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MehrWeil er für Beurteilung der aktuellen Lage in Sachen Corona wichtig und unabdingbar ist, zitiere ich ihn weitgehend.
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Einschränkung von Grundrechten, Stillstand des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft – ist das ein zu hoher Preis für die Eindämmung der Pandemie? Oder waren die Maßnahmen unvermeidbar? Argumente für und wider – und was es mit dem „Präventionsparadox“ auf sich hat.
Die Wissenschaft kennt ein eigentümliches Phänomen: das Präventionsparadox. Der renommierte Epidemiologe Geoffrey Rose hat es 1985 erstmals benannt. Es besagt: Wenn viele Menschen sich an eine Vorsorgevorschrift halten, dann bleibt einigen von ihnen der vorzeitige Tod erspart.
Bestes Beispiel ist der Sicherheitsgurt im Auto. Schnallen sich alle Autoinsassen an, überleben einige Menschen einen Unfall, bei dem sie sonst gestorben wären. Den meisten Menschen aber bringt der Gurt nichts, weil sie nie in ihrem Leben einen schweren Unfall haben. Ist es wirklich nötig, dass rund 50 Millionen Autofahrer in Deutschland täglich einen Gurt anlegen, wenn man dadurch im Jahr vielleicht 1000 Todesfälle und 10.000 Schwerverletzte verhindert?
In den vergangenen sieben Wochen haben viele Menschen in Deutschland das Präventionsparadox erlebt: Es gilt, Distanz zu anderen zu wahren, Grundrechte sind massiv eingeschränkt. Und niemand weiß, ob nur die Gesellschaft oder auch er persönlich davon profitiert.
War die Entscheidung für diese Corona-Strategie richtig? Ja. Mitte März wurden in Deutschland Tag für Tag mehr als 6000 Menschen positiv auf das Virus getestet, die Infektionszahlen zeigten ein exponentielles Wachstum, die Totenzahlen stiegen. Es war nicht abzusehen, wie schrecklich das Virus wüten würde. Im Fernsehen sahen wir verzweifelte Ärzte in Wuhan und Bergamo. Leichensäcke, die sich stapelten, Särge, die in Militärkonvois abtransportiert wurden. Die Situation in Deutschland sollte nicht in ähnlicher Weise eskalieren. Es bei einem Appell zum Händewaschen oder bei einem schwedischen „Vertraut einander!“ zu belassen, wäre unverantwortlich gewesen.
Tatsächlich hat die Prävention sogar besser als erhofft gewirkt. Die Zahl der Neuinfektionen hat sich drastisch verringert, das Virus ist derzeit einigermaßen unter Kontrolle. Unser Land wird international als Vorbild gefeiert. Weniger Menschen als befürchtet sind bisher an den Folgen der Infektion gestorben, zusätzlich eingerichtete Intensivbetten sind leer. Durch die entschiedenen Maßnahmen sind bereits jetzt Lockerungen möglich. Das ist ein großes Glück – und ein großes Verdienst von allen, die durchgehalten haben.
Und das Präventionsparadox? Es wird weiter bestehen. Weiterhin müssen sich alle einschränken, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Noch immer kennen wir das Virus und die Erkrankung schlecht, noch immer gibt es weder Medikamente noch Impfstoff.
Die Autorin freut sich, dass Wissenschaft in der Pandemie ernst genommen wird. Auch wenn Forscher noch nicht alle Fragen beantworten können.
Niemand sollte sich zu schnell an die Miniaturfreiheiten gewöhnen, die Angela Merkel den Deutschen letzte Woche unter genervtem Augenrollen zugestand. Die „Kontaktreduzierungen“ – eigentlich ist die Kontaktsperre ein Instrument des Strafvollzugs – gelten weiter, erst einmal bis zum 5. Juni. Wir sind ja, so die Kanzlerin, noch „in der allerersten Phase“ der Pandemie. Und bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern droht schon der nächste Lockdown (nein, anders kann man die Maßnahmen, die unsere offene Gesellschaft massiv infrage stellen, nicht nennen).
Wer diese Strategie kritisiert, wird gerne auf das Präventionsparadox verwiesen: Der Sinn einer Schutzmaßnahme sei oft nicht nachvollziehbar, weil ihr Erfolg im Ausbleiben des Schadens bestehe. Daraus lässt sich aber umgekehrt nicht folgern, dass der Lockdown richtig war. Das österreichische Gesundheitsministerium hat herausgefunden, dass die Hotspots der Pandemie Pflege- und Seniorenheime sind, gefolgt von Après-Ski-Lokalen und Chören. Kein Geschäft, keine Schule, keine Kita wurde als „Cluster“ nachgewiesen.
Und der Mathematiker Isaac Ben-Israel hat gezeigt, dass Lockdowns die Infektionskurven kaum beeinflussen. Die Katastrophen in Italien oder New York, wo Corona (trotz Lockdown) die sehr Alten, schwer Übergewichtigen und chronisch Kranken nur so dahinrafft, offenbaren kaputte Gesundheitssysteme.
Die Strategie der Bundesregierung ist eine Sackgasse. Das Spaltungspotenzial ist enorm. Wer sich dafür blind stellt, darf sich über Verschwörungstheorien nicht wundern.
Was tun? Die Alternative liegt auf dem Tisch, Kekulé empfiehlt sie in Gastbeiträgen für „Zeit Online“ und „Tagesspiegel“: konsequenter, freiwilliger Schutz der Risikogruppen, denn „für alle anderen Menschen liegt das Sterbensrisiko durch Covid-19 etwa hundertmal niedriger, also in der selben Größenordnung wie das der Grippe“. Außerdem testen und nachverfolgen. So lässt sich die Pandemie beherrschen, ohne dass eine kontaktgestörte Welt entsteht.
Es ist allerhöchste Zeit für einen Strategiewechsel. Eine Regierung, die auf Lockdowns in Intervallen setzt, riskiert die Zerstörung der Gesellschaft, die sie schützen will.
Der Autor freut sich, dass so viele seiner Journalistenfreunde im Lockdown eine gute Zeit haben. Er sorgt sich um alle, die das nicht können.
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Ein Leserbrief:
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Was nützen uns Vergleiche! Wir brauchen Gesten, Demut und Reue:
https://www.faz.net/2.1652/fdp-chef-christian-lindner-entschuldigt-sich-fuer-umarmung-16775208.html
Danke, Christian! Jetzt wissen wir, daß es 5 nach 12 ist …