In Deutschland sind mehr über 100-Jährige an Corona …
Mehr… gestorben als unter 40-Jährige. Zwei Drittel der rund 14 000 Corona-Opfer waren älter als 80 Jahre. Etwa die Hälfte der Verstorbenen steckte sich in Pflegeheimen und Kliniken an. Man kann also zunächst einmal ohne Wertung feststellen, dass diese Krankheit – jedenfalls in diesem reichen, medizinisch gut versorgten Land – vorwiegend eine Gefahr für Hochbetagte darstellt. Und dass sie besonders gefährlich für diejenigen ist, die wegen Gebrechlichkeit hospitalisiert sind.
Dieser Befund ist aber in Deutschland ein Politikum. Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, sah sich mit einem öffentlichen Scherbengericht konfrontiert, als er, tatsächlich ziemlich unsensibel, sagte, wir retteten in der Corona-Krise womöglich Menschen, «die in einem halben Jahr sowieso tot wären».
Es gibt gute historische Gründe dafür, dass sich in Deutschland jeder Gedanke verbietet, der auch nur in die Nähe einer Unterscheidung zwischen lebenswertem und «lebensunwertem» Leben zu führen scheint.
Rettungsphantasien
Insofern sind die Betonung der generationenübergreifenden Solidarität und die Forderung nach Rücksichtnahme auf die Älteren in dieser Zeit völlig richtig. Sie ist aber nicht in jedem Fall so reinherzig, wie sie klingt. Denn erstens wird die Solidaritätsverpflichtung gern als moralisierendes K.-o.-Argument gegenüber denen eingesetzt, welche die gegenwärtige Corona-Politik der Bundesregierung und der Landesregierungen kritisieren, selbst wenn sie gute Gründe haben. Zweitens, und da wird die Sache heuchlerisch, ist den meisten von uns, wenn es nicht gerade um eigene Eltern oder Grosseltern geht, das Leben und Sterben von Hochbetagten in unserer Gesellschaft herzlich egal.
Zugespitzt: Wir tun im Moment alles, damit alte Menschen nicht an Corona sterben, aber wie einsam, wie verzweifelt und wie ungeborgen manche von ihnen sonst sterben müssen, interessiert uns nicht.
Es geht nicht um das Alter insgesamt als problematische Zeit. Nicht um die grosse Mehrheit gesunder, aktiver und materiell abgesicherter Rentner und Pensionäre, die in der grossen, interdisziplinären «Berliner Altersstudie» von 2010 mit zahlreichen, bis heute gültigen Daten beschrieben werden.
Diesen droht gegenwärtig mehr Ungemach durch die Rettungsphantasien besonders eifriger Altenschützer. «Die Corona-Krise führt dazu, dass hergebrachte Ansichten darüber sich wieder ausbreiten, wie alte Menschen angeblich sind», sagt die Berliner Gerontopsychologin Eva-Marie Kessler, «nämlich schwach, senil und im Zweifel unzurechnungsfähig.»
Man darf hoffen, dass die politisch kampferprobten Achtundsechziger, die inzwischen alt sind, sich heute nicht gar so leicht die Butter vom Brot nehmen lassen.
Tätige Solidarität brauchten Menschen, die sich, wie es die Autoren der Studie formulieren, im «vierten Lebensalter» befinden – die Hochbetagten. Deren Situation sehen die Wissenschafter so kritisch, dass sie die immer weitere Verlängerung der Lebensspanne als «fragwürdig» bezeichnen.
«Die Würde des Menschen ist altersabhängig»
«Im sehr hohen Alter, etwa jenseits des 85. Lebensjahres», so das Fazit der Studie, «ist in der allerletzten Phase des Lebens die persönliche, familiäre und gesellschaftliche Not am grössten, und in dieser Altersgruppe geschieht es am häufigsten, dass die Probleme der alten Menschen und derjenigen, die sie betreuen, verdrängt und vergessen werden.»
Wenn es also nicht beim dröhnenden Corona-Pathos bleiben soll, müssen wir dringend darüber reden, wie menschenwürdige Formen des Lebensendes aussehen könnten. Dazu gehört, dass wir uns zu einer ehrlichen Betrachtung der Pflegeheime durchringen. Es ist kein Zufall, dass dort kaum jemand hinwill, der nicht unbedingt muss.
«Pflegeheime sind keine Senioren-Wohnanlagen», sagt Eva-Marie Kessler: «Es sind Einrichtungen für schwerstkranke Menschen.» Diese allerdings werden eben nicht, wie es nötig wäre, von Ärztinnen, Krankenschwestern und Psychotherapeuten betreut, sondern von schlecht qualifiziertem und noch schlechter bezahltem Pflegepersonal. Der Hamburger Psychiater und Altersexperte Josef Aldenhoff formuliert es so: «Die Würde des Menschen ist altersabhängig.»
Angesichts der Freihändigkeit, mit der in Deutschland Steuermilliarden zur wirtschaftlichen Abfederung unterschiedlich wirksamer Anti-Corona-Massnahmen ausgegeben werden, möchte man die kollektiven Rettungsphantasien gern auf die Frage lenken, ob diese Geld-spielt-keine-Rolle-Gesellschaft sich nicht bitte auch einmal des Sterbens annehmen möchte. Der 78-jährige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat dazu das Nötige gesagt, als er in die Corona-Debatte eingriff: «Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen.»
Den Tod kann uns niemand ersparen – auch wenn Wunschvorstellungen über lebensverlängerndes «Bio-Hacking» oder sogar über eine Art digitale Unsterblichkeit des Bewusstseins zunehmen.
Aber könnten und müssten wir es uns nicht leisten, dass jeder Mensch jedenfalls in Würde sterben darf? Und das heisst eben auch und vor allem: nicht allein?
Der Soziologe Norbert Elias hat 1982 in seinem berühmten Essay «Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen» Gründe dafür beschrieben, warum wir den würdigen Tod nicht zum Thema machen, warum wir das Sterben verdrängen, individuell wie kollektiv. In zivilisierten Gesellschaften würden alle «elementaren, animalischen Aspekte des menschlichen Lebens» mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt und «hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlagert». Das Sterben sei ein «weisser Fleck auf der sozialen Landkarte», schreibt Elias. Die alten kirchlichen Rituale hätten ihre Bedeutung verloren, und neue seien noch kaum an ihre Stelle getreten. So fehle es vielen Menschen gerade dann an Worten und den Ausdrucksmöglichkeiten spontanen Mitgefühls, wenn der Sterbende beides besonders dringend brauche. «Nur die institutionalisierten Routinen der Krankenhäuser geben der Sterbesituation eine gesellschaftliche Gestalt. Sie sind gefühlsarm und tragen viel zur Vereinsamung der Sterbenden bei.»
Daran hat sich auch vierzig Jahre später wenig zum Besseren geändert.
Wir identifizieren uns nicht mit den Sterbenden, vielmehr vollbringen wir gewaltige Verdrängungsleistungen, um Alter und Gebrechlichkeit auf Abstand zu halten – offenbar können wir nur so den Gedanken an den eigenen Tod ertragen. Das hat den Nebeneffekt, dass wir die unglaublich komplizierte politische Diskussion darüber, wie unsere Alten und Schwerkranken denn genau gepflegt werden sollen, wenn wir selbst es nicht tun, gar nicht zu führen brauchen. Hauptsache, sie werden gepflegt.
Der Tod ist eine Zumutung
Wenn man es zynisch sehen will, dann ist auch der Umgang mit der Corona-Pandemie ein Zeichen für die Unfähigkeit der modernen Gesellschaft, den Gedanken an das eigene Ende auszuhalten. Der Tod ist für uns eine derartige Zumutung, dass wir heute um jeden Preis verhindern wollen, dass auch nur irgendjemand an Corona stirbt, wenn wir schon das Sterben an sich nicht verhindern können.
Das restliche, das fortwährende, das unausweichliche Sterben bleibt, wie Norbert Elias es formuliert hat, hinter den Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verborgen.
Und bevor wir uns auf eine gemeinsame Anstrengung verständigen, um den Tod in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen, popularisieren wir lieber die Sterbehilfe und den assistierten Suizid. Der Deutsche Bundestag wird dazu ein eigenes Regelwerk beschliessen. Unter Freiheitsgesichtspunkten mag das richtig sein – aber in gewisser Weise ist es für unsere Gesellschaft auch ganz buchstäblich Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Susanne Gaschke ist deutsche Publizistin und Autorin der «Welt». Zuletzt erschien von ihr 2017 in der Deutschen Verlags-Anstalt: «SPD. Eine Partei zwischen Burnout und Euphorie».