Der Beitrag von Andreas Rosenfelder ist ein WeLTplus-Artikel:
Weil er für Beurteilung der aktuellen Lage in Sachen Corona wichtig und unabdingbar ist, zitiere ich ihn weitgehend.
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MehrDie Bundesregierung fährt in der Corona-Krise einen skandalösen
Schlingerkurs. Er ist nicht nur ein Zeichen von Hilflosigkeit, sondern selbst eine Strategie – die eine unangenehme Wahrheit verdeckt.
Es war vor sechs Wochen, die sich fast schon wie sechs Jahre anfühlen, als Angela Merkel vor die Kameras trat, um uns einzuschwören auf „Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab“.
Die Kanzlerin nannte zwei historische Daten, um die Maßstäbe klarzustellen: „Seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“
In mancher Hinsicht haben sich beide Vergleiche bereits bewahrheitet – wenn auch nicht ganz so, wie Merkel es meinte. Wir leben nicht nur in einer Welt, in der es wie in der späten DDR zum Alltag gehört, noch vor dem kleinsten Laden Schlange zu stehen – das ist einer der harmloseren Aspekte des Lockdown, man kann ihn mit etwas Fantasie sogar als Ersatzbefriedigung für die stillgelegte Klubkultur betrachten.
Nein, wir leben auch in einer Öffentlichkeit, in der Begegnungen mit anderen Menschen strengsten Auflagen unterliegen, Bewegungsfreiheit nur unter bestimmten Bedingungen gewährt wird und sich ein System freiwilliger Überwachung herausgebildet hat, das Verstöße gegen die „Maßnahmen“, wie es im Sound des späten Bertolt Brecht heißt, ächtet und im Zweifel denunziert.
Schlimmer, und hier kommt Merkels Weltkriegsvergleich ins Spiel: Wir leben längst in einer traumatisierten Gesellschaft. Der Alltag fühlt sich an wie ein Kriegszustand, der Feind lauert überall.
Die virologischen Frontberichte und Gefallenenstatistiken werden täglich durchgemeldet. Todesangst hat sich in die Psyche vieler Menschen eingegraben, man kann sie manchmal in den Augen lesen, die einen über die Atemschutzmasken anschauen.
Es gilt als gefährlich, das Haus unnötig zu verlassen, Menschenansammlungen sind zu meiden, Kinder dürfen nicht in Schulen und Kitas und zucken reflexhaft zurück, wenn auf der Straße ein lange vermisster Schulfreund auf sie zustürmt.
Jede Wohnung ist ein kleiner Luftschutzbunker
Die Alten und Kranken dämmern, einsam und eingesperrt, in ihren Einrichtungen. Jede Wohnung ist ein kleiner Luftschutzbunker geworden – auch wenn es manche schaffen, ihn mit Zoom-Yogaklassen und Delivery Food in ein komfortables Nest zu verwandeln.
So lassen sich die Schäden, welche eine ganze Kindergeneration aus dieser Phase der Zwangsisolation davontragen wird, leichter verdrängen – und ebenso die Schicksale jener Minderprivilegierten, die in den Wohnblöcken weniger poetische Quarantäne-Erfahrungen machen und denen mit den letzten Minijobs die eh schon prekäre Existenz wegbricht. Arbeitslosigkeit macht krank, sie kann töten.
Am schlimmsten aber ist, dass wir uns an all das gewöhnt haben. Es erscheint uns selbstverständlich, dass der Lockdown (ein grauenhaftes Wort) die natürliche, angemessene und einzig richtige Antwort auf die Corona-Pandemie ist.
Wer diese beispiellose Einschränkung unserer Grundrechte auch nur infrage stellt, wird als Sektierer behandelt und als unsolidarisch kritisiert.
Es gibt bei den Fans des Lockdown sogar die Erwartungshaltung, dass die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten, wenn sie am Donnerstag wie alle zwei Wochen per Schaltkonferenz zusammenkommen, die allzu „forschen“ Deutschen mit einer nächsten, womöglich schärferen Lockdown-Runde abstrafen.
Es ist absurd – und es ist, anders als behauptet wird, keineswegs ein Ausdruck wissenschaftlicher Rationalität.
Die Menschen hatten das verständliche Bedürfnis nach maximalem Schutz, sie wollten den Lockdown, also kriegten sie ihn – wenn auch in der abgemilderten, deutschen Variante. Echte chinesische Verhältnisse mit patrouillierender Militärpolizei, mit denen man ein Virus tatsächlich „ausrotten“ kann, wünscht sich bei uns zum Glück kaum jemand herbei.
Vergessen hat die deutsche Politik den Beipackzettel, der in einem Rechtsstaat zwingend geboten wäre: also eine Auskunft darüber, was genau sie mit dem Lockdown eigentlich bezweckt.
Man wollte Zeit gewinnen, hieß es zunächst, die Kurve flach halten, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Dann erklärte die Kanzlerin, man müsse den Verdopplungszeitraum erhöhen.
Später gab sie plötzlich eine niedrige Reproduktionsrate als neue Devise aus. Man darf jetzt schon darauf gespannt sein, was uns am Donnerstag für ein neues Kriterium präsentiert wird.
Dieser skandalöse Schlingerkurs in der Strategie ist allerdings nicht nur ein Zeichen von Hilflosigkeit, er ist selbst eine Strategie. Sie verdeckt eine unangenehme Wahrheit: Wenn der Lockdown wirklich die deutsche Antwort auf Corona sein soll, dann ist er keine temporäre Lösung, sondern ein potenzieller Dauerzustand.
Eine Lockerung, so haben es Merkel und ihr Leibvirologe Christian Drosten den Deutschen in den letzten Tagen eingeimpft, werde die Infektionszahlen im Sommer wieder nach oben schnellen lassen. Das ist völlig logisch – aber gilt dieses Argument nicht in zwei Wochen, in drei Monaten, in einem Jahr genauso?
Dass die Krankheit sich auch unter Lockdown-Bedingungen gleichmäßig weiterverteilt, hat Drosten ja mehrfach festgestellt und als Argument gegen eine vorschnelle Aufhebung dieser Bedingungen vorgebracht. In sich ist das schlüssig – aber warum sollte es nach der nächsten Lockdown-Verlängerung plötzlich ratsamer erscheinen, die Restriktionen aufzuheben?
Ist es sinnvoller, den dann unvermeidlichen Anstieg der Infektionsraten auf den Herbst zu verschieben, wenn zusätzlich die Grippeviren kursieren? Oder ziehen wir die On-off-Lockdown-Gesellschaft jetzt einfach durch, Augen zu, wo wir uns schon so gut daran gewöhnt haben?
Bis ein Impfstoff da ist oder die Pandemie vorüber, im Zweifel bis ins Jahr 2022, wie es der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach so gerne prophezeit, der in letzter Zeit eher wie ein offizieller Sprecher der Pandemie wirkt als wie ein Vertreter der von ihr betroffenen Gesellschaft?
Wir haben schon fast kapituliert
Wir glauben, dass wir einen Krieg gegen das Virus führen – doch was unsere Freiheit, unsere Existenz als soziale Wesen und unsere Menschlichkeit angeht, haben wir fast schon kapituliert.
Man muss Wolfgang Schäuble, der physisches Leid zur Genüge kennt, unendlich dankbar sein dafür, dass er in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ darauf hingewiesen hat, dass der Schutz von Menschenleben, mit dem Lockdown-Befürworter eine kalte, technokratische und unmenschliche Politik rechtfertigen, nicht der höchste Wert unserer Verfassung ist: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt“, so der Bundestagspräsident, „dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“
Die Politik hat nicht das Recht, das exponentiell wachsende Leid zu ignorieren, das der Lockdown bei den Schwächsten der Schwachen, bei den Risikogruppen unserer Gesellschaft jetzt schon produziert – unter Verweis auf ein mathematisch ständig neu berechnetes künftiges Leid, von dem keinesfalls feststeht, dass der staatlich verhängte Lockdown der einzige Umgang damit ist.
Institutionen gefährdeter Gruppen ließen sich gezielt schützen, indem man das Personal regelmäßig testet, für die besonders Gefährdeten, etwa durch Alter oder Vorerkrankungen, ließen sich Besuchszeiten in öffentlichen Einrichtungen und Geschäften einrichten, Massentests, Masken und eine datenschutzkonforme Kontaktverfolgung könnten helfen.
Eine andere, offene Corona-Welt ist durchaus denkbar – eine Welt, in der Rücksicht genommen wird und die es dennoch allen, auch den Gefährdeten, endlich wieder erlaubt, so gut wie möglich in Freiheit und Würde zu leben.
Es ist die Pflicht einer demokratischen und menschenfreundlichen Politik, mit allen Kräften an dieser Welt zu arbeiten – und den potenziell unendlichen Lockdown-Albtraum zu beenden.
Um es mit dem deutschen Dichter Rio Reiser und seiner Band Ton Steine Scherben zu sagen: „Wir müssen hier raus! Das ist die Hölle! Wir leben im Zuchthaus! Wir sind geboren, um frei zu sein – wir sind 80 Millionen, wir sind nicht allein.“
Als Optimisten schließen wir mit Angela Merkel und Rio Reiser unisono: Und wir werden es schaffen, wir werden es schaffen.