung als „ausreichend präzise“ bezeichnete (die riskante menschengemachte Erwärmung steht gleichwohl nicht infrage). In Medien in Deutschland aber käme am häufigsten jene Minderheit von Klimaforschern zu Wort, die hohes Vertrauen in die Modelle hätte, berichtet Post.
Der von Zweifeln unbehelligte Verweis auf alarmierende Computerprognosen sichert demnach mediale Dominanz. Gleiches gelte für Messdaten zum Klima, berichtet Post: Gehör fänden Forscher mit hohem Vertrauen in die Daten, Zweifler blieben außen vor, resümiert Post.
Wissenschaft als „Unterwerfungsgeschäft“
Die Zurückhaltung der Wissenschaftler, die mit Moralisierung in die Defensive getrieben werden, erklärt Susanne Schröter auch mit Sorge um die berufliche Existenz: „Wissenschaft ist ein Unterwerfungsgeschäft“, sagt die Ethnologin, die die Kopftuchdebatte in Frankfurt organisiert hatte. Nicht anzuecken sei die wichtigste Voraussetzung, um Karriere machen zu können.
Mehr als 80 Prozent der Wissenschaftler in Deutschland arbeiten in befristeter Stellung. Mit der Kampagne „Frist ist Frust“ machen Uni-Mitarbeiter derzeit auf ihre Lage aufmerksam. Nach der Doktorarbeit hangeln sich die meisten von Jahresvertrag zu Jahresvertrag, Entfristung gibt es mit der Professur, doch Stellen sind rar. Ihr Fortkommen hängt am Urteil von Berufungskommissionen und Professoren. Und unbequeme Stellungnahmen erhöhen selten die Chancen.
Selbst verbeamtete Forscher riskieren viel: Nachdem ein Professor einer deutschen Hochschule in einer Wissenschaftszeitschrift einen sachlich anspruchsvollen Artikel über Probleme der Geschlechtergleichstellung geschrieben hatte, schrieb ihm ein Berliner Kollege laut Chat-Protokoll, das dieser Zeitung vorliegt: „Du riskierst Deine weitere Berufbarkeit, also meine Hochachtung, dass Du trotzdem nicht kneifst.“
Wissenschaftler mit dem Etikett „umstritten“ tun sich schwer mit dem Eintreiben von Forschungsgeldern, die zunehmend selber akquiriert werden müssen. Die Gremien der Geldgeber festigen einen Mainstream der Wissenschaft: Dort sitzen meist Forscher „aus der Mitte des Fachbereichs“, weil Geldgeber die Gremien gern entsprechend rekrutieren, um „Ausgewogenheit“ der Entscheidungen zu erreichen. Auch in Organisationen, deren Kommissionen von Wissenschaftlern gewählt werden, schaffen es Außenseiter selten in die Auswahl. Die Gremien fördern am ehesten, was ihnen vertraut und nicht angreifbar vorkommt. Auch bei Forschungsanträgen gilt deshalb für Wissenschaftler: Bloß nicht anecken.
Eine Studie, veröffentlicht Ende Oktober im bedeutendsten deutschsprachigen Fachmagazin für Soziologie, der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, dokumentiert die Ausgrenzung von Forschern. Eine Befragung von Wissenschaftlern im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt offenbarte „Hinweise für Konformitätsdruck, sowohl hinsichtlich des Wunsches, die Redefreiheit einzuschränken als auch hinsichtlich der Hemmung, seine Meinung offen zu äußern“.
Die Arbeit resümiert, „dass sich Studierende häufig sprachlich angegriffen fühlen und dass sich ein beträchtlicher Anteil für die Einschränkung der Meinungsfreiheit ausspricht“. Oft handelte es sich um politischen Druck: „Linksgerichtete Studierende sind weniger bereit, umstrittene Standpunkte zu Themen wie Gender, Einwanderung oder sexuelle und ethnische Minderheiten zu tolerieren. Studierende rechts der Mitte neigen eher dazu, sich selbst zu zensieren“, heißt es in der Analyse.
Fast alle öffentlich bekannten Fälle von Rückzugskultur an deutschen Unis betreffen Fälle, in denen ein Diskurs, der als rechts bezeichnet wird, verhindert werden sollte – wobei das bereits mit Äußerungen geschehen kann, die nicht explizit linke Positionen verteidigen. Es handele sich um ein historisch begründetes Phänomen an deutschen Hochschulen, sagt der Wissenschaftshistoriker Rudolf Stichweh von der Universität Bonn: Deutschland habe eine wegen der NS-Vergangenheit nachvollziehbare Neigung, rechtsintellektuelle Positionen an Universitäten wenig salonfähig werden zu lassen.
Die wissenschaftliche Kultur neige deshalb stärker zum liberalen und linken Rand des politischen Spektrums – im Gegensatz etwa zu Frankreichs Universitäten, wo Rechtsintellektuelle wie Linksintellektuelle Platz fänden. In Deutschland aber seien Rechtsintellektuelle wenig mit den Universitäten verknüpft. „Konservative oder gar rechtsintellektuelle Positionen sind an den deutschen Universitäten kaum vertreten“, sagt Stichweh.
Fremdeln Hochschulen systematisch mit Konservativen? Andrea Geier, Professorin für Literatur und Genderforschung an der Universität Trier, widerspricht: Es gebe keine Sprachverbote, sondern lediglich „Veränderungen in der Debattenkultur“, und die Rede von Zensur und Sprechverboten sei eine abwehrende Reaktion darauf, erläuterte sie in einem Vortrag im „Deutschlandfunk“. Politische Korrektheit als Brandmauer gegen bislang Ungeahndetes: Mit Begriffen wie „Zensur“ oder „Sprechverbot“ werde versucht, sich „dem erhöhten Begründungsbedarf zu entziehen und Kritik zu delegitimieren“, meint Geier.
Früher sei es beispielsweise üblich gewesen, rechtsextremistische Gewalt als Fremdenfeindlichkeit zu bezeichnen. Mittlerweile gebe es eine neue Debattenkultur: „Wird es Konsens, Rassismus zu sagen, fallen zunehmend diejenigen auf, die weiterhin von Fremdenfeindlichkeit sprechen – sie müssen sich fragen lassen, wieso sie ihre Begriffe nicht verändern“, sagt die Wissenschaftlerin.
Hochschulen haben sich angepasst, Gleichstellungsbeauftragte berufen, Forschungsförderung abhängig gemacht von Geschlechterquoten oder von der „Diversität“ der Antragssteller. Doch die Förderungspolitik sei mittlerweile problematisch, findet Tonio Walter, Professor für Strafrecht an der Uni Regensburg: Das Grundgesetz verbiete Diskriminierung; Quotenvorgaben und Sprachregelungen hingegen schafften ihrerseits Diskriminierungen.
„2017 gab es in Deutschland 185 Gender-Professuren, aber nur rund zehn waren mit Männern besetzt – werden Männer dort also diskriminiert?“, fragt Walter. Aus Prozentsätzen lasse sich nicht ableiten, warum manche Gruppen in bestimmten Fächern unterrepräsentiert seien. Kritik an Quoten und Sprachregelungen aber traue sich kaum noch jemand, aus Sorge vor Ausgrenzung.
Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse seien „anstrengend und kompliziert, weil Widersprüche und Wertekonflikte unvermeidlich sind“, räumt Geier ein. Für Überreaktionen sorgen regelmäßig Anliegen wie Gleichberechtigung, Umweltschutz oder Rassismus. „Ein moralisch aufgeladenes Thema als Schlachtruf drängt alle in die Defensive, die ausgewogener denken“, sagt Tonio Walter.
Es fehlt der Wille, sich dem Thema zu stellen
Wo liegen die Grenzen des Diskutablen an deutschen Unis? Zum einen setzten Verfassungsrecht und Strafrecht einen Rahmen, sagt die Philosophin Elif Özmen von der Universität Gießen. Zum anderen müsse sich die Wissenschaft Selbstbeschränkungen auferlegen. Aber wie? „Es fehlt an den Unis der Wille, sich dem Thema zu stellen“, meint Özmen. Reinhard Merkel, ehemals Mitglied im Ethikrat der Bundesregierung, hat seinen Kollegen Vorschläge gemacht, um Grenzen der Debattenfreiheit zu klären: Es brauche Institutionen, die „für normative Grenzfragen zuständig sind“ und ein „System dauernder Kommunikation, in dem mögliche Grenzen wissenschaftlicher Freiheit verhandelt werden, so dass Forschern stets Rat und Hilfe geboten wird“.
Auch die Ethnologin Susanne Schröter ist vorsichtig geworden, trotz ihres Professorenstatus. Eigentlich hatte sie den Polizeigewerkschaftler Rainer Wendt im Rahmen einer Vortragsreihe einladen wollen, damit ihre Studenten sich mit den Argumenten des Hardliners auseinandersetzen könnten. Weil aber Einladungen an Wendt an anderen Unis für Proteste gesorgt hatten, sagt sie, lud sie ihn wieder aus.
Hintergrund: An Hochschulen unerwünscht
2017: Der Bundesvorsitzende der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt wurde im Oktober 2017 zu einem Vortrag an die Universität Frankfurt ein- und wieder ausgeladen, der Titel: „Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft“. Offiziell war die Begründung „Sicherheitsbedenken“, allerdings hatten zuvor ungefähr 60 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in einem offenen Brief die Ausladung gefordert und Wendt „rassistische Denkstrukturen“ vorgeworfen.
Die Migrationsforscherin Sandra Kostner lud im Oktober 2017 Hamed Abdel-Samad an die Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd ein. Eine Kopftuch tragende Studentin erstattete wegen Volksverhetzung Strafanzeige gegen den Referenten, weil sie ihr Recht auf ein diskriminierungsfreies Studium durch seine Aussage verletzt sah, das Kopftuch bei Lehrerinnen sei nicht mit dem staatlichen Neutralitätsgebot vereinbar.
Ein Gedicht von Eugen Gomringer an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule wurde 2018 entfernt, weil es sexistisch sei.
2018: Die Universität Siegen stellt sich im November 2018 gegen ihren Professor Dieter Schönecker, der Marc Jongen (AfD) und Thilo Sarrazin zu Vorträgen in sein Seminar zum Thema Meinungsfreiheit eingeladen hatte – sie distanzierte sich von der Veranstaltung, die Fakultät strich die Mittel, stattfinden konnten beide Vorträge jedoch.
Dem Politikwissenschaftler Werner Patzelt wurde 2019 an der Dresdner Universität die Seniorprofessur wegen angeblicher Nähe zur AfD verweigert.
2019: Die Ethnologin Susanne Schröter veranstaltete 2019 an der Universität Frankfurt eine Tagung zum Thema islamisches Kopftuch. Studenten haben danach versucht, Auftritte Schröters zu verhindern. Sie warfen ihr vor, vor allem Kritikerinnen des Kopftuchs eingeladen zu haben.
Aktivisten verhinderten im Oktober 2019 eine Lesung des CDU-Politikers Thomas de Maizière beim Göttinger Literaturherbst. Sie warfen dem ehemaligen Bundesminister Verantwortung für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei vor.
2020: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft entfernte im August 2020 ein bestelltes und zunächst belobigtes Glückwunsch-Video des Kabarettisten Dieter Nuhr nach Protesten von ihrer Homepage. Begründung: Man habe sich als Reaktion auf die kritische Resonanz dazu entschlossen, „in der es weniger um Nuhrs Statement, sondern um die wissenschaftliche Haltung geht, für die er an anderer Stelle steht“.
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