.. bereits das ein und andere mal sehr realistische, sehr gute Artikel
… zur Flüchtlingskrise geschrieben. Ein Beispiel: Hier klicken
MehrNun kommt Tim Röhn wieder mit einem Artikel daher, der aller Ehren und einen Artikel zum Sonntag / eine Meilenstein – Auszeichnung wert ist:
[…]
Die Männer hatten einen weiten Weg hinter sich, als ich sie Ende Mai in Nordafrika traf. In Bangladesch waren sie geboren und aufgewachsen. Irgendwann wollten sie nach Europa. Über Libyen sollte es gehen. Nun saßen sie hier in Tunesien fest, gleich an der Grenze zu Libyen.
Sie waren Überlebende einer der jüngsten Katastrophe auf dem Meer: 65 Menschen hatten ihr Leben verloren, als das Fischerboot auf dem Weg von Libyen nach Italien sank. 15 konnten gerettet werden, 13 von ihnen Bangladeschis.
Einer der Männer, verheiratet, Vater von drei Kindern, erzählte seine Geschichte. Sijur Ahmed hatte seine Heimat verlassen, um in Europa zu arbeiten. Dafür hatte er 8000 Dollar Kredit aufgenommen, das Geld einer „Agentur“ gegeben, die ihn dafür per Flug und ordentlichem Schiff in die EU zu bringen versprach.
Nachdem das Boot kenterte, dauerte es acht Stunden, ehe Hilfe kam. Für die Freunde und den Cousin reichte es nicht, sie starben; nach seiner Rettung rief Ahmed in der Heimat an und überbrachte die schreckliche Nachricht. Als er mir davon erzählte, blickte ich in ein Gesicht voll Trauer und Verzweiflung.
Ahmed veröffentlicht ständig Beiträge bei Facebook, er hat dort 5000 Freunde. Von den Einreisebedingungen in den Schengen-Raum aber hat er nichts mitbekommen. Dasselbe höre ich immer wieder, wenn ich in Spanien mit jungen Männern und Frauen spreche. Asyl? Niemand scheint zu wissen, was das ist.
Ich hatte Mitleid mit Ahmed, fühlte zudem eine große Wut im Bauch – auf jene skrupellosen Geschäftemacher, die in Bangladesch sitzen, Landsleute ins Verderben schicken und damit ihr Geld verdienen.
Meine Wut galt auch jenen, die an libyschen Stränden Menschen auf Boote treiben, manchmal gar mit Waffengewalt.
Nie stehen nämlich die versprochenen richtigen Schiffe bereit. Stattdessen zwingen die Schleuser die Menschen dazu, auf marode Holzboote oder Gummiboote zu steigen.
Meine Wut richtete sich aber auch auf jene Europäer, die „Refugees welcome“ rufen, aber „Everybody welcome“ meinen, also jeden Menschen aufnehmen wollen – und sich deswegen auf der richtigen Seite wähnen.
Einen Tag nach dem Gespräch mit Ahmed traf ich Chamesddine Marzoug. Er hat in der tunesischen Küstenstadt Zarzis einen Friedhof für die Menschen angelegt, die die Überfahrt mit ihrem Leben bezahlten. 400 Leichen hat er schon begraben.
Marzoug sprach mit einer Komm-mir-nicht-dumm-Stimme und hatte eine klare Meinung. Sie lautete: Macht endlich die Grenzen auf! Er schimpfte auf die EU-Politik, auf Abschottung, auf Visa-Anträge.
Er rief: „Die Welt ist für alle da, nicht nur für Amerikaner und Europäer.“
Also vielleicht doch Grenzen auf? Luftbrücke statt lebensgefährlicher Reisen übers Mittelmeer?
Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Eine Erde ohne Staatsgrenzen? Das mag romantisch und gerecht klingen, aber es ist unrealistisch. Der große SPD-Politiker Egon Bahr sagte einmal: „Verstand ohne Gefühl ist unmenschlich; Gefühl ohne Verstand ist Dummheit.“
Es sind wahre Worte: Jeder, der seinen Verstand einschaltet, muss erkennen, dass die Forderungen der „open border“-Aktivisten mit der Realität nicht in Einklang zu bringen sind. Staatsgrenzen werden bleiben. Auch weil sie eine ordnende Funktion erfüllen sollen.
Die große Mehrheit derer, die die Überfahrt von Nordafrika nach Europa anstreben, tut dies, weil sie in Europa auf ein besseres Leben hofft, weil sie der Armut Afrikas entkommen will.
Ihnen müsste schon vor dem Antritt ihrer Reise klargemacht werden, dass eine illegale Einreise per Boot lebensgefährlich ist und jede Chance auf einen künftigen Aufenthalt in Europa versperrt.
In Tunesien gibt es zahlreiche Menschen, die ursprünglich von Libyen aus per Boot nach Europa wollten.
Vor der rohen Gewalt in dem Bürgerkriegsland flohen sie nach Westen und versuchen nun, von Tunesien aus die Weiterreise gen Norden zu organisieren.
Warum hilft hier so gut wie niemand, warum sagt ihnen niemand, dass sie kaum Chancen auf einen Aufenthaltsstatus in Europa haben?
Eine ganz klare Position vertreten die Seenotretter. Sie wollen die Menschen von den Booten retten und nach Europa bringen. Noch vor wenigen Jahren nahmen sie Zehntausende Migranten aus Booten vor Libyens Küste auf.
Trotzdem ist das Wirken der Männer und Frauen von NGOs wie „Seawatch“ komplexer. Denn wenn es nur um Seenotrettung und nicht um die Durchsetzung des politischen Ziels der offenen Grenzen gehen würde – warum demonstrieren die Aktivisten dann nicht vor dem Regierungssitz in Tunis?
Warum keine Debatte über menschenwürdige Auffanglager in Tunesien? Warum gibt es keine NGO namens Wüstenretter, die schon im Transitland Niger vor der Weiterreise gen Norden warnt und so Menschenleben rettet?
Ich halte nichts von jenem Erpressungsaktivismus, der manchmal zutage tritt. Die Toten im Mittelmeer sind nicht automatisch die Toten der EU, finde ich. Es ist nicht Europas Schuld, wenn Männer aus Bangladesch nach Libyen fliegen und dort ein Boot gen Norden besteigen.
Ich kann dieser schlichten Argumentation nicht folgen.
Gehalten wurde es nicht.
Nie war das Leid der Menschen in Libyen so groß wie heute, da der Bürgerkrieg wieder eskaliert. Statt mehr für die Menschen in den libyschen Lagern zu machen, setzt die EU vor allem auf die Aufrüstung und Ausbildung der libyschen Küstenwache, die die Migranten mit aller Gewalt vom Meer holt und in die berüchtigten libyschen Unterkünfte schickt.
Diese skrupellose Politik ist eine Schande und entspricht nicht unseren westlichen Werten.
Wer dann einen Schutzstatus in Europa zugesprochen bekommt, erhält seine Papiere und wird per Direktflug sicher nach Europa gebracht.
Kaum einer würde dann noch die Überfahrt wagen. Die Todeszahlen würden gegen null gehen. Menschlichkeit wäre wieder hergestellt. Bewegen müssten sich dafür aber alle: Die EU, die Staaten Nordafrikas – und auch die Seenotretter. Passiert das nicht, wird der Wahnsinn an der Grenze nie aufhören.
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