In der Aula der Berliner Universität …
Mehr… hatte ihr erster Rektor, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, seine berühmt-berüchtigten «Reden an die deutsche Nation» gehalten. Im Dezember 1807, also noch während der französischen Besatzungszeit. Es war also historisch begründet, dass die sonst in Weimar tagende Nationalversammlung zur Aussprache über Annahme oder Ablehnung des verhassten Versailler Friedensvertrages am 12. Mai 1919 an diesem Ort zusammentrat.
Nun appellierte der sozialdemokratische Regierungschef Philipp
Scheidemann an die Nation, mit ihm und seiner Regierung den Alleinschuldvorwurf der Alliierten als «unannehmbar» abzulehnen. Er zählte längst zu den populärsten Politikern seiner Zeit, hatte wenige Monate zuvor von einem Reichstagsbalkon die erste deutsche Republik ausgerufen und besass ein Gespür für den dramatischen Augenblick – und für wirkungsmächtige, potenziell geflügelte Worte: «Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?», rief er seinen Abgeordnetenkollegen28 zu, und die Versammlung dankte ihm dafür, parteiübergreifend – stehend, mit minutenlangem Beifall. Eine national-parlamentarische Einigung im Erregungszustand, gut und schön. Aber was sollte danach kommen? Die Frage war von existenzieller Bedeutung. Denn Deutschland drohten im Fall einer Nichtunterzeichnung schlimmere Sanktionen als Schuldparagraphen und Reparationen – Besetzung, Abspaltung, der Zerfall des föderativen Staatsgebildes.
Einmal mehr musste der Reichspräsident eingreifen. Friedrich Ebert war zum Äussersten entschlossen und drohte mit seinem Rücktritt. Es gelang ihm, aus engen Vertrauten ein «Unterzeichnungskabinett» zu bilden. Als aber bekanntwurde, dass im Falle einer Annahme der Schuld- und Auslieferungsparagraphen die Reichswehr putschen würde, machte sich Panik breit. Besetzung und Teilung des Landes durch die Siegermächte von aussen und Bürgerkrieg im Innern, Finis Germania?
Friedenstelegramm und Protestnote
Wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums der Entente bat Friedrich Ebert die Parteiführer um eine gemeinsame Erklärung an die Truppe, «in schwerster Zeit ein Beispiel der Selbstverleugnung und der Aufopferung zu geben und Hand in Hand mit den anderen Volksgenossen an der Wiederaufrichtung unseres Vaterlandes» zu arbeiten. Zur gleichen Zeit erschien ein Aufruf der Regierung: «An das deutsche Volk! Die Reichsregierung hat mit der Zustimmung der Nationalversammlung erklärt, den Friedensvertrag zu unterschreiben. Schwersten Herzens, unter dem Druck der rücksichtslosesten Gewalt, nur in dem einen Gedanken: unserem wehrlosen Volke neue Kriegsopfer und Hungerqualen zu ersparen.»
Davon ganz unbeeindruckt, setzte bei Mannheim schon am frühen Abend des 23. Juni ein Bataillon über den Rhein. Die Franzosen hatten es eilig, der Forderung der Sieger Geltung zu verschaffen. Nur mit Mühe konnten sie zurückgehalten werden. Friedenstelegramm und Protestnote waren Hermann Müllers erste Amtshandlungen. Am Vortag hatte ihm der Reichspräsident die Leitung des Auswärtigen Amtes übertragen. Müller war in der elitären Diplomatenbehörde der erste Sozialdemokrat, einer der ersten Nichtaristokraten und mit gerade 43 Jahren auch einer der Jüngsten. Ohne Erfahrungen war er nicht. Während des Krieges hatte er an zahlreichen Konferenzen der gespaltenen II. Internationale teilgenommen. Noch am Vorabend des Krieges entsandte ihn der Parteivorstand zu einer Erkundungsmission nach Paris. Mancher glaubte wohl, er könne den Kriegsausbruch aufhalten, die französischen Genossen womöglich für eine gemeinsame Ablehnung der Kriegskredite gewinnen. Vergeblich.
Was Müller am 1. August 1914 nicht mehr verhindern konnte, musste er jetzt von Amts wegen liquidieren. Am Abend des 26. Juni 1919 stieg er mit seinem Kabinettskollegen Johannes Bell (Z) und einer kleinen Delegation in den Nachtzug nach Köln. Dort erhielt die Reisegruppe Gesellschaft durch Offiziere der Entente. Zwischenfälle sollten vermieden werden. Vor allem aber sollten die beiden Minister die Zerstörungen in Belgien und in Nordostfrankreich mit eigenen Augen sehen. Der Zug fuhr langsam. Nach über dreissigstündiger Reisezeit erreichte er den kleinen Bahnhof Saint-Cyr-l’Ecole bei Versailles. Eilig wurden die Deutschen in gepanzerten Limousinen zum Hôtel des Réservoirs gefahren. Das Protokoll des welthistorischen Ereignisses lief im Minutentakt ab. Dann ging es zum Schloss. Sofort führte man sie hinauf zum Spiegelsaal, hastig vorbei an den herausgeputzten Damen der Pariser Gesellschaft, die sich, auf Stühlen stehend, mit ihren Lorgnetten ein genaues Bild von den Repräsentanten aus dem so verachteten wie gefürchteten Nachbarland machen wollten. Da rief auch schon die raue Kommandostimme Clemenceaus: «Faites entrer les Allemands», und sogleich führte der Chef des Protokolls Bell und Müller herein – wie Angeklagte vor Gericht. Abermals krächzte die Stimme des Ministerpräsidenten: «Messieurs, la séance est ouverte», und forderte die deutschen Bevollmächtigten auf, ihre Unterschriften unter den Vertrag zu setzen.
Der französische Premier sass unter jenem Deckenfries, das Ludwig XIV. zeigt und mit dem Schriftzug «Le roi gouverne par lui-même» versehen ist. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte an diesem Ort die mit viel Symbolik überhöhte Reichsgründung stattgefunden, war der preussische König zum deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen worden. Für diese Demütigung rächten die Franzosen sich jetzt. Die bereitliegenden Federhalter waren u. a. von Elsass-Lothringen gestiftet. Aber der deutsche Aussenminister wusste davon und unterschrieb mit dem eigenen. Anderntags argwöhnte die Presse Täuschung und befürchtete, dass der Vertrag ungültig sei, weil mit unsichtbarer Tinte unterzeichnet.
So schnell, wie man die Deutschen in den Spiegelsaal hineingeführt hatte, wurden sie auch wieder hinausgeführt – als wären sie verurteilte Kriegsverbrecher und hätten im Kreis der internationalen Staatengemeinschaft keinen Platz mehr. Die Weltöffentlichkeit wollte sie so sehen. Man bat Müller, die Nacht zu bleiben, um Komplikationen zu vermeiden; ganz Frankreich war auf den Beinen und feierte ausgelassen den Triumph. Aber er drängte zur sofortigen Rückreise. Müller musste zwar nicht, wie 1914, befürchten, interniert zu werden. Mit Komplikationen war allerdings durchaus zu rechnen.
Als Steine gegen den deutschen Sonderzug flogen und Fensterscheiben splitterten, wollten die Begleitoffiziere den Zug anhalten lassen. Doch der frankophone Aussenminister winkte freundlich ab. Er wolle aus solchem Übermut und Unfug keinen diplomatischen Zwischenfall machen. Im Rückblick resümierte er diesen ereignisreichen Tag: Der so umstrittene Versailler Vertrag war unterschrieben, um Schlimmeres zu vermeiden, «aber der Kampf um den wahren Frieden» werde erst beginnen.
Zwei deutsche Vorkämpfer
So war es nur konsequent, dass Hermann Müller in dem knappen Jahr seiner Amtsführung und natürlich später auch als Partei- und Fraktionsvorsitzender auf allen Feldern tätig wurde, mit denen es die deutsche Aussenpolitik damals zu tun hatte: den Schülerschen Reformen zur Überwindung der antiquierten Strukturen des Auswärtigen Amtes, der Demilitarisierung des Baltikums, der hochkontroversen Debatte um die Kriegsschuld- und Kriegsverbrecherfrage, dem Verhältnis zu Frankreich, England und den USA, der europäischen Nachkriegsordnung, Spa, Locarno, Rapallo, dem London-Abkommen, dem Dawes-Plan bis hin zur abschliessenden Reparationsregulierung mit der Verabschiedung der Young-Plan-Gesetze und der vorzeitigen Rheinlandräumung in seiner zweiten Kanzlerschaft von 1928 bis 1930.
Hermann Müller war nicht zuletzt als sozialdemokratischer Aussenminister auch der erste Sprecher, der vor der Nationalversammlung am 23. Juli 1919 die programmatischen Grundlagen der neuen, republikanischen Aussenpolitik Deutschlands vorstellte und begründete. Er nahm dabei Bezug auf die Friedensresolution der demokratischen Mehrheit des kaiserlichen Reichstages von 1917, distanzierte sich entschieden vom Militarismus und Chauvinismus des untergegangenen monarchischen Nationalstaates und plädierte umso entschiedener dafür, dass Deutschland auf «freiheitlichen Bahnen» vorangehen müsse, wenn es denn in die Staatengemeinschaft zurückkehren, auf dem Auslandsmarkt wieder deutsche Exportware absetzen und eines Tages auch wieder «moralische Eroberungen in der Welt» machen wolle. Zwar sei es durch den «härtesten Frieden der Weltgeschichte» gefesselt, aber es habe sich zur «loyalen Erfüllung des Friedensvertrages» verpflichtet; «selbst wenn wir bis zur Grenze unserer Fähigkeiten gehen müssen», fügte er beschwörend hinzu.
Müller sprach auch über die besonders leidgeprüften Belgier und Franzosen. Ausdrücklich bekannte er, dass sich Deutschland durch Verletzung der belgischen Neutralität vor der ganzen Welt ins Unrecht gesetzt habe. Und versprach Wiedergutmachung durch tätige Hilfe beim Wiederaufbau. Als frankophiler Sprecher der neuen deutschen Aussenpolitik verbeugte sich Müller auch vor den Franzosen. Kein Volk habe so viele Opfer zu beklagen und kein Land solche Verwüstungen. Auch hier sagte er vor allem für den Wiederaufbau im Nordosten Frankreichs Hilfe zu und appellierte an seine Landsleute, Verständnis aufzubringen für die deutschfeindliche Einstellung unter den Franzosen.
Schon in der nur neunmonatigen Übergangszeit seiner Amtsführung gelang es ihm, Anerkennung und Ansehen zu erwerben. Müller nahm die Politik Stresemanns um Jahre vorweg. Er hat sie zudem in den zwanziger Jahren immer wieder gegen den agitatorischen Widerspruch der rechtsnationalen Parteien parlamentarisch durchgesetzt, auch wenn sich die SPD nach dem Krisen- und Putschjahr von 1923 bis 1928 in die Opposition zurückzog.
Stresemanns Name steht völlig zu Recht für die aussenpolitischen Erfolge Weimars und die kurzzeitige Rückkehr Deutschlands in die europäische Staatengemeinschaft. Aber als Hermann Müller bereits eine europäische Friedens- und Versöhnungspolitik konzipierte, die auf Verständigung, Vertragserfüllung und Revision der Versailler Sanktionen beruhen sollte, dachte der später gefeierte Friedensnobelpreisträger noch in den alten Mustern des «Machtfriedens». Der Weg vom Monarchisten zum Vernunftrepublikaner und Locarnopolitiker war lang, Stresemann hat ihn in bemerkenswert kurzer Zeit zurückgelegt. Er konnte dabei allerdings auf die Unterstützung des aussenpolitisch stets koalitionsbereiten Sozialdemokraten Hermann Müller zählen.
In den deutschen Aussenministern Gustav Stresemann und Hermann Müller, die beide auch Reichskanzler waren, hatte die befriedete und freiheitliche Europäische Union zwei bemerkenswerte deutsche Vorkämpfer, das sollte hundert Jahre nach Versailles nicht vergessen werden.
Peter Reichel ist emeritierter Professor für historische Grundlagen der Politik an der Universität Hamburg. Jüngst erschien von ihm in der DTV-Verlagsanstalt das Buch «Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik».
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