[…] Die Politik hat sich verselbstständigt …
Mehr…und legt härtere Bandagen an, wo eigentlich Diskurs vorgesehen ist. Sie betreibt Meinungsbildung nicht mehr als Wettbewerb der besten Ideen und Konzepte, sondern als hypermoralisierte Haltungsaufforderung an den Wähler, der sich vor den täglichen Monstranz-Darbietungen zu verneigen hat. Dieses Verhalten postpolitischer Vordenker aus den parlamentarischen und medialen Büros hat große Folgen, die sich mit „Querdenken“ zum ersten Mal in aller Konsequenz offen zeigen.
Den Demonstranten geht es längst nicht mehr um die Frage, ob das Tragen einer Maske nun ein obrigkeitsstaatlicher Eingriff in Freiheitsrechte ist, dem man widersprechen muss. Die Maske ist längst zum allgemeinen Symbol einer Politik geworden, die ihrem Bürger ohne haltbare Begründung einen Maulkorb aufsetzt und ihn zum Untertan degradiert. Der Staat trägt dabei selbst die Maske der biestigen Gouvernante.
Wer die zum Teil irrlichternden Behauptungen der Redner auf der Bühne vor der Siegessäule gehört hat, muss mitbekommen haben, dass sie allesamt die Anschuldigung der Lüge in den Raum stellen. Die Menschen fühlen sich hintergangen, weil Politiker nicht zuhören und Fehler nicht eingestehen, weil die Entscheidungsträger den Mangel an faktenbasiertem Wissen nicht einräumen und die von ihnen veranlassten „Zumutungen“ auf unbestimmte Zeit künstlich aufrechterhalten wollen. Diese Uneinsichtigkeit des Politikbetriebs widerspricht dem Geist einer freien Gesellschaft.
Dies ist eine Warnung vor einem Phänomen, das nicht einfach als politische Fehlgeburt oder fremdverursachte Massenhysterie abgetan werden sollte. Im Gegenteil: Hier zeigt sich die Genese eines Widerspruchs, der sich aus den dem politischen Betrieb eigenen Ausgrenzungsstrategien nährt und sich immer mehr zum Paradox aufbläht, je weiter er sich von der Überzeugung moralischer Überlegenheit der Politiker emanzipiert. Die politische Elite gebiert ihre eigene APO und trägt sie im Kokon mit sich herum, voller Furcht, die eigene Brut könne aufwachen.
Enthusiastisch oder entsetzt: Das sind die beiden stereotypen pawlowschen Reaktionen, mit denen man als Beobachter auf die „Anti-Corona-Demonstration“ vom 29. August 2020 reagieren kann.
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