In einem bemerkenswerten Interview, …
… welches WELTplus mit Ulrich Lilie, Chef der Diakonie Deutschland führt, werden die Folgen der Corona-Maßnahmen sehr deutlich:
MehrJetzt erst kommt ans Licht, wie dramatisch die Lage in Alten- und Obdachlosenheimen in den ersten Monaten der Pandemie war. Diakonie-Chef Lilie wirft der Politik vor, das Versagen aus Wahlkampfgründen zu verharmlosen – mit fatalen Folgen für das Corona-Krisenmanagement.
WELT: Herr Lilie, Sie sind 2500 Kilometer quer durch Deutschland gereist und
haben Einrichtungen der Diakonie besucht, also Pflegeheime, Kliniken und Werkstätten, die besonders unter Corona leiden mussten. Was haben Sie gesehen und erlebt?
Ulrich Lilie: Es war eine stille Katastrophe, was sich dort im Lockdown abgespielt hat, mit ganz, ganz vielen Einzelschicksalen. Da war zum Beispiel der Leiter eines kleinen bayerischen Pflegeheims, dem binnen vier Wochen fast ein Drittel seiner Bewohner unter der Hand weggestorben ist. Viele kannte er von klein auf, weil er in dem Dorf aufgewachsen ist. Über eine schier endlos erscheinende Zeit war es ihm einfach nicht gelungen, Masken, Schutzkleidung und Testmöglichkeiten aufzutreiben. Noch heute kämpft der Mann mit schweren Schuldgefühlen, weil er die Menschen nicht besser schützen konnte.
Die Leiterin einer Bahnhofsmission berichtete, wie auf einen Schlag das ganze Netzwerk für die Wohnungslosen zusammenbrach. Die Menschen mussten sich im Fluss waschen, weil alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen waren. In einem niedersächsischen Heim mit vielen Todesfällen führte der Leiter 150 Telefonanrufe am Tag mit verzweifelten Angehörigen. Es war teilweise sehr bedrückend. Aber ich bin sehr stolz auf die vielen tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Reihen, die wirklich Großartiges geleistet und bis zur Selbstaufgabe gekämpft haben.
WELT: Ist wenigstens das Problem mit der Materialbeschaffung beseitigt?
Lilie: Nein, es fehlt weiterhin flächendeckend an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Eine einheitliche bundesweite Linie für Testungen gibt es ebenfalls noch nicht. In den Einrichtungen ist die Angst vor der zweiten Welle groß. Die Leute wissen nicht, ob sie so eine Situation noch einmal aushalten würden. Am erschreckendsten ist aber, wie folgenlos all diese Erfahrungen bisher geblieben sind.
WELT: Es heißt doch immer, wir seien jetzt viel besser aufgestellt als im März. Sie widersprechen?
WELT: Sie waren auch in Bayern unterwegs. Gerade Ministerpräsident Söder galt lange als besonders zupackender Krisenmanager.
Lilie: Das erfolgreiche Krisenmanagement kann ich aus der Vor-Ort-Perspektive nicht bestätigen. Ich will nicht zu harsch urteilen, weil wir ja alle unvorbereitet in diese Situation geraten sind. Aber jetzt müssen wir doch gemeinsam aus den Erfahrungen lernen, gerade aus den Fehlern.
Lilie: Die mangelhafte Absprache zwischen Gesundheitsämtern, Ministerien, Kommunen und dem Robert-Koch-Institut war sehr problematisch. Durch Improvisation haben wir zwar vieles noch vergleichsweise gut hinbekommen. Aber statt die Heime zu unterstützen, wurden sie durch immer neue und sich oft widersprechende Anforderungen und Anweisungen traktiert. Viele an Kreisgrenzen gelegene Einrichtungen bekamen keine Tests für Mitarbeiter, die in einem anderen Landkreis wohnten.
Das Zuständigkeitschaos und die widersprüchlichen Regelungen gingen allesamt auf Kosten der Menschen. Das muss jetzt abgestellt werden. Das RKI muss mit den Gesundheitsämtern Leitlinien entwickeln, damit alle wissen, wie sie künftig mit dem Infektionsgeschehen umgehen müssen.
Lilie: Aber Gleiches müssen wir auch gleich behandeln. Dass 400 Gesundheitsämter in Deutschland 400 unterschiedliche Richtlinien entwickeln und ständig verändern, kann nicht sein.
Lilie: Die Pandemie und der Lockdown fielen in die Zeit eines Vorwahlkampfs. Kandidaten haben versucht, sich zu positionieren. Das Bemühen der Politik, möglichst gut auszusehen und sich, im übertragenen Sinne, nicht zu infizieren, war groß. Glaubwürdige Politik ist aber kein Selbstzweck und darf auch kein Karrieresprungbrett sein. Zu den größten Fehltritten in diesem Zusammenhang gehört die Pflegeprämie.
WELT: Was kritisieren Sie am Bonus von 1500 Euro, den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Pflegekräften versprochen hat, zunächst nur Altenpflegern, neuerdings auch im Krankenhaus?
Lilie: Diese Prämie ging nur an einige wenige, während andere in die Röhre gucken mussten, die in den Einrichtungen genauso hart gearbeitet haben. Das wird flächendeckend als ungerecht empfunden. Die Politik muss noch einmal neu darüber nachdenken, wie man eine echte Anerkennung hinbekommt. Dazu gehört aber mehr als ein einmaliger Bonus.
Die gleiche Lösung jetzt nur auf die Krankenhäuser auszuweiten wäre mehr vom Falschen. Die Pflege ist systemrelevant. Das haben wir nun alle noch einmal gelernt. Deshalb ist eine systematische Aufwertung der Pflegeberufe notwendig: durch eine bessere tarifliche Bezahlung und zugleich durch eine tief greifende Strukturreform der Pflegeversicherung. Die ist in ihrer jetzigen Form am Ende.
WELT: Wieso?
Lilie: Aktuell liegen die Eigenanteile für Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeheimen beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg bei rund 2440 Euro. Bei unserer Durchschnittsrente kann das fast niemand tragen. Wir brauchen einen kalkulierbaren Eigenanteil, den man früh absichern kann und der für die meisten bezahlbar ist. Sonst müssen ausgerechnet die finanzschwachen Kommunen als Träger der örtlichen Sozialhilfe einspringen bei den Kosten. Diese Form der Refinanzierung ist widersinnig. Eine vernünftige Steuerbeteiligung ist überfällig.
WELT: Wie realistisch ist das? Der Bundeshaushalt muss bereits Milliardenhilfen für die Wirtschaft stemmen.
Lilie: Mit der Gießkanne und für Symbolpolitik werden Ressourcen verschossen, die wir für eine Strukturreform brauchen. Es wäre ein fatales Signal, wenn diese als ungerecht empfundene Prämie die einzige Antwort der Politik bliebe.
Lilie: Es war vielleicht gut gemeint, aber auch eine elegante Art, sich die Kärrnerarbeit einer Pflegereform vom Hals zu halten. Dazu müsste man dicke Bretter bohren und in viele Konflikte hineingehen, auch politisch, bei denen man nicht immer nur gut aussieht.
Lilie: Sagen wir, er hat sich einen schlanken Fuß gemacht. Jetzt wäre es wunderbar, wenn sich Minister Spahn an die Spitze einer Reformbewegung setzen würde oder wenn die Spitzen der Koalition ein Reformkonzept für die Finanzierung der Pflege vorlegen würden.
Ich fürchte aber, dass es dem beginnenden Wahlkampf geopfert wird und sich keiner daran die Finger verbrennen möchte. Dann haben wir die fatale Situation, dass mit einem kleinen Bonus ein Thema aufgeschoben wurde, dessen Verschiebung wir alle sehr teuer bezahlen werden.
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Mit den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen für die Kleinen beschäftigt sich eine Copsy-Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE)mit vielen Hintergrundinformationen: Hier klicken
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Das ist auch wichtig zu wissen, weil Schweden hier doch immer vorgeworfen wird, in der Corona-Krise versagt zu haben. Dabei hat der liberale Kurs in Schweden funktioniert, bis eben auf die Alten- und Pflegeheime und den Corona-Hotspot Stockholm. Und wir Musterknaben in Merkel-Deutschland waren und sind nicht viel besser als die Schweden – wir hatten wahrscheinlich nur mehr Glück als Verstand! Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Denn in Schweden wird man die Fehler aufarbeiten, wir tun das natürlich nicht. Insofern hat Merkel nicht unrecht, daß im Herbst und Winter uns hier noch ein „Desaster“ blühen könnte, nicht aber Schweden!